"11. September für Diplomatie" Wikileaks attackiert Vertrauen
29.11.2010, 17:20 UhrWie Amerika den Rest der Welt sieht, kann man jetzt auf der Internet-Plattform Wikileaks lesen. Diese Einschätzungen könnten weltweit das Vertrauen in die Außenpolitik der USA ankratzen. Für viele Politiker sind die Details zwar "unappetitlich", die Länder sehen aber ihr Verhältnis zu den USA offiziell "nicht beeinträchtigt". US-Außenministerin Clinton kündigt "entschlossene Schritte" gegen die Hintermänner des Datenklaus an.

Die US-Botschaft in London. Großbritannien schätzt die Veröffentlichungen als schädlich für die nationale Sicherheit ein.
(Foto: REUTERS)
Die bisher spektakulärste Wikileaks-Enthüllung erschüttert die Weltdiplomatie: Die Internet-Plattform begann am Sonntagabend mit der Veröffentlichung von mehr als 250.000 vertraulichen Dokumente aus US-Botschaften, die einen schonungslosen Blick hinter die Kulissen der internationalen Politik bieten. Angela Merkel wird darin als "Teflon"-Kanzlerin dargestellt, der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi als "eitel und unfähig" bezeichnet und der afghanische Präsident Hamid Karsai als "schwache Persönlichkeit", die von "Paranoia" getrieben sei. Aber auch zu Konflikten wie dem Atomstreit mit dem Iran enthalten die Dossiers brisantes Material.
Die Reaktionen waren gespalten. Das Weiße Haus wertete die Veröffentlichung als "rücksichtslos" und "gefährlich". Sie gefährde weltweit Regimekritiker und Oppositionsführer. Auch die Bundesregierung hält das Vorgehen von Wikileaks für höchst problematisch, sieht das deutsch-amerikanische Verhältnis allerdings nicht beeinträchtigt. Die schärfsten Worte fand der italienische Außenminister Franco Frattini. Er sprach von einem "11. September für die weltweite Diplomatie", weil die Enthüllungen "alle vertraulichen Beziehungen zwischen den Staaten in die Luft jagen". Ministerpräsident Silvio Berlusconi soll hingegen "gut gelacht" haben, schreibt die Agentur Ansa, als er von den Enthüllungen gelesen habe.
Es gab aber auch andere Stimmen, die den Erkenntnisgewinn in Frage stellten und vor einer Dramatisierung der Veröffentlichung warnten. Entwicklungsminister Dirk Niebel meinte, man hätte genauso gut den "Spiegel" der letzten drei Monate veröffentlichen können. "Das hätte ähnliche Inhalte mit sich gebracht."
Wikileaks hatte in den vergangenen Monaten bereits geheime Dokumente zu den Kriegen im Irak und in Afghanistan veröffentlicht. Die Diplomaten-Depeschen stammen möglicherweise von derselben Quelle.
Angriff auf die Weltgemeinschaft
Besonders brisant könnten für US-Außenministerin Hillary Clinton Anweisungen ihres Ministeriums an die US-Botschaften werden. Laut "New York Times" sollen Diplomaten darin aufgefordert worden sein, persönliche Daten von ausländischen Führungspersönlichkeiten zu beschaffen. UN-Botschafter Susan Rice wies dies strikt zurück. "Unsere Diplomaten sind genau das: Diplomaten", betonte sie. Clinton kündigte "entschlossene Schritte" gegen die Hintermänner des Datenklaus und schärfere Sicherheitsvorkehrungen an.
Präsidentensprecher Robert Gibbs schloss überdies nicht aus, dass die US-Regierung rechtlich gegen Wikileaks selber vorgeht. Es sei eine "Untertreibung", dass Obama "nicht erfreut" über die Enthüllung ist.
Nach Ansicht von Ministerin Clinton ist die Veröffentlichung "nicht nur ein Angriff auf die US-Außenpolitik, sondern auch ein Angriff auf die internationale Gemeinschaft". Sie gehe aber davon aus, dass die weltweiten Partnerschaften der USA "dieser Herausforderung standhalten". Die Ministerin betonte, die offizielle Außenpolitik der USA werde nicht anhand von derartigen Depeschen gestaltet. "Die Politik wird in Washington gemacht."
Erneut unterstrich sie, dass die Enthüllungen Personen konkret in Gefahr brächten. Es gehe "um echte Risiken für echte Menschen", sagte sie. "Es ist nicht Lobenswertes daran, unschuldige Menschen in Gefahr zu bringen, und es ist nicht Mutiges daran, die friedlichen Beziehungen zwischen Nationen zu sabotieren (...)."
Die "überschäumende Persönlichkeit"
90 Prozent des Materials ist nicht älter als sechs Jahre. 1719 der 251 287 Dokumente stammen aus der US-Botschaft in Berlin. Der CDU-Chefin Merkel wird darin bescheinigt, "selten kreativ" zu sein und das Risiko zu meiden. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) wird eine "überschäumende Persönlichkeit" zugeschrieben und CSU-Chef Horst Seehofer als "unberechenbarer Politiker" bezeichnet. Andere kommen deutlich besser weg. Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) wird schon als Wirtschaftsminister 2009 das Potenzial zugebilligt, "dem Kabinett etwas Glanz hinzuzufügen".
Regierungssprecher Steffen Seibert erklärte zwar, das Verhältnis zu den USA sei durch die Veröffentlichungen in keiner Weise getrübt. Außenamts-Sprecher Andreas Peschke schloss aber nicht aus, dass sie die Sicherheit der Bundesrepublik oder ihrer Verbündeter beeinträchtigen könnten.
Entschuldigungen sind nicht nötig
Weltweit hatten sich Regierungen auf die Veröffentlichung vorbereitet. Der US-Botschafter in Deutschland, Philip Murphy, rechtfertigte die Einschätzungen seiner Kollegen als normale diplomatische Arbeit, für die er sich nicht entschuldigen werde. Das Vertrauensverhältnis zur deutschen Regierung sieht er allerdings gestört. "Mich macht das unglaublich wütend, und die deutsche Regierung hat ebenso Grund, sich zu ärgern", sagte er dem "Spiegel".
Der "Schlange den Kopf abschlagen"
Ein Schlaglicht wird in den Dokumenten auch auf schwierige politische Prozesse, etwa im Iran geworfen. So hätten Israel genauso wie arabische Verbündete die USA zu einem Militärschlag gegen den Iran gedrängt. Der saudische König Abdullah habe verlangt, "der Schlange den Kopf abzuschlagen". Staaten wie Bahrain und Ägypten hätten ähnliche Einschätzungen vertreten, enthüllte der "Guardian".
Irans Staatspräsident Mahmud Ahmadinedschad bezeichnete die Dokumente trotzdem als wertlos und wies Spekulationen über negative Folgen für die Beziehungen Irans mit den arabischen Ländern zurück. "Diese Dokumente verfolgen bestimmte politische Ziele. Sie sind eine gewisse Art von Geheimdienst-Spiel und haben deshalb keine einzige legale Grundlage", sagte Ahmadinedschad.
Paris bestätigt nichts
Die französische Regierung verurteilte die Veröffentlichungen. Dies könne die Stabilität internationaler Beziehungen beeinträchtigen und die Sicherheit einzelner Personen gefährden, sagte ein Sprecher des Außenministeriums in Paris. "Es handelt sich um einen Angriff auf die Souveränität der Staaten und auf ihr Korrespondenzgeheimnis", betonte er. Die Regierung werde die Zitate französischer Politiker in den Dokumenten keinesfalls bestätigen. Regierungssprecher François Baroin sprach stattdessen der US-Regierung die Solidarität Frankreichs aus.
Ernüchtert reagierte der grüne Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit. Es gebe weder irgendwelche Geheimnisse noch echte Enthüllungen, meinte er in einem Radiointerview. "Geheimnisse? Welche Geheimnisse? Es gibt kein einziges Geheimnis, das man nicht schon kannte", meinte Cohn-Bendit. Die Dokumente befriedigten lediglich eine Form von Voyeurismus.
Schweden griff hingegen Wikileaks direkt an und erklärte, das Portal "macht die Welt unsicherer". Es sei notwendig, dass die Kommunikation zwischen Regierungen manchmal geheim bleibe, sagte Außenminister Carl Bildt. Nun drohten neue Konflikte. Erleichtert reagierte Israel. Die Enthüllungen zeigten, dass das Land ehrlich sei und privat wie öffentlich dasselbe sage, erklärte ein Regierungsvertreter und bezog sich auf die Furcht in der Region vor der iranischen Atombombe.
Kein sicherer Hafen für Assange
Die britische Regierung bezeichnete die Veröffentlichungen als "schädlich für die nationale Sicherheit in den USA, Großbritannien und anderswo". Australien prüft strafrechtliche Schritte gegen Wikileaks-Mitbegründer Julian Assange. "Wir glauben, dass es eine Reihe von Gesetzesverstößen gegeben haben könnte", sagte Generalstaatsanwalt Robert McClelland in Canberra. Für den australischen Staatsbürger Assange werde es in seinem Heimatland keinen sicheren Hafen geben. Bereits im Juli hatte die Regierung eine Arbeitsgruppe eingesetzt, um die Auswirkungen von Wikileaks-Veröffentlichungen zu prüfen. Wo sich Assange derzeit aufhält, ist nicht bekannt.
Quelle: ntv.de, ppo/dpa/rts/AFP