Politik

Interview mit Lieblingsenkel Lafontaine "Willy Brandt war kein Zauderer"

Die alte und die neue SPD: Willy Brandt und Oskar Lafontaine hatten in den 80ern ein enges Verhältnis. Der Ex-Kanzler schlug den Saarländer sogar als neuen Parteichef vor.

Die alte und die neue SPD: Willy Brandt und Oskar Lafontaine hatten in den 80ern ein enges Verhältnis. Der Ex-Kanzler schlug den Saarländer sogar als neuen Parteichef vor.

(Foto: imago stock&people)

Er war nur fünf Jahre Bundeskanzler, dennoch ist Willy Brandt bis heute einer der populärsten Politiker. Zum 100. Geburtstag erinnert sich sein "Lieblingsenkel" Oskar Lafontaine an die SPD-Legende, mit der er sich kurz vor dessen Tod zerstritt.

n-tv.de: Was ist Ihre erste Erinnerung an Willy Brandt?

Oskar Lafontaine: Das war eine Versammlung in Saarbrücken in den 60er Jahren, bei der Brandt noch gegen die Große Koalition argumentiert hat. Letztendlich wurde sie aber trotzdem gemacht. Wir Jungsozialisten haben die Große Koalition damals abgelehnt.

Was war das Faszinierende an Brandt?

Er war eine beeindruckende Persönlichkeit. Man war in seinen Bann geschlagen, wenn man ihn sah, ihm zuhörte und merkte, wie er mit den Menschen umging. Brandt war sehr facettenreich und hatte Charisma. Das sicherte ihm sein Leben lang eine große Anhängerschaft.

Manche bezeichneten Brandt als "deutschen Kennedy", andere als "Zauderer". Wie haben Sie ihn erlebt?

Das mit dem "deutschen Kennedy" bezieht sich auf die ersten Wahlkämpfe, die er geführt hat. Entscheidend ist, dass Brandt sich im Laufe der Zeit zu einer Person von historischer Dimension entwickelt hat. Er entdeckte sein Lebensthema, die Entspannungs- und Friedenspolitik, die letztendlich zum Fall des eisernen Vorhangs und zur deutschen Einheit führte. Brandt war kein Zauderer, wie oft geschrieben wurde, er war vielmehr zurückhaltend und nachdenklich. Aber er konnte auch zupacken, beispielsweise als er 1969 die Koalition mit der FDP machte. Herbert Wehner und Helmut Schmidt waren dagegen, er hat's trotzdem durchgezogen.

Brandt war nur fünf Jahre Kanzler, viel kürzer als Adenauer, Schmidt oder Kohl. Warum ist er trotzdem bis heute so populär?

Brandt wirkte ja nicht nur im Regierungsamt. Er war über 20 Jahre lang SPD-Chef, Vorsitzender der Sozialistischen Internationalen und erhielt den Friedensnobelpreis. Er hatte eine ähnliche Wirkung in der Welt wie Nelson Mandela. Es gibt Personen der Zeitgeschichte, die prägen die politische Meinungsbildung. Bei Brandt spürten die Leute, es ging ihm nicht um die Bühne, er hatte wirklich ein Anliegen.

Im Mai 1974 wurde Brandts Referent Günter Guillaume als Stasi-Agent enttarnt. Brandt trat daraufhin zurück. Haben Sie seinen Rücktritt nachvollziehen können?

Brandt und Kohl am Wahlabend der Bundestagswahl 1987

Brandt und Kohl am Wahlabend der Bundestagswahl 1987

(Foto: imago stock&people)

Ja natürlich, er war eine Reaktion auf die Widerstände, auf die er getroffen ist, und die Verleumdungen, denen er seit Beginn seines politischen Wirkens ausgesetzt war. Als ich Brandt damals begegnete, hatte ich den Eindruck, dass er erschöpft war. Letztendlich war sein Rücktritt auch ein Ausdruck der politischen Kultur: Er hat als Politiker die Verantwortung dafür übernommen, dass Guillaume so lange nicht enttarnt wurde.

Helmut Kohl hat später gesagt, er hätte nicht verstanden, warum Brandt sich "vom Acker gemacht" hätte. Er wäre auf Jahre "von niemandem zu schlagen" gewesen.

Dass er so schnell nicht zu schlagen gewesen wäre, glaube ich auch. Aber wenn jemand die Entscheidung trifft, ein Amt aufzugeben, sollte man das nicht diffamieren. Brandt war ein sensibler Mensch, der sich nicht an sein Amt klammerte. Das unterschied ihn von vielen Politikern.

In der Generation jüngerer SPD-Politiker galten Sie als Brandts "Lieblingsenkel". Erinnern Sie sich an die Anfänge Ihres besonderen Verhältnisses?

Ich sah in ihm so etwas wie meinen politischen Ziehvater. Zur Zeit der Friedensbewegung kamen wir einander näher. Abrüstung und Frieden lagen ihm sehr am Herzen. Ich erinnere mich an eine Begegnung in einer Bonner Kneipe, als er sagte: "Ein größerer Industriestaat muss aussteigen aus dieser ewigen Rüstungsspirale." Er dachte damals natürlich an Deutschland.

War es stets ein Verhältnis von Lehrer und Lehrling?

Brandt mit Sohn Matthias im Jahr 1967

Brandt mit Sohn Matthias im Jahr 1967

(Foto: imago stock&people)

Das war wie zwischen Söhnen und Vätern. Am Anfang habe ich viel von ihm gelernt. Je länger wir uns kannten, umso mehr habe ich hier und dort eine eigenständige Meinung vertreten. Das war aber auch in seinem Sinne. Brandt wollte nicht bevormundend wirken. Auch gegenüber seinen Söhnen hat er nie eine autoritäre Haltung eingenommen. Das hat man ihm später oft vorgehalten, aber er blieb bei seiner Haltung. Er war ein sehr toleranter Mensch. Gerade deshalb war Brandt ja auch derjenige, der die 68er-Generation mit der SPD versöhnt hat.

Was war der wichtigste Rat, den er Ihnen gegeben hat?

Ich war fasziniert von seiner Nobelpreisrede. Sein Credo war, dass man mit Krieg keine Probleme löst. Wörtlich hat er gesagt: "Krieg ist nicht die Ultima Ratio, sondern die Ultima Irratio." Wenn man die Erfolge der sogenannten Interventionskriege in Afghanistan, Irak oder Libyen betrachtet, sieht man, dass Brandt eine weitere Sicht hatte als das Mittelmaß, das heute in Deutschland regiert.

Wann haben Sie gemerkt, dass Brandt große Stücke auf Sie hielt?

Brandt wollte 1987, dass ich sein Nachfolger als SPD-Chef werde. Da kam es auch zur ersten Missstimmung zwischen uns. Er war enttäuscht, dass ich sein Angebot nicht angenommen habe. Ich habe damals gesehen, dass viele ältere SPD-Politiker mehr Erfahrungen hatten als ich und nicht bereit gewesen wären, einen Jüngeren als SPD-Vorsitzenden zu akzeptieren.

Brandt befürwortete den Einheitsvertrag, Lafontaine nicht.

Brandt befürwortete den Einheitsvertrag, Lafontaine nicht.

(Foto: imago stock&people)

Wenig später kam es zum Zerwürfnis zwischen Ihnen. Brandt forderte, dass die SPD im Bundestag für den Einheitsvertrag stimmt, Sie waren dagegen.

Das war eine schwierige Zeit. Brandt hatte eine andere Einstellung zur deutschen Einheit als ich. Ich war als Kind der Nachkriegszeit westeuropäisch aufgewachsen und sozialisiert. Er hatte Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend in der Weimarer Republik und sah in der Wiedervereinigung die Krönung seines Lebenswerkes. Mein Ansatz war ein anderer: Ich wollte die Einheit in die europäische Entwicklung einbetten. Auch weil ich die Währungsunion und damit Einführung der D-Mark zum Kurs von 1:1 ablehnte. Ich ging fest davon aus, und so sind die Dinge ja auch gekommen, dass die Wirtschaft der ehemaligen DDR dadurch zusammenbrechen würde. Mir ging es damals um die Verhinderung von Massenarbeitslosigkeit. Aber diese Differenzen haben wir wieder beilegen können.

Und wie?

Ich habe ihm einen Brief geschrieben, der uns wieder versöhnt hat.

Hat er geantwortet auf Ihren Brief?

Das konnte er nicht mehr, weil das schon gegen Ende seines Lebens war.

Warum wird Brandt von Ihnen, aber auch von anderen Parteien immer wieder als Mahnung gegen die SPD ins Feld geführt?

Brandt ist nun mal der Vorsitzende, mit dem die größten Erfolge der SPD verbunden sind. Man denke nur an seinen Wahlsieg 1972, als er 45,8 Prozent erreicht hat. Das ist eine Zahl, von der die Partei heute nur noch träumen kann. Mit Brandts Namen kann man immer daran erinnern, dass die SPD zwei Prinzipien hatte. Sie war die Partei des Sozialstaats und des Friedens, das garantierte vor allem Willy Brandt. Die wenigsten wissen: Was die wirtschaftliche Entwicklung betrifft, war er der erfolgreichste Kanzler. Zu seiner Zeit hatten wir die höchste Lohnquote in der Geschichte der Bundesrepublik. Niemals ging es den Arbeitnehmern und Rentnern besser. Seine Kanzlerschaft war der Höhepunkt sozialdemokratischer Politik.

Mit Oskar Lafontaine sprach Christian Rothenberg

Quelle: ntv.de

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