Renten-Beschlüsse der Koalition Wie ein Experte den Kompromiss bewertet
25.11.2016, 15:04 Uhr
Am Vormittag stellte Andrea Nahles das Rentenkonzept der Bundesregierung vor - ergänzt um eigene Forderungen.
(Foto: imago/IPON)
Erwerbsminderungsrenten, Betriebsrenten, Ost-Renten – die Koalition hat sich auf mehrere Kompromisse in der Rentenpolitik geeinigt. Wie sinnvoll die Pläne sind, erläutert Renten-Experte Johannes Geyer.
n-tv.de: Die Koalition hat sich nicht auf eine Sicherung des Rentenniveaus geeinigt. Die Union sieht keinen Handlungsbedarf, Sozialministerin Andrea Nahles will das Rentenniveau dagegen bis 2045 nicht unter 46 Prozent sinken lassen. Wer hat Recht?

Johannes Geyer ist Rentenexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin).
(Foto: DIW Berlin)
Johannes Geyer: Das ist eine strategische Entscheidung. Die Frage ist, ob man den Leuten die Absicherung der Rente verstärkt privat überlassen oder ob man die gesetzliche Rente stärken will.
Was ist der bessere Weg?
Es gibt Argumente für und gegen beide Positionen. Die SPD steht auf dem Standpunkt, dass die Versicherungsfunktion der Rente nicht weiter reduziert werden sollte. Dafür spricht, dass die umlagefinanzierte Rente eine sehr stabile Säule der Alterssicherung ist. Allerdings steigen dann zwangsläufig die Kosten, also entweder die Beitragssätze oder der Steuerzuschuss. Das will die Union verhindern. Verzichtet man allerdings auf die Sicherung des Rentenniveaus, dann wird es noch wichtiger, privat vorzusorgen. Und wir wissen aus Untersuchungen, dass dies vielen Geringverdienern schwerfällt, und dass vor allem bei Personen mit geringem Bildungsniveau häufig Planungsfehler vorkommen.
Ein Punkt, auf den sich die Koalition geeinigt hat, ist die schrittweise Anhebung der Erwerbsminderungsrente. Wird Altersarmut so verhindert?
Die Reform ist sicherlich sinnvoll, weil das Armutsrisiko bei neuen Erwerbsminderungsrentnern extrem hoch ist. Bei Ein-Personen-Haushalten reden wir da über Quoten von 50 Prozent. Auch die Transferabhängigkeit dieser Gruppe ist in den letzten Jahren stark gestiegen.
Künftig sollen die Renten von Menschen, die wegen Krankheit früher aus dem Job ausscheiden, so berechnet werden, als hätten sie bis 65 gearbeitet.
Das ist ein Fortschritt, wird aber nicht ausreichen. Man muss bedenken, dass die allgemeine Niveausenkung der Rente auch die Erwerbsminderungsrenten betrifft. Auch Erwerbsminderungsrentner sind im Prinzip angehalten, zu riestern und die Absenkung des Rentenniveaus privat auszugleichen. Bis heute gibt es aber keine gute Lösung dafür, wie man das Risiko der Erwerbsminderung privat absichert. Hier wäre es wahrscheinlich sinnvoll, die staatliche Sicherung wieder deutlich zu verbessern. Zum Beispiel wäre es aus meiner Sicht sinnvoll gewesen, bei den Erwerbsminderungsrenten die Abschläge abzuschaffen.
Was für Abschläge sind das?
Auch für Erwerbsminderungsrentner gibt es ein Referenzalter. Wenn man vor diesem Referenzalter – die abschlagsfreie Altersgrenze steigt zwischen 2012 und 2024 von 63 auf 65 Jahre – in Rente geht, muss man Abschläge in Kauf nehmen. Theoretisch soll das Missbrauch verhindern. Aber diese Menschen entscheiden sich nicht freiwillig dafür, früher in Renten zu gehen, sie sind gesundheitlich dazu gezwungen. Wenn man kein Vertrauen in die medizinischen Tests hat, muss man sie verbessern. Die pauschale Kürzung dieser Renten ist schlicht systemfremd.
Eine weitere Einigung der Koalition sieht vor, dass Betriebsrenten von Geringverdienern stärker gefördert werden. Wie sinnvoll ist das?
Sparen über einen langen Zeitraum, selbst bei kleinen Beträgen, kann durchaus einen Beitrag zur Einkommenssicherung im Alter leisten. Bei Geringverdienern und bei Angestellten in kleinen Betrieben hat die Betriebsrente bisher keine sehr starke Verbreitung. Wenn man sie erhöht und auch die Arbeitgeber ins Boot holt, einen Teil der Beiträge mitzutragen, dann ist dies sicherlich ein sinnvoller Baustein.
Bis 2025 sollen die Ost-Renten auf West-Niveau angehoben werden. Wäre das nicht früher möglich?
Die geplante Anpassung der Rentenwerte ist kurzfristig relativ teuer. Deshalb hat sich die Koalition entschieden, das in mehreren Stufen zu vollziehen. Der ostdeutsche Rentenwert soll dafür schrittweise auf das westdeutsche Niveau gebracht werden. Gleichzeitig soll der Umrechnungsfaktor abgeschmolzen werden.
Mit den unterschiedlichen Renten in Ost und West hat man sich in ein System manövriert, das nicht funktioniert. Die ursprüngliche Annahme war, dass sich die Löhne in Ostdeutschland relativ schnell dem westdeutschen Niveau anpassen. Das ist jedoch nicht passiert, der Lohnunterschied zwischen Ost und West ist relativ stabil. Um das auszugleichen, gibt es für die Berechnung von ostdeutschen Renten einen Umrechnungsfaktor, der die Rentenansprüche pauschal erhöht. Dadurch bekomme ich für meine Rentenbeiträge sogar höhere Rentenanwartschaften als in Westdeutschland.
Langfristig will Nahles die Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung einbeziehen. Warum wird die gesetzliche Rente nicht einfach verpflichtend für alle gemacht, auch für Beamte?
Es wäre ein sehr weitgehender Schritt. Aus meiner Sicht könnte man das durchaus machen – wahrscheinlich eher so, dass man längere Übergangszeiten einplant, zum Beispiel, indem man nicht mehr so viel verbeamtet. Aber die Frage ist, was man eigentlich erreichen will. Bei den Selbstständigen etwa gibt es eine Gruppe, die nicht genügend vorsorgt, weil sie es nicht will oder weil sie es nicht kann. Das sind insbesondere die sogenannten Solo-Selbstständigen. Viele von ihnen dürften später in die Grundsicherung fallen. Bei ihnen würde man daher gern entweder die Versicherungspflicht oder die Pflicht zum Nachweis einer hinreichenden Altersvorsorge einführen.
Nahles schlägt eine "gesetzliche Solidarrente" vor, die jeder bekommen soll, der 35 Jahre eingezahlt hat trotzdem in die Grundsicherung fällt.
Das betrifft nur einen vergleichsweise kleinen Personenkreis, und aus meiner Sicht ist es nicht die Hauptgruppe, bei der die Gefahr von Altersarmut besteht. Wahrscheinlich würde eine solche Solidarrente vor allem dafür sorgen, das Vertrauen in die Rentenversicherung zu erhöhen.
Nahles sagt, die Rente sei stabiler, als das in der Öffentlichkeit wahrgenommen werde. Stimmt das?
Das halte ich für einen wichtigen Punkt. Wir müssen uns unbedingt von diesem Alarmismus verabschieden, mit dem über die Rente gesprochen wird. Anfang des Jahres verbreitete der WDR, 50 Prozent der Arbeitnehmer seien 2030 von Altersarmut bedroht. Solche Falschmeldungen können zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden, wenn sie dazu führen, dass Menschen in Fatalismus verfallen und auf private Vorsorge verzichten. Richtig ist: Es gibt das Problem von Altersarmut, aber es betrifft bestimmte Gruppen und nicht die Mehrheit der Bevölkerung. Diesen Gruppen muss man sich widmen. Aber für die Mehrheit ist die umlagefinanzierte Rente stabil und wird auch in der Zukunft eine stabile Säule bleiben.
Mit Johannes Geyer sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de