"Aushöhlung des Parlamentarismus" Wulff prangert Schwarz-Gelb an
29.06.2011, 20:44 Uhr
Erst Islam, nun Demokratie: Wulff will sich ein neues Thema setzen.
(Foto: picture alliance / dpa)
Mit deutlichen Worten ermahnt Bundespräsident Wulff Schwarz-Gelb zu mehr Respekt vor der Demokratie. Durch Eilentscheidungen wie bei der Energiewende werde das Parlament gefährdet. Union und FDP hätten den Atomausstieg auf Parteitagen diskutieren sollen. Wulff lobt deshalb die Grünen. Zudem verteidigt er seinen Islam-Ausspruch.
Bundespräsident Christian Wulff hat zum ersten Jahrestag seines Amtsantritts in mehreren Interviews den Zustand der Demokratie in Deutschland kritisiert. In der "Zeit" konstatierte er eine "Aushöhlung des Parlamentarismus". Nach Wulffs Überzeugung hat sich die Politikverdrossenheit ausgeweitet, und zwar nicht nur von Bürgern gegenüber Politikern. "Inzwischen sind Politikerinnen und Politiker häufig verdrossen, verdrossen über ihre eigene Tätigkeit und ihre Rolle, die ihnen noch zukommt, verdrossen über ihren schwindenden Einfluss."
In der ARD betonte Wulff: "Demokratie braucht Zeit". Das Parlament sei das Herzstück der Demokratie. Es dürfe nicht ausgehebelt werden. "Das Parlament ist vielfältig gefährdet." Dieses Thema solle Schwerpunkt seines zweiten Jahres im Amt werden.
Mehrere Politiker aus der Union hatten zuletzt den Regierungsstil von Bundeskanzlerin Angela Merkel kritisiert und mehr Respekt vor der Entscheidungshoheit des Parlaments gefordert. Der Unmut hatte sich vor allem an den Eilverfahren bei der Energiewende und der Griechenlandhilfe entzündet. In der Debatte über künftige Milliardenhilfen für strauchelnde Euro-Länder forderte etwa Bundestagspräsident Norbert Lammert eine strengere Kontrolle durch das Parlament. "Ich halte die Beteiligung des Bundestages bei konkreten Hilfszusagen in jedem neuen Einzelfall für unverzichtbar." Noch schärfer kritisierte Lammert den Zeitdruck beim Atomausstieg, der nicht mit den Euro-Hilfen vergleichbar sei, weil die Vorgaben von der Bundesregierung politisch willkürlich gewollt seien.
Wulff lobt die Grünen
Bundespräsident Wulff unterstützte dir Kritik bei der Energiewende nun indirekt: "Diese Eile wäre vermutlich vermeidbar gewesen." Union und FDP hätten den Atomausstieg nach der Katastrophe von Fukushima auf Parteitagen diskutieren sollen. "Sie müssen ihre eigenen Anhänger auch mitnehmen." Jetzt gehe es darum, Akzeptanz zu finden für erneuerbare Energien. Ausdrücklich zollte er den Grünen Anerkennung. Sie hätten die Diskussion mit ihrer Basis geführt, "obwohl sie den geringsten Korrekturbedarf hatten." Das erkläre auch, warum es die Grünen leichter hätten, neue Mitglieder zu werben.
Zu seinem berühmten Satz "Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland" sagte Wulff: "Ich bin sehr froh darüber, dass dieser Satz, diese Rede zum 3. Oktober, eine wirkliche Versachlichung zu diesem Thema gebracht hat." Es gebe vier Millionen Muslime in Deutschland. Diese hätten die gleichen Rechte wie alle anderen. "Für alle gilt das Grundgesetz. Das ist unsere Leitkultur."
"Profitieren, ohne beizutragen"
In der "Zeit" forderte Wulff zudem eine Beitrag der Banken zur Lösung der Griechenland-Krise. "Die Banken müssen Verantwortung übernehmen: zum Beispiel Kredite strecken, Zinsen verändern", sagte Wulff. Es gebe zu viele, "die profitieren, ohne beizutragen". Er kritisierte "Trittbrettfahrer in der Finanzwelt, die an Staaten mit hohen Staatsschulden immer noch bestens verdienen und darauf setzen, dass sie von der Politik aufgefangen werden". Der Präsident forderte ein "überzeugendes und tragfähiges Gesamtkonzept, bei dem wirklich alle herangezogen werden". Andernfalls werde der Zweifel bei den Menschen überall in Europa wachsen.
Wulff war am 30. Juni 2010 im dritten Wahlgang als Nachfolger des überraschend zurückgetretenen Horst Köhler zum 10. Bundespräsidenten gewählt worden. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier sagte zur Bilanz Wulffs nach dem ersten Jahr im Amt: "Ich freue mich darüber, dass er Interesse an der Außenpolitik und an den außenpolitischen Bedingungen, in denen Deutschland agiert, mitbringt." Er hoffe, dass das Thema Umgang mit Migration Wulff auch durch seine weitere Amtszeit begleite.
Die Grünen-Fraktionsvorsitzende Renate Künast sagte der "Leipziger Volkszeitung", Wulffs Rede vom 3. Oktober sei "richtig und gut" gewesen. Damit habe Wulff etwas ausgelöst: "Den Deutschen hat er klargemacht, dass der Islam zu uns gehört. Und den Türken hat er 14 Tage später zur Kenntnis gebracht, dass das Christentum auch zur Türkei gehört", sagte Künast. "Ich kann nur sagen: Bitte weitermachen. Mehr davon."
Quelle: ntv.de, tis/dpa