Politik

Wahlkampf mit Walter Schulz Wenn der kleine Bruder Kanzler werden will

Immer noch optimistisch: Walter Schulz, der Bruder des SPD-Kanzlerkandidaten.

Immer noch optimistisch: Walter Schulz, der Bruder des SPD-Kanzlerkandidaten.

(Foto: Rothenberg)

Martin Schulz will Kanzler werden. Einer seiner wohl treuesten Unterstützer ist in Köln-Nippes auf Stimmenfang für den SPD-Kanzlerkandidaten: Es ist sein neun Jahre älterer Bruder Walter.

"Wer wird Kanzler?", fragt der Mann mit dem Bart, dem schütteren Haar und der randlosen Brille. Der türkische Verkäufer in dem Kiosk in Köln-Nippes stutzt, bevor er antwortet: "Merkel. Sie hat viel getan." Es ist ihm sichtlich unangenehm, er weiß ja, wen er da vor sich hat. "Ich sage nur meine Meinung", entschuldigt sich der Mann. Walter Schulz verlässt den Kiosk, Erfahrungen wie diese macht er zurzeit häufiger. Er hat schon viele Wahlkämpfe gemacht. Doch dieser ist ein ganz besonderer. Sein Bruder Martin will Kanzler werden. Und falls es am 24. September doch nicht klappt, soll es nicht an ihm gelegen haben.

Walter Schulz steht an diesem Morgen um elf Uhr auf dem Wochenmarkt in Köln-Nippes neben einem Anhänger mit Wahlkampf-Broschüren und einem Aufsteller, der ein Plakat seines Bruders zeigt. "Ab zehn Uhr kommen die Leute, die es nicht so eilig haben. Die haben Zeit", sagt er und lacht dieses einnehmende Schulz-Lachen, sodass man kurz meinen könnte, Martin Schulz stünde vor einem. Walter ist etwas kleiner, grauer und vielleicht auch ein bisschen gemütlicher als der SPD-Kanzlerkandidat. Er trägt ein T-Shirt mit einem Bild seines Bruders, in der Hand einen Packen Flyer. "Darf ich Ihnen noch ein paar Argumente für die Bundestagswahl geben?", fragt er und hält den Passanten im Vorbeigehen die Wahlwerbung hin. Nicht besonders aufdringlich, er will den Leuten "nicht auf den Senkel gehen". Dabei kennt hier fast jeder den 70-Jährigen.

Schulz wohnt seit 40 Jahren in Nippes, geht "abends gerne mal ein Kölsch trinken", am liebsten in seiner Stammkneipe, dem "Eigenheim". Er ist Kommunalpolitiker, saß einige Jahre für die SPD im Rat, inzwischen als sachverständiger Bürger. Er spielt Fußball in einer Hobbytruppe, bis vor zwei Jahren war er Vorsitzender des Bürgervereins. "Wenn alle so wählen würden wie in Nippes, dann sähe die Welt anders aus", sagt Schulz. Die meisten grüßen ihn mit Vornamen. "Was macht denn dein Bruder?", fragt eine Frau ernst. "Hat der nicht längst die Schnauze voll?" Walter Schulz macht eine wegwerfende Handbewegung. "Nee, der Zuspruch ermuntert ihn", sagt er. Die Frau lässt nicht locker. "Wenn ich das lese, glaube ich manchmal, als ob das alles manipuliert würde." Schulz nickt, geht aber nicht näher darauf ein. Eine andere Marktbesucherin schaut skeptisch auf das Plakat seines Bruders. "Glauben Sie, dass er noch gewinnt?" Walter Schulz sagt diesen Satz, bei dem man sofort an Angela Merkel denken muss: "Wir schaffen das." Die Frau wünscht viel Erfolg.

"Wir drehen dat noch"

Die Umfragewerte der SPD sind mies, aber was soll er machen? Was, wenn selbst Walter Schulz drei Wochen vor der Wahl keinen Optimismus mehr verbreiten würde? Sein "Jefööhl", wie sie in Köln sagen, stimme mit den Umfragen nicht überein. Dies sei schon bei der Landtagswahl so gewesen. Als die SPD in Umfragen im April noch weit vorne lag, habe er schon ein schlechtes Gefühl gehabt. Diesmal sei es andersherum, auch im Bund gebe es eine Wechselstimmung. Sein Tipp: Union und SPD liegen am Wahlabend gleichauf. Dennoch gibt er zu: Die Reaktionen der Leute seien zwar freundlich, aber jeder Zweite sage ihm, dass es nicht gut aussehe. Schulz entgegnet dann: "Wir drehen dat noch."

Natürlich will der große Bruder den kleinen nicht im Stich lassen: "den Martin", mit dem Walter ein "herzliches, freundschaftliches Verhältnis" verbindet. Erst am Samstag hätten sie noch telefoniert. Es ging dabei vor allem um die schlimme Niederlage ihres Lieblingsvereins, dem 1. FC Köln, am Vorabend. Walter erinnert sich an die gemeinsame Kindheit in Würselen. Martin sei ein hochbegabtes Kind gewesen. Mit vier Jahren habe er am Radio gestanden und russische und französische Politiker nachgeahmt. "Mach doch mal den Chruschtschow", hätten sie ihn damals häufig animiert. Als Martin neun war, zog Walter aus und begann sein Studium in Bonn. Die intensive Beziehung der beiden entwickelte sich deshalb erst später. Heute telefonieren sie mindestens einmal die Woche. Martin fragt den Lokalpolitiker um seinen Rat. Streit? Nach Auskunft von Walter Schulz ist das selten. Wenn überhaupt, stritten sie über Lösungsansätze, nicht über Grundsätze.

Walter Schulz schlendert über den Wochenmarkt, steuert auf einen Tisch vor dem Kaffeekiosk zu. "Die wissen alles über Nippes, dies ist der Umschlagsplatz für Neuigkeiten", so stellt er die Rentnerrunde vor. "Wer braucht noch Argumente?", fragt er wieder und reicht SPD-Flyer herum. Aber das Fanmagazin vom "Effzeh", wie sie ihren Fußballverein hier nennen, findet mehr Beachtung. "Die Kappe kriegste jetzt billig, weil der FC letzter ist", scherzt einer. Walter Schulz sagt: "Wenn du richtig wählst, lade ich dich nach Berlin ein, zum Besuch beim Bundeskanzler." Einer der Männer blättert den Flyer durch und schimpft: "Seit zehn Jahren erzählen die, dass sie mehr Wohnungen bauen wollen." Er will die Linken wählen. Schulz setzt diesen ironischen Schulz-Blick auf. Nach dem Motto: Ist nicht dein Ernst, oder?!

Diese Wahl ist auch deshalb so speziell, weil Walter Schulz im Gegensatz zu allen anderen kein Teilzeit-Wahlkämpfer ist. Wenn die Passanten auf der Straße "über den Martin" und "den Säufer ohne Abi" schimpfen, wird es persönlich. Dann keile er auch mal zurück. Neulich habe er einen Mann gefragt, wie lange der schon nicht mehr gesoffen habe. Dennoch sagt er: "Am Ende stehst du für die politische Konzeption da. Du bist verantwortlich, egal, wer Kandidat ist." Nervt es ihn trotzdem manchmal, 24 Stunden am Tag Bruder des Kanzlerkandidaten zu sein? Schulz verneint. Auch wenn er überall auf seinen Bruder angesprochen wird, verkriecht er sich nicht und geht abends trotzdem in seine Stammkneipe.

"Merkel kopiert" - "Na und, ist doch gut"

Nach zwei Stunden packt Walter Schulz seine Sachen zusammen und schnallt seinen Bruder, beziehungsweise den Aufsteller mit dessen Plakat, auf seinen Fahrradanhänger. Unterwegs redet er über Merkel. Die Kanzlerin schmücke sich im Wahlkampf mit dem Mindestlohn und anderen Dingen, die von der SPD gegen den Widerstand der Union durchgesetzt worden seien. Schulz ärgert das sehr. Im Wahlkampf nehme Merkel alles auf, "was Martin sagt und plappert es nach". Da müssten die Medien viel mehr drüber schreiben, findet er. Die würden auch nicht berichten, dass jeden Tag Tausende zu den Wahlveranstaltungen seines Bruders kämen: 3000 in Göttingen, 4000 in Frankfurt.

Schulz ist deutlich anzumerken, dass er sich über die Berichterstattung ärgert, auch wenn er das auf Nachfrage bestreitet. Schon nach der Nominierung zu Beginn des Jahres hätte die Presse sich vorgenommen, seinen Bruder runterzuschreiben. "Wenn die Medien entscheiden, dass sich hier nichts ändern darf, dann ist das so." Wenn man ihm widerspricht, wird er auch mal etwas lauter. Schulz erzählt von Berichten, wonach Martin angeblich Multimillionär sei oder bei einer Wahlveranstaltung in Jena auf Betreiben der SPD nicht über Flüchtlingspolitik habe gesprochen werden dürfen. Später sei dies zwar korrigiert worden, aber wenn sowas einmal in der Welt sei, bleibe es hängen, da ist sich Walter Schulz sicher.

Schulz hat seine Wahlkampfutensilien inzwischen in der heimischen Garage verstaut. Er steht jetzt in dem Kiosk in der Schillstraße. Der türkische Verkäufer erklärt gerade, warum Merkel das eigentlich gar nicht schlecht mache. Konservative seien berechenbarer. Linke redeten vor der Wahl irgendwas und machten dann doch etwas ganz anderes. Schulz fragt nach der Maut und der Homo-Ehe. "Merkel kopiert die anderen", sagt er. Der Verkäufer zuckt die Schultern. "Na und, das ist doch gut. Man muss die guten Sachen von den anderen übernehmen."

Und was, wenn Martin Schulz am 24. September verlieren sollte? "Es gab mal einen SPD-Chef, der hat zwei Wahlen verloren. Dann wurde er Außenminister und etwas später Bundeskanzler." Er meint Willy Brandt und den ersten richtigen Regierungswechsel in der Bundesrepublik vor 48 Jahren. Schulz ist überzeugt, dass sein Bruder nach einer Niederlage weitermachen würde. Hinter ihm verlässt ein Mann mit zwei Flaschen Kölsch das Büdchen. "Hey, trink nicht so viel", ruft Schulz ihm zu. "Die sind fürs Abendessen. Sehen wir uns heute Abend?" gibt der Mann zurück. "Spät", sagt Walter Schulz - was Ja heißt. Das Kölsch im "Eigenheim" darf nicht fehlen, aber vorher gibt es noch ein bisschen was zu tun: Stimmen sammeln für den kleinen Bruder.

Quelle: ntv.de

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