
Blick über Dixcart Bay in Richtung Süden.
(Foto: privat)
Die Kanalinsel Sark ist eine Oase für Naturfreunde, Zivilisationsmuffel und Steuerverweigerer. Doch so kann es nicht weitergehen, notiert nun ausgerechnet die Stiftung des englischen Königs. Ihm gehört der Zwergstaat, der mitten in Europa und doch fernab unserer üblichen Zivilisation liegt.
Eine Reise auf die Insel Sark ist ein Ausflug in eine andere Welt. Schon wegen eines Märchenschlosses mit Garten, einem kleinen Urwald, einsamen Sandbuchten, Nixenfelsen und köstlichem Hummer. Vor allem aber ist Sark ein kurioser Zwergstaat. Nicht nur, dass der englische König eine Pacht von rund zwei Euro kassiert - pro Jahr. Auch das Inselvolk lebt auf einem bemerkenswert schmalen Fuß: Ohne Autos, Busse oder Bahnen, von Shopping Malls, Kinos oder Fast Food ganz zu schweigen. Konsum gibt es kaum - und entsprechend wenig Müll, Lärm und Treibhausgase.

Vor der Einfahrt zum Hafen von Sark passiert man den Leuchtturm, der heute einem Steuerflüchtling gehört. Der Bungalow darüber wurde auf einem alten Wehrmachtsbunker errichtet.
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Dabei ist das Ziel kein entlegener Felsen wie Sankt Helena im Südatlantik oder irgendein Kokospalmen-Paradies im Pazifik. Sark liegt im Ärmelkanal, also mitten in der westeuropäischen Nordsee, 60 Kilometer vor der französischen Küste. Trotzdem kann man sich dort fühlen wie an einem unendlich fernen Ort - und unendlich weit weg von unserer Zivilisation.
Die Hafenbehörde - also John und Yan
Das beginnt damit, dass Sark weder einen Flughafen hat noch einen Schiffshafen, der diese Bezeichnung verdient. Boote landen an einer Wand aus Beton, auf Englisch "jetty" - ein Steg. Bei schlechtem Wetter schlagen die Wellen dagegen und bedecken alles mit Wasser, so dass das Kommen und Gehen zur Schlitterpartie wird. Die Hafenbehörde und "Sark Shipping" - also ein Mann namens John und ein anderer namens Yan - stellen dann kurzerhand den Wasserverkehr ein. Die Tickets werden erstattet und die geplante Reise fällt ins Wasser.

Ein goldener Briefkasten für olympisches Gold: Carl Hester aus Sark gewann 2012 mit seiner Mannschaft im Dressurreiten.
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"Wer zu uns kommt, braucht ein anderes Zeitgefühl und bekommt eine andere Sicht auf die Welt", sagt Christopher Beaumont, seines Zeichens "23. Seigneur du Serqc". Was französisch klingt, ist der normannische Slang desselben. Die traditionelle Inselsprache, das "Sercquiaise", werde heute nur noch von drei alten Damen gesprochen.
"Zu wenige Leute bleiben für ein Leben und zu viele kommen von außen", sagt der Seigneur. Er weiß, dass es etwas gibt, das eine noch viel größere Anziehungskraft hat als die exotische Sprache. Er findet dafür das Wort "Unabhängigkeit" - und meint null Prozent Steuern auf Einkommen, Erbe, Kapitalerträge oder Umsätze. Mag Sark auch ein Paradies für Sprachforscher wie den Tschechen Martin Neudörfl sein, der gegenwärtig ein Wörterbuch erstellt - die Insel ist vor allem ein Geheimtipp für radikale Steuerverweigerer.
Ein Inselpolizist und Altglas im Meer

Der Turm der Seigneurie ist ein Wahrzeichen von Sark. Das Schlösschen entstand bereits im 16. Jahrhundert.
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Die Ursache liegt in einer erstaunlich kontinuierlichen Geschichte als normannischer Minifeudalstaat, der sich lediglich aus Grundbesitz finanziert hat. Die öffentliche Kasse bezieht daraus bis heute nicht mehr als rund zwei Millionen Euro Steuern. Damit muss sie eine Grundschule, den Jetty-Hafen, staubige Straßen, ein Gefängnis ohne Fenster, einen Inselpolizisten, eine Müllverbrennungsanlage und jemanden bezahlen, der regelmäßig Altglas ins Meer wirft.
Zu den Fixkosten zählen auch die Alimente für den Seigneur von rund 40.000 Euro. Damit wurde sein traditionell "dreizehnter" Anteil an Grundstücksverkäufen ersetzt. Die Umstellung geschah, "als die Demokratie ausbrach", wie es Beaumont formuliert. Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs muss das Inselparlament "Chief Pleas" seit 2008 gewählt werden, statt sich weiterhin aus Grundbesitzern zusammenzusetzen. Allerdings ist die Arbeit als Abgeordneter wenig begehrt, was die Zahl von gegenwärtig 16 zeigt - statt 28, wie ursprünglich geplant. "Wir haben zu wenige Kandidaten", sagt Beaumont. Zugleich mangelt es an Geld für Aufwandsentschädigungen, Büros und Mitarbeiter.

Die Landbrücke "La Coupée" verbindet Sark mit dem kleineren Little Sark. Sie wurde 1945 von deutschen Kriegsgefangenen befestigt; zuvor waren die Deutschen einige Jahre Besatzer.
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Für ein neues Steuermodell mangelt es unterdessen an einer Mehrheit. Dabei seien von rund 330 Wahlberechtigten auf der Insel nicht wenige dafür, dass wenigstens eine geringe Einkommenssteuer eingeführt werde, mutmaßt Paul Armorgie, der Sprecher des Sarker Parlaments. Nach eigenen Angaben zahlt er für sein Privathaus nicht mehr als 3000 Euro Steuern im Jahr. "Ich gebe zu, dass das nicht viel ist, wenn wir als Inselgemeinschaft insgesamt mehr leisten wollen", sagt Armorgie, der das "Stocks Hotel" führt. Es liegt in einer idyllischen Waldlichtung und ist das älteste und beste Gasthaus der Insel. 1979 kaufte es seine Familie, die es 2009 an eine andere Familie verkauft hat - steuerfrei, versteht sich.
Die Schattenseite eines Steuerparadieses

Das "Medical Centre", 1989 von der Queen eingeweiht, ist mehr eine Scheune als ein Krankenhaus.
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Dass es Sark an einer "fairen Besteuerung" mangelt, ist inzwischen auch von der "Prince's Foundation" notiert worden, einer Stiftung, die der englische König noch als Prinz ins Leben rief. Nachdem ein Team der Stiftung im April auf Sark war, um möglichst viele Insulaner über den Zustand der Insel zu befragen, liegt mittlerweile ein Bericht vor, der es in sich hat. Neben einer Reihe paradiesischer Vorteile, die der Mensch weder geschaffen noch zerstört hat, werden eklatante Probleme benannt, die genau genommen aus einem einzigen Manko resultieren: der leeren Staatskasse.
Sie erscheint wie die Schattenseite des Steuerparadieses: Die öffentliche Hand könne für nichts aufkommen, nicht einmal für die Reparatur der berühmten Landbrücke "La Coupée", die Sark im Süden mit Little Sark verbindet und die zusehend zerfällt. Das Fazit der Stiftung attestiert einen Bankrott: "Unzureichende Infrastruktur und Versorgung", "mangelhafte Maßnahmen für den Schutz der Inselnatur", "zu wenig Wohnraum", "unzureichender Zugang zur Gesundheits- und Sozialleistungen", "unzureichende Bildung", "fehlendes Vertrauen in die Verwaltung", um nur einige Punkte zu nennen.
"Würden wir Einkommen wenigstens ein bisschen besteuern, könnten wir uns eine Krankenversicherung für alle leisten", sagt Armorgie. Viele ältere und oft ärmere Inselbewohner müssten dann nicht bis ins hohe Alter arbeiten. Da es wenig Arbeit gibt, vermieten sie in den Sommermonaten häufig Fremdenzimmer. So wie Linda Williams, die in ihrem Zuhause auch die "Bed and Breakfast"-Unterkunft "Clos Princess" betreibt.

Barclay Castle: Ein Lego-Traumschloss in der Wirklichkeit. Die Zwillinge David und Frederick Barclay, die es vor 25 Jahren erbauen ließen, waren hier nicht lange glücklich.
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Einen Steinwurf entfernt hält Christopher Beaumont an der Nullsteuerpolitik fest: "Sie zieht neue und junge Menschen mit frischen Ideen auf unsere Insel." So wie den Deutschen Swen Lorenz, der sich als Finanz- und Anlageberater empfiehlt und im Web offensiv für das Steuerparadies Sark wirbt. Inzwischen soll Lorenz einen Immobilienfonds planen - leerstehende Häuser und verwaiste Grundstücke gibt es genug.
Die Ursachen für die Immobilienmisere, auf die auch die Stiftung ausführlich eingeht, sind unterschiedlich, je nachdem, wen man fragt. Während die einen angeben, nicht genügend Geld für Renovierungen zu besitzen, scheinen andere, die des Geldes wegen gekommen sind, kein Interesse an einem Leben auf der Insel zu haben.
Gerodete Weinfelder und eine Hotelruine
Dafür beispielhaft war eine Fehde, die sich seit der Jahrhundertwende abspielte, als die skurrilen Milliardäre und Zwillinge David und Frederick Barclay, die die Zeitung "Daily Telegraph" oder das Hotel "Ritz" besaßen, aus London kamen. Sie kauften viele Häuser und Ackerland auf Sark und wollten allem Anschein nach einen eigenen Staat gründen. Auf der Nachbarinsel Brecqhou bauten sie ein Fantasieschloss, das einem gigantischen Lego-Set ähnelt. Der Plan scheiterte, David Barclay verstarb 2021 - und das Schloss wäre längst verkauft, wäre es nicht dermaßen groß und extravagant, etwa mit zwei unterirdischen Schwimmbädern, eins mit Süß- und eins mit Salzwasser. Von der gescheiterten Revolution der Barclays zeugen heute gerodete Weinfelder und eine Hotelruine.
"Der Streit ist Geschichte", resümiert Beaumont auf der Sonnenterrasse seines Amtssitzes, der Seigneurie, dem prächtigsten Haus der Insel. Er reicht ein Gläschen "Cremant de Serq", den die Barclays vor zehn Jahren keltern ließen. Beaumont spricht mit der Geduld, die ihm in die Wiege gelegt wurde. Der heute 66-jährige Seigneur musste auf den Titel warten, bis sein Vater 2016 verstarb. Bis dahin hatte er in der britischen Armee als Ingenieur gedient, Brücken oder Zelte gebaut und Maschinen repariert. Heute macht er in Jeans und karierten Hemden ganz ähnliche Dinge und hat Freude, wenn ihn Besucher für einen Gärtner oder Handwerker halten.

Knie nieder, Vasall! Ein mittelalterlicher Akt, der sich im März 2024 wiederholen wird, wenn König Charles III. den Seigneur Christopher Beaumont besucht. 1978 schwor Vater Michael der Queen die Treue.
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Dabei ist Beaumont der erste Seigneur in einer mehr 550 Jahre währenden Tradition, der die Seigneurie mit ihrem herrlichen Garten so weit für die Öffentlichkeit geöffnet hat, dass dort geheiratet und übernachtet werden kann. Wenn im März 2024 allerdings König Charles III. zu Besuch kommt, wird er nicht über Nacht bleiben können. "Wir haben nicht genügend Geld, um ihn vollständig zu beherbergen", erklärt Beaumont mit einem müden Lächeln und hebt sein Glas.
Kommen und Gehen ohne Registrierung
Noch heute ist der Seigneur an einen Pachtvertrag gebunden, den ein gewisser Hellier de Carteret 1565 mit Elizabeth I. geschlossen hatte - nicht in ihrer Rolle als Königin von England, sondern als "Herzog der Normandie". Weil sich daran nichts geändert hat und der "23. Lehnsherr von Sark" weiterhin nach mittelalterlichem Recht ein feudaler Vasall des Herzogs ist, erhält er jedes Jahr aus dem Buckingham-Palast in London eine Rechnung über 1 Pfund und 79 Pence - und dazu den ausdrücklichen Hinweis "Please make payment within 30 days". Die Finanzlage mag es erfordern.
Ob sich Charles Sorgen um Sark macht, ist nicht bekannt. Für ihre Expedition und den Bericht soll seine Stiftung ein Honorar von rund 60.000 Euro bekommen haben. Bezahlt habe es eine Interessengruppe, erklärt der Seigneur. Es klingt ähnlich geheimnisvoll wie die alten Geschichten über "Sark Lark", was so viel bedeutet wie "Riesengaudi", die schließlich auf Drängen der britischen Regierung abgeschafft wurde. Um vom Steuerparadies Sark zu profitieren, hatten sich Unternehmen aller Art in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Scheinadressen gekauft und viele Inselbewohner zu Pseudogeschäftsführern gemacht, die in Wahrheit nichts anderes machten, als meistbietend Briefkästen zu vermieten. Dieses paradiesische Geschäftsmodell lässt der Bericht der Stiftung aus - obwohl es eine wichtige Vorgeschichte der heutigen Situation ist.
Unterdessen erzählt Paul Armorgie, der jetzige König habe ihm während seines letzten Besuchs vor zehn Jahren persönlich gesagt: "Lassen Sie sich von niemandem einreden, dass die Art, wie Sie auf Sark leben, falsch sei." Dazu gehört auch weiterhin, dass das Kommen und Gehen auf dem steuerlich autonomen Eiland nirgendwo registriert wird. Vorausgesetzt natürlich, die geplante Reise fällt nicht wieder ins Wasser.
Anreise: Per Schiff. Entweder mehrmals täglich in einer knappen Stunde von Saint Peter Port in Guernsey. Oder viermal pro Woche in einer guten Stunde von Saint Helier auf Jersey. Sark besitzt keinen Flughafen oder Heliport. Lufthansa fliegt nach Jersey. Nach Guernsey und zwischen den Inseln verkehren Aurigny und Blue Islands, allerdings ohne EU-Fluggastrechte, was eine Erwähnung wert ist, weil Flüge häufiger verspätet sind oder ausfallen. Eine besondere Empfehlung ist die Nachtfähre zwischen dem britischen Festland und Guernsey – wenigstens einmal.
Übernachten: Das rundherum beste Hotel der Insel heißt "Stocks" – mit herrlichem Garten und einem Außenpool. Es ist umgeben vom geheimnisvollen Wald des Dixcart Valley. Befand sich während der deutschen Besatzung in den Hotelgebäuden das Hauptquartier der Wehrmacht, war ihr ältester Teil lange Zeit zuvor ein Nest von Schmugglern – daran erinnert die "Smugglers' Bar". Zwei weitere, ebenfalls elegante Hotels, die im Stil der Normandie neu errichtet wurden, sind das "Dixcart Hotel" sowie "La Moinerie". Schöne Ferienwohnungen: Mr Hester's und Clos d'Iris, Pourquoi Pas und Clos a Joan. Wer zu Hotelpreisen im Zelt schlafen möchte, also gerne "glampt", liegt hier richtig.
Essen und Trinken: Statt der beiden Leoparden auf Sarks Flagge wäre der Hummer ein geeignetes Wappentier – aus kulinarischer Sicht. Er dominiert die Speisekarten vor Lamm, Rind und Huhn. Da Lebensmitteltransporte nach Sark teuer sind, stammen die meisten Zutaten direkt von der Insel – was das Ausgehen trotzdem nicht günstig macht. Geschmacklich und atmosphärisch lohnen sich "Hugo's Bar and Bistro" (im "Dixcart Hotel"), das Gartenrestaurant "Fleur du Jardin" und ganz besonders das "Hathaways."
Sehenswert ist Sark, weil es Sark ist – ohne asphaltierte Straßen und ohne Straßenlaternen, was die Nächte ungewöhnlich dunkel macht und der Insel 2011 den Titel "Dark Sky Island" einbrachte: Es tut sich ein unvergleichlicher Sternenhimmel auf. Am helllichten Tag fasziniert die Abwesenheit unserer von Marken geprägten Zivilisation. Bis auf eine winzige Filiale der Bank HSBC – wohl ein Muss für ein Steuerparadies – existiert keine einzige bekannte Marke. Es gibt einen einzigen Supermarkt (schließt um fünf). Wer sich bis dahin eingedeckt hat, kann in vielen Buchten picknicken. Besonders schön sind Dixcart Bay und La Grande Greve – der Strand neben dem 80 Meter hohen Verbindungsdamm "La Coupée", der "Sark" und "Little Sark" verbindet und kräftig bröckelt.
Quelle: ntv.de