Auf Hinweise angewiesen Wie werden Teenager zu Terroristen?
20.11.2015, 14:26 Uhr
(Foto: dpa)
Terroristen stürzen mit Anschlägen in Paris Europa und einen Großteil der Welt in Angst und Schrecken. Viele fragen sich, warum andere Menschen zu solchen Taten fähig sind. Pädagoge Thomas Mücke erklärt, weshalb Teenager zu Terroristen werden und Mädchen in den Heiligen Krieg ziehen.
Heike Boese spricht für n-tv.de mit dem Pädagogen Thomas Mücke vom Berliner Verein "Violence Prevention Network", der Familien und Jugendliche berät und betreut, die in die Fänge von Terroristen geraten sind.
n-tv.de: Terroristen des sogenannten Islamischen Staates halten Paris und ganz Europa in Atem. Aber Terroristen sind auch Menschen. Wie werden aus ganz normalen jungen Männern Terroristen?
Thomas Mücke: Das ist ein längerer Weg, in den man sich schwer hineinversetzen kann. Da muss zuvor sehr viel Hass und Gewalt passiert sein, bis jemand derartig verroht und bereit ist, solche Anschläge zu verüben. Sie können in häuslichen Gewaltsituationen aufgewachsen sein oder das Gefühl haben, nie von unserer Gesellschaft angenommen worden zu sein. Das ist sehr unterschiedlich, das kann man eigentlich nicht so allgemein beantworten, es ist immer ein Prozess. Und nicht jeder, der nach Syrien ausreist, hat die Absicht zu töten. Aber natürlich gibt es auch die, in denen sehr viel Hass und Gewalt ist und die einfach nur noch eine Rechtfertigung brauchen, um ihren ganzen Hass auszuleben.
Wie kann man verhindern, dass junge Menschen, die in unserer Gesellschaft aufgewachsen und sozialisiert sind, zu Terroristen werden?
Zurzeit überschlagen sich die Ereignisse, aber irgendwann werden wir uns fragen müssen, was können wir tun, dass sich junge Menschen nicht in ein extremistisches Milieu begeben. Wir sind hier in Deutschland gar nicht so schlecht aufgestellt. Wir haben schon sehr gute Konzepte in der Präventionsarbeit und der Arbeit mit gefährdeten Jugendlichen, auch mit Syrien-Rückkehrern. Wir müssen schauen, dass wir diese Angebote in die Breite ziehen. Die extremistische Szene versucht, emotionale Bedürfnisse von jungen Menschen für ihre Zwecke zu missbrauchen, sie bietet Geborgenheit und Halt an und versucht, kritische Lebenssituationen von Jugendlichen auszunutzen. Wir müssen versuchen, junge Menschen wieder aus dieser Szene herauszuführen. Die Praxis zeigt, es geht. Aber wir müssen unsere Anstrengungen in den nächsten Jahren weiter verstärken.
Wer ist besonders gefährdet?
Das ist ganz interessant. Man denkt immer, das sie aus prekären Lebenssituationen kommen, aber das muss nicht sein. Es können auch Kinder von Eltern ohne Migrationshintergrund sein, es kann der Sohn einer Lehrerin oder eines Polizeibeamten sein. Es sind junge Menschen, die für einen Moment in einer Identitäts- und Orientierungskrise sind. Wir beobachten, dass die extremistische Szene vor allem sehr junge Menschen anspricht. Das sind manchmal 14-Jährige, 17-Jährige, hier geht es also auch um Kindeswohlgefährdung.
Aber die Erfahrung zeigt, die meisten kann man da wieder herausholen. Aber wir müssen schnell sein und auf diese Jugendlichen zugehen, denn wenn wir nicht mit ihnen reden, dann tun es die Extremisten. Und es ist erstaunlich, wie man in diese Szene reingeführt wird. Es passiert wirklich so eine Art Gehirnwäsche, und wenn wir uns diesen gefährdeten jungen Menschen verwehren, dann wird es schwierig, denn diese Menschen gefährden sich selbst und andere. Hier ist der Staat dringend gefordert.
Wie hoch ist der Anteil von Mädchen und jungen Frauen?
Zwanzig Prozent. Bei jungen Frauen beobachten wir, dass sie oft in ihrem privaten und beruflichen Leben gescheitert sind und das Gefühl haben, mit allen ihren Entscheidungen gegen eine Wand zu laufen und die dann bereit sind, sich einer männlichen Hierarchie unterzuordnen und die Entscheidungsgewalt abzugeben. Und diese Frauen gewinnen einen sehr hohen sozialen Status, wenn sie in Syrien sind. Erst recht, wenn ihr Mann dann sterben sollte. Die Frau eines Märtyrers zu sein ist der höchste soziale Status in diesem System.
Wenn sich jemand aus den Fängen des Extremismus befreien konnte – mit welcher Hilfe auch immer – wie stark ist er dann gefährdet, wieder auf die andere Seite abzudriften?
Wir haben vor einiger Zeit mit einem 17jährigen jungen Mann gearbeitet, der in Syrien war. Mit unserer Unterstützung kam er zurück, wir haben ihn nach seiner Rückkehr sehr engmaschig betreut. Er hat seinen Realschulabschluss geschafft und hat heute einen Ausbildungsplatz. Dieser junge Mann hätte sich vor einem Jahr niemals vorstellen können, dass er nochmal für sich selbst eine Perspektive aufbauen kann. Das heißt, wir haben in unserer Gesellschaft Möglichkeiten, die müssen wir nutzen. Denn es ist die einzige Möglichkeit, den Extremisten den Boden dadurch zu entziehen, in dem wir junge Menschen stark machen, sich nicht dieser Szene zuzuwenden.
Vor allem reden wir mit ihnen und warten auf die Fragen, die sie haben. Ist das eigentlich Islam, was da beim IS passiert? Und dann diskutieren wir mit ihnen. Die haben ja ein bestimmtes Gedankengut vermittelt bekommen und sie haben gelernt, nicht nachzufragen sondern einfach zu folgen. Unsere Intention ist, dass sie wieder andere Sichtweisen hören und sich ihren eigenen Kopf machen und eigene Entscheidungen treffen. Und nach einer Weile merkt man, dass sie auch wütend auf sich selber sind, dass sie sich so derartig haben beeinflussen lassen, auch auf die Szene sehr wütend sind. Diese Menschen, die diesen Prozess durchgemacht haben, die sind eigentlich raus aus dem Extremismus.
Was kann man tun, damit es gar nicht erst soweit kommt?
Prävention ist wichtig. Wir müssen in die Schulen und die jungen Menschen vor allem darüber aufklären, was der Islam eigentlich ist. Denn die Szene spricht junge Menschen an, die von dieser Religion nicht die geringste Ahnung haben und damit auch nicht widerstandsfähig sind. Wir müssen über das Thema ‚interreligiöse Toleranz aufklären, ihnen erklären, dass unterschiedliche Religionen mit- und nebeneinander leben können. Ein guter Weg sind Aufklärungsworkshops darüber, was diese Szene mit ihnen macht, wie sie rekrutiert, was versprochen wird. Wir können auch gemeinsam die Propagandafilme und Hassvideos anschauen, die im Internet kursieren, und darüber reden, und sie so stark dafür zu machen, auf die perfiden Argumente dieser Extremisten nicht hereinzufallen.
Sie sagen, Sie müssen die Anstrengungen für Prävention und Aufklärung ausweiten. Was heißt das konkret?
Das wichtigste ist, dass wir versuchen zu verhindern, dass junge Menschen tatsächlich in Kampfgebiete ausreisen. Denn wenn sie erst einmal dort sind, passiert noch einmal ein weiterer Radikalisierungsprozess. Außerdem ist ihr eigenes Leben in konkreter Gefahr. Wenn wir dann mit Syrien-Rückkehrern arbeiten – das tun wir ja auch – dann muss man differenzieren. Es gibt diejenigen, die in den Lagern einen Realitätsschock erlebt haben und gemerkt haben, das ist nicht das, was sie sich vorgestellt haben und das ist auch nicht das, was sie machen wollen und die durchaus auch versuchen, wieder zurückzukommen, was nicht ganz einfach ist. Es gibt diejenigen, die schon sehr früh angefangen haben zu zweifeln, andere, die das Gedankengut noch in sich tragen. Mit denen müssen wir sprechen.
Wir brauchen übrigens auch Präventionsprogramme im Jugendvollzug, damit wir mit den jungen Insassen arbeiten können. Aber wir müssen auf sie zugehen. Die kommen ja nicht in der Beratungsstelle vorbei und klopfen mal an und sagen, eventuell reise ich in der nächsten Woche nach Syrien und wollte nochmal mit Euch reden. Da sind wir auf Hinweise angewiesen, von Gleichaltrigen, wir sind angewiesen auf Eltern, die merken, bei ihrem Kind verändert sich was und die sich dann an die Beratungsstellen wenden, damit wir schnell reagieren können. Einerseits arbeiten wir dann mit den Angehörigen, aber vor allem versuchen wir, direkten Kontakt mit diesen jungen Menschen aufzunehmen, also eine Form von aufsuchender Jugendsozialarbeit.
Quelle: ntv.de