Politik

Angehörige von Hamas-Geiseln "Wir wissen nicht, wie viele Menschen wir verloren haben"

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Angehörige der von der Hamas Verschleppten fordern in London das Rote Kreuz auf, sich Zugang zu den Geiseln zu verschaffen.

Angehörige der von der Hamas Verschleppten fordern in London das Rote Kreuz auf, sich Zugang zu den Geiseln zu verschaffen.

(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

Sieben Verwandte von Shira Havron sind in der Gewalt der Hamas. Die 27-Jährige bittet die deutsche Regierung, sich stärker für die Freilassung der Geiseln einzusetzen. "Nicht, weil einige der Geiseln deutsche Pässe haben, sondern weil dies eine humanitäre Krise ist, die schon viel zu lange andauert", sagt sie im Interview mit ntv.de. "Es sind Kinder und alte Leute, die von einer terroristischen Organisation als Geiseln gehalten werden. Das ist so schrecklich, dass niemand, der darüber nachdenkt, in der Lage sein sollte, nachts ein Auge zuzumachen."

ntv.de: Es ist jetzt mehr als einen Monat her, dass mehrere Ihrer Familienmitglieder in den Gazastreifen verschleppt wurden. Wie viele Verwandte von Ihnen werden von der Hamas festgehalten?

Shira Havron: Sieben. Wir glauben, dass es im Moment sieben sind, weil wir wissen, dass drei unserer Verwandten tot sind.

Sie sind sich also jetzt sicher, dass drei gestorben sind - nicht zwei, wie Sie anfangs glaubten?

Ja. Ich meine, sicher ist relativ. Das ist, was wir jetzt glauben. Die Informationen ändern sich ständig.

Können Sie etwas über die Geiseln erzählen, über Ihre Angehörigen?

Da sind meine Tante Shoshan, meine Cousine Adi, ihr Mann Tal und ihre beiden Kinder Yahel ("Yuli") und Naveh, die drei und acht Jahre alt sind, außerdem die Schwester meines Onkels, Sharon und ihre Tochter Noam, die zwölf ist. Sie alle waren an diesem Morgen im Kibbuz Be'eri - meine Cousine und ihre Familie und die Schwester meines Onkels waren zu Besuch, sie wohnen nicht dort. Meine Tante Shoshan hat eine Nichtregierungsorganisation namens "Fair Planet" gegründet, jetzt ist sie da die Präsidentin. Sie arbeitet mit Bauern in Afrika zusammen, vor allem in Äthiopien, und gibt ihnen Saatgut und vermittelt das Wissen, wie man Lebensmittel anbaut. Das ist die Art von Frau, die sie ist. Meine Cousine Adi ist ihre Tochter, sie ist Psychologin. Die Kinder sind alle absolut wundervoll. Eigentlich hätte für sie jetzt das Schuljahr angefangen.

Sie haben gesagt, dass Sie nicht sicher sind, dass es sieben sind. Woher haben Sie Ihre Informationen? Von der Regierung?

Nein, von der Regierung kommt nichts. Wir wurden informiert, dass die sieben Personen als entführt bestätigt wurden. Aber auch meine Tante und mein Onkel waren zunächst als entführt bestätigt, und später haben wir herausgefunden, dass sie ermordet wurden. Es ist schwer, sich auf Informationen zu verlassen, wenn man weiß, dass sie sich ändern können.

Soweit ich weiß, wird der Kibbutz Be'eri immer noch untersucht. Weiß Ihre Familie, wann sie dorthin zurückkehren kann - und will sie das überhaupt?

Dazu ist es noch zu früh, wir wissen es noch nicht. Wir wissen nicht, wie das alles für unsere Familie enden wird, wir sind noch in der Phase der Ungewissheit. Wir wissen nicht, wie viele Menschen wir verloren haben, wie viele zurückkommen werden. Und es stimmt, der Kibbuz ist immer noch militärisches Sperrgebiet, man kann nur zusammen mit der Armee hineingehen. Cousins von mir waren da und haben das Haus ihrer Eltern gesehen. Ich weiß, dass mein Onkel Abshalom - einer der Onkel, die ermordet wurden - der Erste wäre, der zurückgehen würde, wenn er noch da wäre. Es gibt eine Druckerei in Be'eri, eine der größten in Israel, sie ist noch in Betrieb, obwohl sie im Sperrgebiet liegt. Dort hat er gearbeitet. Er war auch an der Verwaltung des Kibbuz beteiligt. Er wäre jetzt dort. Aber einige Leute haben Angst, zurückzugehen, und das kann man ihnen nicht verdenken. Andere sagen, dass wir nach vorne schauen und nach Hause zurückkehren müssen. Es braucht noch etwas Zeit, glaube ich.

Ihre Familie ist eng mit Be'eri verbunden. Es waren Ihre Großeltern, die den Kibbuz gegründet haben?

Ja, Avraham und Rina Havron. Der Kibbuz war ein zweites Zuhause für mich. Als ich noch ein Kind war, waren wir praktisch die Hälfte der Zeit dort. Für mich, und ich nehme an, für alle anderen auch, war es wie das Paradies. Die Umgebung war schön und grün und die Menschen waren gastfreundlich. Es war eine echte Gemeinschaft, einer der letzten echten Kibbuzim - der Besitz war nicht privat, er wurde gemeinsam genutzt. Es war einfach ein wundervoller Ort, an dem man sich sicher und zuhause fühlte. Für mich war es auch eine Quelle des Stolzes, wegen meiner Großeltern. Meine Familie ist an diesem Ort sehr verwurzelt. Viele Geschichten, Witze und Anekdoten verbinden meine Familie mit Be'eri. Und es ist auch ein sehr erfolgreicher und florierender Ort.

Angehörige von Geiseln haben in den letzten vier Wochen vor Netanjahus Haus demonstriert. Sie fordern, dass die Regierung alles tut, um die Geiseln freizubekommen. Vonseiten der Regierung scheint es aber nicht viel Unterstützung für die Familien der Geiseln zu geben, oder?

Nach dem Schwarzen Samstag sind viele großartige Initiativen und Organisationen entstanden, vor allem das Forum der entführten und vermissten Familien. Gleichzeitig gibt es im Grunde keine Verbindung zur Regierung. Ich wurde vom Büro des Außenministers gebeten, mich einer Delegation entführter Familien anzuschließen. Aber das war's auch schon.

Sie waren in Brüssel, haben vor dem Europäischen Parlament gesprochen und danach Politikerinnen und Politiker getroffen.

Das war vier Tage nach dem 7. Oktober, und es wurde von Freiwilligen organisiert, nicht von der Regierung.

Ist bei diesem Treffen etwas herausgekommen? Ich meine, einige der Geiseln haben europäische Staatsbürgerschaften, auch die deutsche.

Einige von meinen Verwandten, die Kinder meiner Cousine, haben auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Wir haben eine Liste mit den Namen unserer Familienmitglieder an Mitglieder des Europäischen Parlaments übergeben, und mir wurde gesagt, dass sie an die deutsche Außenministerin gehen würde. Aber abgesehen davon ist im Grunde nichts passiert - jedenfalls nichts, von dem ich wüsste. Ich habe das Gefühl, dass sie hinter uns stehen, das schon, aber ich sehe nicht, dass etwas passiert. Ich hoffe, dass im Hintergrund Dinge passieren, von denen ich nichts weiß, und ich muss auch nicht alles wissen. Aber es ist ein Monat vergangen, und es ist nichts passiert.

Was erwarten Sie von der deutschen Regierung?

Wir, ich meine damit alle Familien der Geiseln, wir haben zwei Botschaften, die wir weitergeben wollen. Die eine geht an die deutsche Regierung: Es liegt auch in Ihrer Verantwortung, alles zu tun, was Sie können, um alle Geiseln jetzt nach Hause zu bringen. Nicht, weil einige der Geiseln deutsche Pässe haben, sondern weil dies eine humanitäre Krise ist, die schon viel zu lange andauert. Es sind Kinder und alte Leute, die von einer terroristischen Organisation als Geiseln gehalten werden. Das ist so schrecklich, dass niemand, der darüber nachdenkt, in der Lage sein sollte, nachts ein Auge zuzumachen.

Ihre zweite Botschaft?

Der deutschen Öffentlichkeit möchte ich sagen: Ich weiß, wir leben in einer Region, die politisch kompliziert ist. Dies ist nicht der erste Tag im israelisch-palästinensischen Konflikt, aber es ist auch nicht einfach nur ein weiterer Tag in diesem Konflikt. Meine Familie besteht aus Menschen, die nach den Werten von Frieden und Gleichheit leben. Wir haben palästinensische Freunde, wir unterstützen und wollen Frieden. Es sollte klar sein, wie schrecklich diese Situation, die Situation der entführten Menschen ist. Hier wurden unschuldige Menschen aus ihrer Heimat verschleppt und werden nun als Gefangene an einem unbekannten Ort festgehalten. Alle sollten dagegen protestieren, das Thema auf der Tagesordnung halten und darüber sprechen und auch die Geschichte meiner Familie erzählen, die nur ein Teil der Geschichten von mehr als 240 Menschen ist, die von der Hamas als Geiseln gehalten werden. Dies ist keine politische Situation.

Mit Shira Havron sprach Samira Lazarovic

Quelle: ntv.de

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