Person der Woche: Boris Rhein Der Günther Jauch der deutschen Politik
08.08.2023, 10:56 Uhr Artikel anhören
Bundesinnenministerin Nancy Faeser will Hessen regieren, Grünen-Politiker Tarek Al-Wazir ebenfalls. Doch alles läuft derzeit auf den Mann hinaus, der schon Ministerpräsident ist: Boris Rhein. Der Christdemokrat wird lange unterschätzt, doch mit der Ampel-Krise im Rücken gewinnt der anfangs noch Verspottete an Profil.
Boris Rhein könnte der politische Aufsteiger des Jahres 2023 werden. Vor Kurzem noch als "Boris, wer?", "Mini-Wüst vom Main" oder rastloser Volksfest-Eröffner belächelt, macht sich der lange Zeit unterschätzte Ministerpräsident Hessens zu einem überraschend deutlichen Wahlsieg auf - mit einem Vorsprung, der es SPD und Grünen unmöglich macht, eine Regierungskoalition an der CDU vorbei zu bilden. Zwei Monate vor der Landtagswahl sagen Umfragen einen Wahlsieg von Rhein und seinen Christdemokraten voraus - und das, obwohl er gegen die SPD-Superprominenz Nancy Faeser und den beliebten Grünen-Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir antritt.

Boris Rhein beim Mittag: Wahlkampf-Zeit ist Currywurst-Zeit - ganz gleich, welche Partei.
(Foto: picture alliance/dpa)
Rhein galt vor Jahresfrist als gesetzter Verlierer. Mit Volker Bouffier war Deutschlands dienstältester Ministerpräsident abgetreten und der Spruch von den zu großen Schuhen verfolgte Rhein wie ein Fluch. Nach elf Jahren Roland Koch und zwölf Jahren Volker Bouffier ließ die Stimmung im Herzland der Republik ein Ende der CDU-Ära erwarten. Zumal die SPD eine selbstbewusste Bundesinnenministerin Nancy Faeser ins Rennen schickte, die erste Regierungschefin Hessens zu werden. Auch der im Land beliebte Wirtschaftsminister, Tarek Al-Wazir von den Grünen, rechnete sich lange Zeit Chancen aus. Wie sollte da der brave Jurist aus Nieder-Eschbach, der bereits mit dem Versuch gescheitert war, Frankfurter Oberbürgermeister zu werden, das Ding noch drehen?
Drei Umstände erklären das kleine Rhein-Wunder vom Main.
Erstens sorgte die unpopuläre Ampelpolitik in Berlin dafür, dass die Zustimmung für SPD, FDP und Grüne auch in Hessen regelrecht eingebrochen ist. Al-Wazir und seine Partei galten Ende 2022 noch als ernsthafte Kandidaten auf Platz eins, sind seither aber eingebrochen: Das Berliner Grünen-Debakel von Gasumlage über Atomausstieg, von Vetternwirtschaft bis zum Heizungshammer hinterlässt auch in Hessen tiefe Spuren. Selbst in ihren Hochburgen wie Darmstadt und Frankfurt erlitten die Grünen jüngst Wahlniederlagen. Die Ampel-zerzauste FDP kann froh sein, wenn sie in Hessen den Sprung ins Parlament überhaupt noch schafft. Und je schlechter die Ampelparteien dastehen, desto mehr steigt Rheins CDU im Ansehen. Das Brave an ihm wirkt plötzlich solide und verlässlich.
Zweitens macht Nancy Faeser einen entscheidenden Fehler im Kampf gegen Boris Rhein. Genau wie der CDU-Politiker Norbert Röttgen 2012 sagt Faeser nicht zu, auch dann in den hessischen Landtag einzuziehen, wenn sie nicht Ministerpräsidentin oder Ministerin wird. Seit der Landtagswahl in NRW 2012 ist in der Politik von der "Röttgen-Falle" die Rede, wenn Politiker im Fall des Falles ihren Posten in Berlin behalten wollen. Wählern vor Ort signalisieren sie damit, entweder nicht wirklich an einen Wahlsieg zu glauben oder die Wähler vor Ort nicht so wichtig zu nehmen wie einen Posten in Berlin. Beides ist für einen Wahlkampf fatal. Faeser wirkt seither im hessischen Wahlkampf wie eine aus Berlin einschwebende Biene auf der Suche nach dem schnellen Honig. Rhein hat sich die fehlende Bodenständigkeit Faesers systematisch zunutze gemacht und einen radikalen Basis-Umarmungs-Wahlkampf ohne Polarisierungen geführt. Er tingelt freundlich von Feuerwehrfesten zu Schützenvereinen und zu Kita-Eröffnungen, trinkt seine Schoppen, macht Witzchen und zeigt seinen Landsleuten demonstrativ: 'Ich bin bei euch!'. Als das Faeser-Lager daraufhin Rhein als provinziellen Grüß-Gott-August diffamieren wollte, taten sie ihm den zweiten Gefallen. Denn nun schlossen sich die Hessen-Reihen erst recht um den Ehrenamtsfestler, der kommt, um dem THW, dem Roten Kreuz, der DLRG und den Reservistenverbänden "einmal Danke zu sagen".
Drittens entpuppte sich die weich-konziliante Art Rheins zusehends als Trumpf in einer polarisierten politischen Stimmung. Mit seiner freundlich-ruhigen Mittigkeit hielt er die heikle schwarz-grüne Koalition in Wiesbaden (sie hat nur eine einzige Stimme Parlamentsmehrheit) leise zusammen. Die CDU-kritische "Frankfurter Rundschau" beschreibt seinen Stil so: "Rhein versteht seine Rolle im Kabinett eher als Moderator denn als Alleswisser und lässt seinen einzelnen Minister:innen viel Beinfreiheit." Rhein stehe für solides schwarz-grünes Regieren und eine "fast spießige Geräuschlosigkeit".
Tatsächlich ist Rhein beinahe vormodern bodenständig, er hat seinen Geburtsort nie verlassen, urlaubt in Österreich, leistet sich nicht einmal einen Doktortitel. Sein Hobby ist ohne jede Ambition zur Originalität "Fahrradfahren". Sein Frühstück würde jedem Ernährungsberater den Schweiß auf die Stirn treiben: "Marmelade, Nutella, Honig, Croissants, Butter, Baguette, weiß, kein Vollkorn!"
Doch Boris Rhein hat noch eine Eigenart, die ihn in Hessen zu einer Art "Günther Jauch der Politik" hat werden lassen: Rhein ist inzwischen berühmt dafür, sich ungern festzulegen, aber immer den Eindruck zu vermitteln, er kenne alle Antworten. Wie Jauch führt auch Rhein seinen Beruf weitgehend sokratisch über verschmitzte Fragen und jede Menge wissende Geduld. Wie Jauch verkörpert auch Rhein diese eigenartige Mischung aus heiterer Jungenhaftigkeit und leutseligem Konservativismus.
Rhein und Jauch könnten beide als gefühlt letzte Krawattenträger und Katholiken der Nation durchgehen und wenn Jauch selbst lebenslange Kollegen immer noch siezt, dann steckt dahinter genau jene gefühlte Altholzhaftigkeit, die Menschen auch bei Rhein belächeln und doch mögen. Rhein und Jauch amüsieren sich gerne über die peinliche Tapsigkeit von Überambitionierten. So passt es ins Bild, dass Rhein Johnny-English-Filme besonders mag. Mit dieser Art wird Rhein kaum Millionär, wahrscheinlich bleibt er aber weiter Ministerpräsident.
Quelle: ntv.de