Viele Schlupflöcher, wenig Personal Wie die Koalition den Mindestlohn verpatzt
26.11.2014, 15:33 Uhr
Besorgte Mienen auf den Regierungsbänken: So wie Merkel, Schäuble und Nahles gerade gucken, könnte es in ihrem Gespräch gerade um den Mindestlohn gehen.
(Foto: REUTERS)
Ab dem 1. Januar gilt der gesetzliche Mindestlohn. Aber die Koalition ist hoffnungslos überfordert mit der Einführung der Lohnuntergrenze. Das große SPD-Projekt könnte am Ende grandios scheitern.
Der Mindestlohn kommt, aber Marion Wagner* kann sich nicht freuen. "Ich habe keine Hoffnung, dass ich ihn kriege. Mein Chef wird mir weiterhin 4,50 Euro pro Stunde zahlen", sagt sie, die in einem kleinen Handwerksbetrieb in Niedersachsen angestellt ist. Am 1. Januar 2015 tritt der Mindestlohn in Kraft. Dann sollen alle Beschäftigten in Deutschland mindestens 8,50 Euro brutto in der Stunde verdienen. In manchen Branchen gelten Übergangsfristen bis 2017. Aber: Kommt die Lohnuntergrenze auch wirklich für alle? Kurz vor dem Start mehren sich die Zweifel. Der Mindestlohn steht in vielerlei Hinsicht auf wackeligen Beinen.
Verantwortlich für das im Sommer verabschiedete Gesetz ist eigentlich das Ministerium für Arbeit und Soziales von Andrea Nahles. Wer hier anruft und Fragen stellt, wird schnell an die Kollegen vom Finanzministerium verwiesen. Zuständig für Kontrollen und Sanktionen ist die Zollverwaltung, Abteilung Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS). Zoll-Beamte sollen ab Januar unangemeldete Kontrollen durchführen. Ob Friseurladen oder Gerüstbau - wenn die Uniformierten zur Betriebsprüfung kommen, muss der Laden schließen. Dann werden die Angestellten zu ihrer Entlohnung befragt, der Arbeitgeber muss alle Unterlagen offenlegen. Wer keinen Mindestlohn zahlt, dem droht eine Geldbuße bis zu 500.000 Euro. Klingt gut und einfach - wenn der Zoll nur genügend Personal hätte. Das Ministerium will die die Anzahl der zurzeit 6400 zuständigen Beamten erhöhen. Der Bundeshaushalt 2015 sieht 1600 neue Planstellen vor.
Doch es gibt zu wenig Nachwuchs. Dringend benötigt werden Vollzugskräfte aus dem mittleren und gehobenen Dienst, die Ausbildung dauert zwischen zwei und drei Jahren. Das Ministerium hat die Anzahl der Auszubildenden für den Bereich Schwarzarbeit verdoppelt, 2015 und 2016 sind es jeweils 320, zusätzliche Ausbilder wurden eingestellt, die Bildungsstätten vergrößert - aber das genügt längst nicht, um den neuen Bedarf zu decken. Auf absehbare Zeit gibt es zu wenig Kontrolleure.
"Die Situation ist uns bewusst"
Wie eine kleine Anfrage der Grünen im April ergab, prüfte die FKS im Jahr 2013 insgesamt 64.000 Arbeitgeber, die Hälfte davon in bereits bestehenden Mindestlohnbranchen, die andere Hälfte im Bereich der Leiharbeit. Mit dem gesetzlichen Mindestlohn wird sich der Arbeitsaufwand für den Zoll erheblich erhöhen, doch es droht eine Mangelverwaltung. Denn erst 2017 kommen die ersten Ausgebildeten in den Beruf, erst 2019 ist die personelle Aufstockung vollständig abgeschlossen - und damit vier Jahre nach der Einführung des Mindestlohns. "Die Situation ist uns bewusst", heißt es aus dem Ministerium.
Aber es ist nicht nur so, dass die Regierung nicht in der Lage ist, die Kontrolle des Mindestlohns zu gewährleisten. Aus Sicht der Gewerkschaften versucht das Finanzministerium den Mindestlohn sogar systematisch auszuhebeln. Ärger bereiten DGB Verdi zwei Verordnungen, mit denen das Haus von Wolfgang Schäuble den bürokratischen Aufwand für die Unternehmen in Zukunft vereinfachen will. Es geht um die Aufzeichnungspflicht und die Erfassung der Arbeitszeit, die das Mindestlohngesetz eigentlich verpflichtend vorsieht.
Nach der geplanten Verordnung sollen bei mobilen Tätigkeiten und in grenznahen Regionen Angaben zur Einsatzplanung für sechs Monate im Voraus genügen. Nachträgliche Kontrollen fallen dann weg. Und nicht nur das: Geht es nach dem Finanzministerium, muss bei Tätigkeiten außerhalb der Betriebsstätte des Arbeitgebers wie etwa Straßenreinigung nur noch die Dauer der Tätigkeit dokumentiert werden. Die bisher üblichen Angaben zu Beginn und Ende der Arbeitszeit soll es nicht mehr geben. Auch über andere Ausnahmen wird noch gefeilscht.
Unmissverständlich missverständlich
"Viele Lobbyisten versuchen über das Finanzministerium und die Unionsfraktion, Einfluss zu nehmen und den Mindestlohn aufzuweichen", sagt Klaus Barthel, SPD-Abgeordneter und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen. Aus Sicht von Gewerkschaften und SPD-Linken verursacht das Ministerium unnötige Schlupflöcher. Die Vorschläge hätten ausschließlich den Sinn, einen Missbrauch des Mindestlohns zu fördern. Ausgerechnet in den sensiblen Bereichen werde die Kontrolle faktisch aufgehoben. Barthel mahnt: "Der Koalitionsvertrag ist unmissverständlich: Der Mindestlohn gilt flächendeckend. Sollte das nicht kontrolliert werden, wäre er das Papier nicht wert, auf dem er steht."
Skeptisch sind auch viele Beschäftigte, die vom Mindestlohn eigentlich profitieren sollen. Lisa Kunkel*, die bisher eine volle Stelle in einer kleinen Firma in Nordrhein-Westfalen hat, erfuhr von ihrem Chef vor drei Wochen, dass sie sich künftig eine Stelle mit einer anderen Kollegin teilen muss. Sollte sie nicht einwilligen, müsse sie sich etwas Neues suchen. Der einfache Grund: Die Firma könne sich künftig nicht mehr so viele Arbeitskräfte leisten. Sie sind einfach zu teuer.
Beim Finanzministerium hat man auf entsprechende Fragen eine einfache wie bequeme Antwort: "Wir kümmern uns nur um die Kontrollen. Wenn Sie Fragen zu den politischen Folgen haben, müssen Sie sich an das Arbeitsministerium wenden."
*) Namen von der Redaktion geändert
Quelle: ntv.de