Besuch in Diyarbakır Wo der Krieg zum Alltag gehört
16.10.2015, 10:27 Uhr
An vielen Orten in der Stadt sind Barrikaden aufgebaut, hinter denen Jugendliche Schutz vor dem Militär suchen.
(Foto: REUTERS)
Bei den türkischen Parlamentswahlen im Juni stimmen in der kurdischen Stadt Diyarbakır 80 Prozent der Wähler für die prokurdische Partei HDP. Die Hoffnung war groß. Doch das ist vorbei.
Ankunft am Abend in der türkischen Kurdenmetropole Diyarbakır. Aus der Ferne sind Bombardements zu hören. Der Taxifahrer wirkt ungerührt: "Das ist das Militär, die beschießen die PKK in den Bergen". Der Krieg zwischen der Armee und der Arbeiterpartei, die von der türkischen Regierung und der EU als Terrororganisation eingestuft wird, ist wieder voll entbrannt. Die Straßen von Diyarbakır sind leer, ganz anders als im Juni. Da tanzten die Menschen auf den Straßen bis tief in die Nacht. Es war Wahlkampf und zum ersten Mal hatte eine prokurdische Partei, die HDP, die Chance auf den Einzug ins Parlament. Und sie schafften es mit 13,1 Prozent.
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Die Wahlplakate hängen noch. Die Deutsch-Kurdin Feleknaz Uca ist zwar jetzt Abgeordnete in Ankara, aber die Freude darüber ist schnell verflogen. "Wenn man hier vor Ort lebt und jeden Tag den Kriegszustand miterleben muss, nachts die Kampfjets die starten, tagsüber die Schüsse sich anhören muss und live dabei war, wenn eine Bombe auf einer Wahlkampfveranstaltung explodiert, dann muss man um sein Leben fürchten. Aber es müssen Millionen Menschen um ihr Leben fürchten", sagt Feleknaz Uca.
Heute stehen gepanzerte Fahrzeuge in den Straßen von Diyarbakır, ein Teil der Altstadt ist abgesperrt. Jugendliche haben sich hinter Barrikaden und Sandsäcken verschanzt. Vor der Moschee zeigt ein alter Mann die Einschüsse – immer wieder werde hier gekämpft, sagt er. "Das Militär schlägt zurück. Soldaten, Polizisten und unzählige Zivilisten wurden bereits getötet – die verüben hier wahre Massaker." Plötzlich Schreie, alle rennen los, retten sich in die Gebäude. Ein Armeehubschrauber ist im Anflug. "Manchmal schießen sie", sagt der alte Mann. Seit Juli ist die Lage hier außer Kontrolle.
Beerdigungen statt Wahlkampf
Weil die Regierungspartei AKP keine Regierungskoalition bilden konnte, sind für den 1. November Neuwahlen in der Türkei geplant. "Erdoğan lässt so lange wählen, bis ihm das Ergebnis gefällt", sagt ein Anwohner über den türkischen Präsidenten. Seinen Namen will er nicht nennen, er hat Angst.
Statt in den Wahlkampf ziehen Feleknaz Uca und ihre Parteifreunde von Trauerfeier zu Trauerfeier. Diesmal ist HDP-Chef Selahattin Demirtaş aus Istanbul gekommen. Zwei junge Männer, 16 und 20 Jahre alt wurden von türkischen Sicherheitskräften getötet, auf offener Straße, mitten in Diyarbakır. Die Jungen waren keine Kämpfer, sagen sie hier, sondern Zivilisten. Nachprüfen lässt sich das nicht. Dass sie hier aber mit dem inhaftierten PKK-Chef Öcalan sympathisieren – das ist offensichtlich.
Und während die Menschen noch beten und trauern, fliegen türkische Kampfjets Angriffe auf PKK-Stellungen in den Bergen und im irakischen Grenzgebiet. Wahlkampf sieht anders aus. Doch trotzdem müssen die Wahlen stattfinden, sagt Demirtaş. "Es gibt keinen Grund nicht zur Wahl zu gehen. Vielleicht versucht die Regierung, die Wahlen genau in so einer Atmosphäre abzuhalten, um die Stimmen für die HDP gering zu halten. Aber egal was passiert, unsere Leute werden trotzdem wählen gehen."
Immer wieder gibt es Ausgangssperren – offiziell, um Terroristen aufzuspüren. Gerade erst war die Stadt Silvan, eine Autostunde östlich von Diyarbakır, für vier Tage abgeriegelt. Feleknaz Uca ist auf den Weg dahin. Lang sollte man sich dort nicht aufhalten, sagt sie. Die Situation kann sich schnell wieder ändern. Auch in Silvan betrauern sie die Toten. Eine 70-Jährige ist an ihren Verletzungen gestorben. Die Menschen hier sind erschüttert. "Eine alte Frau, das war doch keine PKK-Kämpferin", sagt Uca. Überall sieht man die Folgen der Kämpfe. Besitzer Ömer zeigt seinen zerstörten Laden: "Die Sicherheitskräfte haben hier alles zusammengeschossen. Dabei gab es da gar keine Kämpfe mehr, keine Schusswechsel. Wir haben jetzt keinen Strom und kein Wasser mehr", meint er. "Selbst die Eistruhe haben sie beschossen." Die Umstehenden schütteln ihre Köpfe.
"Für die Regierung sind wir alle Terroristen"
Während der Ausgangssperre hatte das Militär in Silvan ganze Straßenzüge beschossen. Feleknaz Uca bleibt vor einem Haus stehen: "Wenn man sich das hier anschaut, diese Häuser, wo Familien gelebt haben, wie viele Einschüsse gibt es?" Es sind zu viele, man kann sie nicht zählen. Dann fährt sie fort: "Zwei Zivilisten, wurden getötet, das ist die offizielle Zahl. Dazu viele Verletzte in den Krankenhäusern." Vor den Zimmern stünden Zivilpolizisten. Viele würden sich deshalb gar nicht ins Krankenhaus trauen, sie haben Angst vor Verhaftungen.
In einem der zerstörten Häuser hat ein Mann zwei Tage mit seiner Familie ausgeharrt. Sie konnten nicht fliehen, draußen wurde geschossen. Auch er will seinen Namen nicht nennen, er fürchtet sich vor Polizei und Militär. "Zwei Tage lang haben sie uns beschossen. Am frühen Morgen um 6 Uhr fingen sie an, und es dauerte bis zum nächsten Abend. Wir saßen hier in unserer Wohnung mit unseren drei kleinen Kindern. Das war für uns alle schrecklich. Aber am schlimmsten war das für die Kinder. Wir wissen jetzt nicht, wo wir wohnen sollen. Die Kinder wollen nicht mehr in die Wohnung zurück. Die haben solche Angst."
Ist er denn PKK-Kämpfer oder unterstützt er die Terroristen? "Nein", sagt er, "aber in den Augen der Regierung sind wir alle Terroristen. Denn sonst hätten sie ja keine Rechtfertigung für ihre Taten. Ich bin Zivilist. Aber selbst wenn sie sagen, dass ich ein Terrorist bin, was ist dann mit meiner Frau und meinen Kindern? Sind das auch Terroristen?"
Die Ausgangssperre ist zwar aufgehoben, doch die Sicherheitskräfte sind weiter vor Ort. Am gefährlichsten seien die dunklen gepanzerten Fahrzeuge – ohne Kennzeichen, sagen sie hier. Die würden zu einer Sondereinheit aus Ankara gehören.
Zurück in Diyarbakır. Es ist früher Abend, auf der Einkaufsstraße im Zentrum ist noch viel Betrieb. Im Juni hatten in Diyarbakır knapp 80 Prozent der Menschen für die HDP gestimmt. Die Hoffnung war so groß. Und jetzt? "Hier in Diyarbakır hat sich seit den Wahlen alles sehr zum Negativen verändert. Alles ist schlimmer geworden", sagt eine junge Frau. Ein älterer Mann meint: "Wir Kurden wollen doch nur die gleichen Rechte, die alle anderen auch haben. Jeden Tag werden hier Menschen durch das Militär getötet, die AKP-Regierung gibt denen den Auftrag. Die Europäische Union, Amerika, Deutschland – die müssen da jetzt intervenieren."
Von weitem sind Bombardierungen zu hören. Doch alle kaufen weiter ein. Niemand scheint das zu beachten. Krieg und Terror gehören für die Menschen hier in Diyarbakır längst zum Alltag.
Quelle: ntv.de