Tag der Menschenrechte "Genau die falsche Entwicklung"
10.12.2009, 11:12 UhrEuropa sieht sich gern als Hort der Menschenrechte. Dieses von Selbstzufriedenheit geprägte Bild hält einer Überprüfung jedoch nicht stand. Ob bei der Schließung des Gefangenenlagers Guantánamo oder bei der Flüchtlingspolitik - oft entscheidet Europa sich gegen die Menschenrechte. "Im Mittelmeer wird die Genfer Flüchtlingskonvention permanent ignoriert, dort werden Flüchtlingsboote in Seenot und Flüchtlinge nicht nach Europa gelassen", sagt die Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, Monika Lüke. Die EU sei mit dafür verantwortlich, dass jeder vierte Flüchtling im Mittelmeer ertrinkt.
n-tv.de: Wie steht es um die Menschenrechte in Europa?
Monika Lüke: 2009 war aus Sicht der Menschenrechte das Jahr der verpassten Chancen. Da sind insbesondere zwei Aspekte zu nennen: Guantánamo wurde nicht geschlossen. Dass Barack Obama sein Ziel nicht einhalten kann, das Lager im Januar 2010 zu schließen, liegt auch an den europäischen Staaten.
Warum sollte Europa Gefangene aufnehmen, wenn nicht einmal die USA dazu bereit sind?
Natürlich sind zunächst die USA in der Pflicht, Gefangene aus Guantánamo entweder ins Land zu lassen oder ihnen einen fairen Prozess zu machen. Aber das ist innenpolitisch in den USA nicht möglich. Für mich ist Guantánamo derzeit der größte Weltunsicherheitsfaktor, der den Extremismus fördert und damit auch uns gefährdet. Angela Merkel hat die Anti-Terror-Politik der Regierung von George W. Bush unterstützt. Dann muss sie auch den längst überfälligen Beitrag leisten und dem neuen US-Präsidenten bei der Schließung des Lagers unterstützen - und zwar dadurch, dass Gefangene aufgenommen werden. Jeder Tag, an dem das nicht passiert, ist eine unterlassene Chance, einen erheblichen Beitrag zur Sicherheit Europas zu leisten.

Mauretanien: Ein westafrikanischer Migrant in einer Polizeistation in Nouadhibou. Hier steht "Guantánamito", Klein-Guantánamo.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Und die zweite verpasste Chance?
Beim EU-Gipfel heute und morgen verabschieden die Staats- und Regierungschefs in Brüssel das Stockholmer Programm, ...
... das die Justiz- und Innenpolitik der EU bis 2015 regelt, ...
... und das die Abschottungspolitik der Europäischen Union weiter verankert. Die EU hat damit wieder einmal eine Chance verpasst, endlich zu einer menschenrechtskonformen Flüchtlingspolitik zurückzukehren: Sie hat es verpasst klarzustellen, dass Flüchtlinge, die im Mittelmeer aufgegriffen werden, einen Anspruch auf ein faires Asylverfahren in Europa haben, und sie hat es verpasst, für die europäische Grenzschutzagentur Frontex menschenrechtskonforme Leitlinien zu schaffen.
Was kritisieren Sie an Frontex?
Frontex-Beamte, darunter auch Deutsche, operieren im Mittelmeer nach dem Prinzip der organisierten Verantwortungslosigkeit. Sie spüren Flüchtlingsschiffe auf und geben die Information dann an nationale Behörden weiter. Wir haben Kenntnis von einem Vorfall im Sommer, als deutsche Frontex-Beamte ein Flüchtlingsschiff an maltesische Beamte gemeldet haben. Die haben dann zusammen mit den Italienern die Flüchtlinge nach Nordafrika zurückgeschoben. Frontex braucht dringend Leitlinien, die klären, wer wofür zuständig ist, und die klarstellen, dass die Frontex-Beamten an die Menschenrechte gebunden sind. Stattdessen sieht das Stockholmer Programm vor, dass Frontex verstärkt mit den Anti-Terror- und Verfolgungsbehörden zusammenarbeitet. Das ist genau die falsche Entwicklung.
Was passiert mit den Flüchtlingen, die nach Nordafrika zurückgeschickt werden?
Die meisten werden nach Libyen und Mauretanien gebracht, weil Italien und Spanien mit diesen Ländern entsprechende Abkommen geschlossen haben. In Mauretanien gibt es ein Lager, das die Insassen "Guantánamito" nennen. Das ist eine ehemalige Schule in der Hafenstadt Nouadhibou, die vor drei Jahren mit spanischen Mitteln zum Lager umgebaut wurde. Dort werden derzeit mehr als 3000 Flüchtlinge unter menschenrechtswidrigen Bedingungen festgehalten, sie haben weder genug zu essen noch zu trinken, das Lager untersteht keiner gerichtlichen Kontrolle. Keiner der nordafrikanischen Staaten hat die Genfer Flüchtlingskonvention ratifiziert, keiner der nordafrikanischen Staaten bekennt sich zum Flüchtlingsschutz. Entsprechend sieht die Realität in diesen Ländern aus. Es ist ganz und gar unbegreiflich, wie die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf die Idee kommen können, die nordafrikanischen Staaten könnten ein angemessener Platz für Flüchtlinge sein - die EU stiehlt sich da komplett aus ihrer Verantwortung.
Ist das ein Verstoß gegen die Menschenrechte?

Abschiebung ins Elend: Roma im Flüchtlingslager Cesmin Lug in der ethnisch geteilten Stadt Mitrovica im Kosovo.
(Foto: REUTERS)
Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union, darunter auch Deutschland, kommen ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen, Flüchtlingsschutz zu gewähren, nicht nach. Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben sich zur Genfer Flüchtlingskonvention bekannt. Im Mittelmeer wird die Genfer Flüchtlingskonvention jedoch permanent ignoriert, dort werden Flüchtlingsboote in Seenot und Flüchtlinge nicht nach Europa gelassen. Die EU ist mit dafür verantwortlich, dass jeder vierte Flüchtling im Mittelmeer ertrinkt - das sind neueste Angaben der französischen Geheimdienste.
Wie viele sind das in absoluten Zahlen?
Dazu gibt es nur Schätzungen. Eine spanische Menschenrechtsorganisation geht davon aus, dass im vergangenen Jahr 3000 Flüchtlinge allein auf dem Weg nach Spanien ums Leben gekommen sind.
Nach Angaben der italienischen Regierung ist die Zahl der Flüchtlinge seit dem Inkrafttreten der Zusammenarbeit mit Libyen um über 90 Prozent zurückgegangen. Könnte man nicht argumentieren, dass es ein Erfolg ist, wenn weniger Menschen die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer wagen?
Die Frage ist, worauf sich die Zahlen beziehen: Gibt es weniger Flüchtlinge, die die gefährliche Überfahrt wagen, oder gibt es weniger Flüchtlinge, die es nach Europa schaffen? 2008 haben nur 150.000 Menschen in Europa Asyl beantragt. Das sind gerade einmal 15 Prozent der weltweiten Flüchtlinge, denn die meisten Flüchtlinge bleiben ja in ihren Regionen. Die Hauptlast tragen Syrien für den Irak, Tschad für den Sudan und Kenia für Somalia. 40 Prozent derjenigen, die in Deutschland einen Asylantrag stellen, erhalten eine Form des humanitären Schutzes. In Malta sind es sogar mehr als 50 Prozent. Das zeigt doch, dass die Flüchtlinge, die sich auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer machen, tatsächlich häufig des Schutzes bedürfen.

Monika Lüke ist Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland.
(Foto: picture-alliance/ dpa)
Die Innenminister der Bundesländer haben sich vor kurzem darauf geeinigt, das Bleiberecht für geduldete Ausländer zu verlängern. Bleiben darf, wer innerhalb von zwei Jahren eine Arbeitsstelle vorweisen kann. Ist ein Job das richtige Kriterium für eine Bleiberechtsregelung?
Dieser Kompromiss ist zunächst einmal besser als gar kein Kompromiss, denn dann hätten die Ausländerinnen und Ausländer sofort die Abschiebung fürchten müssen. Aber natürlich kann eine Arbeitsstelle nicht das geeignete Kriterium sein, insbesondere nicht in Zeiten der wirtschaftlichen Krise - aber auch deshalb nicht, weil wir als Amnesty davon ausgehen, dass ein Teil derjenigen, die hier um das Bleiberecht ringen, tatsächlich politische Flüchtlinge sind, auch wenn sie nach dem deutschen Asylverfahren leider keine Anerkennung erhalten.
Betrifft das auch die Roma?
Die Roma sollten nach unserer Auffassung grundsätzlich nicht in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden, weil ihnen dort schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Das allein müsste ausreichen, um ihnen hier einen Aufenthaltstatus zu geben. Die Roma sind in nahezu allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union komplett schutzlos, sie werden diskriminiert, häufig auch gettoisiert. In Tschechien werden Roma-Kinder nicht in normale Grundschulen geschickt, sondern in Sonderklassen. Sie haben also von vornherein keine Chance, ihr Menschenrecht auf Bildung zu verwirklichen. In Italien, in Rom und Mailand, fanden im März, August und im November rechtswidrige Zwangsräumungen gegen Roma-Familien statt. Da haben italienische Sicherheitsbeamte Roma aus ihren Wohnungen vertrieben, ohne dass ihnen irgendein Ersatz-Wohnraum zur Verfügung gestellt wurde. Diese Familien hausen jetzt in provisorischen Hütten. Nach den Vorstellungen des italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi sollen sie damit auch kein Anrecht mehr auf Sozialleistungen haben; demnächst soll in Italien ein Gesetzentwurf verabschiedet werden, wonach nur noch der in vollem Umfang Sozialleistungen beantragen kann, der eine angemessene Wohnung nachweisen kann. In Ungarn gab es seit Beginn des Jahres 2008 neun Tote bei Übergriffen gegen Roma. In Rumänien hat die Regierung vorgeschlagen, die Roma doch in Ägypten anzusiedeln. Die Situation der Roma in Europa ist schrecklich.
Bis zu 10.000 Roma sollen aus Deutschland in den Kosovo abgeschoben werden.
Die Bundesländer schieben schon seit dem Sommer in den Kosovo ab, die Innenministerkonferenz hat es Anfang Dezember nicht einmal für nötig gehalten, das Thema auf die Tagesordnung zu setzen. Im Kosovo müssen die Roma massive Menschenrechtsverletzungen fürchten - die Kinder können nicht zur Schule gehen, Roma werden im Rahmen des staatlichen Gesundheitssystems nicht versorgt, sie erhalten keine Arbeit, sie leben in Siedlungen auf verseuchtem Grund, regelmäßig kommt es zu gewaltätigen Ausschreitungen , zuletzt im August. Die Roma sind die einzige Minderheit im Kosovo, die in keiner Region des Landes sicher ist. Es ist also komplett unakzeptabel, Roma ins Kosovo abzuschieben. Dennoch wollen die Bundesländer das weiter tun.
Eine Frage zum Klimawandel. Eine Studie der Böll-Stiftung und der Columbia Law School kommt zu dem Schluss, ein erfolgreicher Kampf gegen den Hunger ist nur möglich, "wenn die Klimapolitik ihre Folgen für das Menschenrecht auf Nahrung stärker berücksichtigt".
Der Klimawandel als solcher ist natürlich noch keine Menschenrechtsverletzung. Aber mit dem Klimawandel gehen Menschenrechtsverletzungen einher, denn das Recht auf Nahrung gehört zu den 30 Artikeln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Wir haben das häufig nicht im Blick, weil es nicht in erster Linie uns trifft, sondern die Menschen in den Ländern des Südens, die schon jetzt teilweise nur sehr eingeschränkten Zugang zu Trinkwasser haben und unter dürrebedingten Ernteausfällen leiden. Ein gutes Ergebnis bei der Weltklimakonferenz in Kopenhagen würde also durchaus zum Schutz der Menschenrechte beitragen.
Quelle: ntv.de, Mit Monika Lüke sprach Hubertus Volmer