
(Foto: imago/Winfried Rothermel)
Rund 88.000 Franzosen in Deutschland sind am Sonntag aufgerufen, bei der Präsidentschaftswahl ihr Kreuz zu machen - und n-tv.de hat drei von ihnen getroffen. Die Front-National-Chefin Marine Le Pen ist ihre geringste Sorge. Ein Horrorszenario treibt sie aber trotzdem um.
Der Lack ist ein bisschen ab im Panenka. Zigarettenrauch hat sich über die Jahre in Holzvertäfelung und Wände gefressen. Aus jedem Winkel grüßt die Vergangenheit - Ansichten vom alten Berlin im Trödler-Chic und vergilbte Porträts von fast vergessenen Helden des Sports. Der Eingangstür fehlt eine Klinke. Und die Damentoilette ziert ein Schwarzweiß-Porträt der Kanzlerin; recht unvorteilhaft in Nonnenkluft und umrahmt von einem Klodeckel aus weißem Plastik. Ja, das Panenka hat sicher schon bessere Zeiten gesehen. Doch es atmet seine Kiez-Geschichte nicht ohne Stolz. Und die Liebe der Stammgäste zur kleinen Fußball-Kneipe im Friedrichshainer Osten ist groß, trotz aller Schönheitsfehler. Kein Zweifel, das Panenka und Frankreich haben viel gemeinsam.
Als Marine Le Pen diese Woche bei einem Wahlkampfauftritt vor 5000 Anhängern des Front National (FN) in Marseille zum "nationalen Aufstand" ruft und fordert, dass Frankreich wieder "französischer" werden müsse, sitzen zwei Söhne der südfranzösischen Metropole im Panenka. Étienne Maniere und Lionel Doutre, beide 34, wuchsen in den Achtzigern in Marseille auf. Aber erst in Deutschland lernten sie sich kennen. Beim Fußball. Heute spielen sie nicht mehr selbst, sagen sie. Aber sie schauen den Profis zu. Je nach Spielplan auch mehrmals in der Woche - und immer in der gleichen Friedrichshainer Kneipe. "Der Fußball ist nur eine Ausrede", sagt Étienne. Eine Ausrede, um sich zu sehen, um ein paar Gläser tschechisches Kozel zu trinken. Und um Französisch zu sprechen. "Jedes Mal", so der Marketingexperte, "streiten wir uns über Politik."
Weder Étienne noch Lionel konnten sich bisher auf einen Kandidaten bei der Präsidentschaftswahl festlegen - und das, obwohl es mit elf Anwärtern genügend Auswahl gibt. "Dieses Jahr bin ich verzweifelt", sagt Lionel trotzdem. "Ich habe sonst immer die Grünen gewählt. Ich fühle mich gar nicht mehr abgebildet." Schon Ende Februar hatte der grüne Kandidat, Yannick Jadot, zugunsten des Linkssozialisten Benoît Hamon verzichtet. Doch das Kalkül, die Wähler würden mit Jadot ins Lager der Parti Socialiste (PS) wechseln, ging nicht auf. Nach einer beispiellosen Schlammschlacht innerhalb der eigenen Partei liegt Hamon in Umfragen kurz vor der Wahl nur noch bei 7,5 Prozent. Auch Lionel wird ihn nicht wählen. Und er ist nicht der einzige, den die Unentschlossenheit quält.
Die Wahl des geringsten Übels
Laut einer Erhebung des Instituts Elabe schließt fast jeder vierte Franzose derzeit nicht aus, dass er seine Entscheidung kurzfristig noch ändern wird. 28 Prozent der Wahlberechtigten wollen gar nicht erst wählen gehen. Der Verdruss über die politische Elite, ihre Klüngeleien und taktischen Manöver ist groß in Frankreich - und nicht nur dort. Seit neun Jahren lebt Lionel in Deutschland, arbeitet als Übersetzer. Jedes Mal ist er zur Wahl gegangen, sagt er. Auch zur entscheidenden Stichwahl, obwohl er "immer nur das geringste Übel gewählt" habe. Damit gehört der 34-Jährige zu einer Minderheit. Denn schon 2012 lag die Wahlbeteiligung unter den in Deutschland registierten Franzosen nur bei 45,5 Prozent, wie die Französische Botschaft auf Anfrage von n-tv.de mitteilt.
In diesem Jahr sind 88.000 Franzosen in Deutschland zur Wahl aufgerufen - 12.000 von ihnen allein in Berlin. Und es fordert ihnen einige Mühe ab, ihre demokratische Pflicht zu erfüllen. Das Wahlgesetz in Frankreich erlaubt weder die Briefwahl, noch eine Online-Stimmabgabe. Bleibt also nur Schlange stehen; in Berlin wahlweise vor der Französischen Botschaft oder im Institut Français. Mehr Wahllokale gibt es nicht für die Hauptstädter. Julien Drouais, der dritte in der Panenka-Runde, kann vorm Wahlsonntag dennoch reichlich Enthusiasmus entwickeln. Während des Studiums kam er nach Deutschland - und er blieb. Auch sein Bruder studierte in Berlin, lebt heute aber wieder in Paris und ist ein glühender Fan von Emmanuel Macron, dem "französischen Obama".
"Macron wird die Leute enttäuschen"
Julien will Macron wählen. Leidenschaftlich verteidigt er den sozial- und wirtschaftsliberalen Kandidaten gegen den Zweifler Étienne. "Macron ist jung, klug und nicht hässlich", erklärt Étienne. "Er kann gut Englisch sprechen und hat für Banken gearbeitet - aber er ist nur so erfolgreich, weil es [für den Wähler] keine anderen Möglichkeiten gibt. Ich denke, er wird alle Leute enttäuschen." Julien kontert, dass Macron - anders als der linke Jean-Luc Mélenchon oder Le Pen - zumindest Mehrheiten im Parlament organisieren könne. Auch daran zweifelt Étienne. Beinahe könnten sich an dieser Kontroverse (über dem dritten Kozel des Abends) unüberbrückbare Differenzen entzünden. Doch es gibt auch Einigendes - zum Beispiel die tiefe Abneigung der Drei gegen den Konservativen François Fillon. "Das ist Konservatismus aus den Fünfzigern", befindet Julien.
Die Angst vor Fillon ist fast noch größer als vor Le Pen. "Nur Attentate, Migration und Araber - das ist kein Programm", sagt Etienne. Die Terrorgefahr in Frankreich sei das falsche Wahlkampfthema. "Was im Bataclan [während der Terrorattacken am 13. November 2015] passiert ist, passiert nicht jeden Tag. Der Terror ist auch nicht das große Problem der Frazosen. Sie wollen einen Job, und sie wollen bezahlbare Medikamente, wenn sie krank sind." Dass Fillon und Le Pen in der Stichwahl gegeneinander antreten könnten, sei ein absolutes Horrorszenario, sagen sie unisono. Dann doch lieber Macron. Er habe einen weit positiveren Wahlkampf gemacht - auch wenn ihm die "klare Kante fehlt", wie Lionel sagt. Wieder einmal wird der Marseiller das geringste Übel wählen.
Der Lack ist ein bisschen ab in Frankreich. In diesem schmutzigen Präsidentschaftswahlkampf hat die Fünfte Republik Kratzer bekommen. Die alten Helden sind fast vergessen. Jetzt braucht es neue. "Das ist die französische Monarchie", sagt Julien. "Wir wählen den König und nicht den Präsidenten. Der König soll die Hoffung bringen, die Vision. Etwas, wovon die Franzosen wieder glänzende Augen bekommen." Und das wäre zumindest ein Anfang.
Quelle: ntv.de