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"Schlimmer als Fall Ben Johnson" Doping-Report zu Russland erschüttert Sport

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Dopingkontrollen dienten in Russlands Leichtathletik nicht dazu, Betrüger auffliegen zu lassen - sondern Schmiergelder von ihnen einzutreiben.

(Foto: REUTERS)

Staatliche Vertuschung, Einfluss des Geheimdienstes, systematische Betrugskultur: Der Doping-Bericht zu den Zuständen in Russland übertrifft schlimmste Erwartungen. Die russische Leichtathletik steht nun vor dem Olympia-Aus, der Weltsport vor einer Zerreißprobe.

Ausschluss von Olympischen Spielen, Verbannung aus dem Leichtathletik-Weltverband, Ächtung weltweit: Die Doping- und Betrugsaffäre in der russischen Leichtathletik weitet sich zu einem der größten Skandale der Sportgeschichte aus. Und sie soll drastische Folgen nach sich ziehen, fordert die der unabhängige Untersuchungskommission der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada bei Vorlage ihrer Ergebnisse unmissverständlich: Der russische Leichtathletik-Verband Araf soll wegen Nicht-Einhaltung des Anti-Doping-Codes aus dem Weltverband IAAF ausgeschlossen werden - als ultimatives Druckmittel, um den Dopingsumpf im eigenen Land trockenzulegen.

Den Sport stellt das auf höchster Ebene vor eine Zerreißprobe. Sollte die Wada das Maßnahmenpaket der Kommission übernehmen und offiziell an die IAAF und das Internationale Olympische Komitee weiterreichen, läge ein einzigartiger Vorgang in der Geschichte des Sports in der Luft: der Ausschluss eines kompletten Landesverbandes von internationalen Wettbewerben wie Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen.

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Die russischen 800-Meter-Läuferinnen Maria Sawinowa und Ekaterina Poistogowa gehören zu den Athleten, denen Doping vorgeworfen wird.

(Foto: dpa)

Der Druck auf IAAF und auch das Internationale Olympische Komitee (IOC) durch den Wada-Bericht ist enorm. In einer ersten Reaktion auf den Wada-Report stellte die IAAF prompt einen "provisorischen und kompletten Ausschluss" Russlands in Aussicht. IAAF-Präsident Sebastian Coe nannte die Information "alarmierend". Tatsächlich übertreffen die Untersuchungsergebnisse die schlimmsten Befürchtungen und lassen den großen Sportorganisationen wenig Spielraum für harmlose Sanktionen.

Systematische Dopingkultur im russischen Sport, Ausbeutung von Athleten, ein Korruptionsgeflecht mit der IAAF-Spitze und sogar das Mitwirken des russischen Geheimdienstes FSB: Die Wada-Kommission sieht es als erwiesen an, dass in der russischen Leichtathletik eine "tief verwurzelte Betrugskultur" geherrscht habe. Zudem bestätigte der Bericht Korruption und Bestechung auf höchster Ebene der IAAF.

Neben der Forderung nach dem IAAF-Aus für Russland empfahl die Kommission fünf Athleten sowie fünf Trainer auf Lebenszeit zu sperren. Das Kontrolllabor in Moskau soll geschlossen, dessen Direktor abgelöst werden. Dort wurden nicht nur Teststandards verletzt. Nachdem die Wada Zielkontrollen angeordnet hatte, sollen dort auch mehr als 1400 Dopingproben zerstört worden sein - ganz bewusst.

Verneigung vor den Whistleblowern

Die Arbeit der Doping-Ermittler unter Leitung des ehemaligen Wada-Präsidenten Richard Pound basierte auf ARD-Recherchen. Die waren, gestützt auf Bild-, Ton- und Schriftdokumente, am 3. Dezember 2014 in der TV-Dokumentation "Geheimsache Doping - Wie Russland seine Sieger macht" veröffentlicht worden. Nach den massiven Hinweisen auf staatlich unterstütztes Doping wurde wenig später die Untersuchungskommission eingerichtet, die ihre Untersuchung nun in einem Bericht mit dem gleichnamigen Titel vorstellte.

Das darf als Verbeugung vor den russischen Whistleblowern Julia und Dimitrij Stepanowa sowie den ARD-Rechercheuren Hajo Seppelt und Robert Kempe verstanden werden, denen Pound in Genf zu einem feinen Stück "investigativen Journalismus'" gratulierte. Denn die Antwort auf die Frage, wie russische Sieger in der Leichtathletik produziert werden, war nicht nur in der ARD-Dokumentation eindeutig: Die Kommission zeichnet in ihrem Bericht sogar noch ein düsteres Bild, auch bezüglich der konkreten Verwicklung von höchsten Stellen der Moskauer Regierung.

"Ich glaube nicht, dass es irgendeine andere mögliche Schlussfolgerung gibt", sagte Pound in Genf: "Sie können es nicht nicht gewusst haben." Vielleicht sei dies der "Rest des alten Systems der Sowjetunion", ergänzte Pound. Dem russischen Sportminister Witali Mutko, der auch der Exekutive im Fußball-Weltverband Fifa angehört, machen die Wada-Ermittler konkrete Vorwürfe. Er soll angeordnet haben, "bestimmte Dopingproben zu manipulieren". Dem russischen Geheimdienst wird attestiert, durch seine Anwesenheit in den Dopinglaboren eine Atmosphäre der Angst erzeugt zu haben.

In Russland sorgte der Wada-Report für Empörung. "Das ist eine politisch motivierte Erklärung aus der Reihe von Sanktionen gegen Russland", sagte Wladimir Ujba, Leiter des russischen Kontrolllabors. Für Pound ist der Olympia-Ausschluss Russlands hingegen alternativlos, falls das Land keine nachhaltigen Schritte aus dem Dopingsumpf unternehmen sollte: "Ich hoffe, sie haben verstanden, dass es Zeit zu handeln ist."

"Schlimmer als der Fall Ben Johnson"

Die Untersuchungsergebnisse seien "schlimmer, als wir gedacht haben". Demnach seien die Olympischen Spiele in London sabotiert worden, weil Dopingvergehen im Vorfeld der Wettbewerbe vom russischen Verband ARAF nicht sanktioniert wurden. Die russische 800-Meter-Olympiasiegerin Maria Sawinowa sollte lebenslang gesperrt werden, empfahl die Kommission. Neben Sawinowa sollen vier weitere russische Athleten wegen systematischen Dopings lebenslang gesperrt werden. Darunter befindet sich auch Ekaterina Poistogowa, die in London Bronze über 800 Meter gewonnen hatte.

Helmut Digel, früheres Councilmitglied des Leichtathletik-Weltverbandes, hält die Dopingaffäre in Russland und die Verwicklungen mit dem Weltverband für einen den Sport möglicherweise verändernden Skandal. "Dieser Skandal ist für die Leichtathletik noch viel schlimmer als der Fall Ben Johnson", meinte der Tübinger Sportsoziologe. Auch der Fifa-Skandal sei "dagegen harmlos".

Ermittlungen gegen Diaack

Die Kommissionsergebnisse hatten in der vergangenen Woche bereits Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen IAAF-Präsidenten Lamine Diack und weitere hochrangige Mitarbeiter des Weltverbandes nach sich gezogen. Der langjährige Präsident, der die IAAF von 1999 bis 2015 geführt hatte, steht unter Korruptionsverdacht. Er soll unter anderem russische Dopingfälle gegen Geldzahlungen vertuscht haben. Die französische Justiz hat Anklage gegen den 82 Jahre alten Senegalesen wegen Bestechlichkeit und Geldwäsche erhoben. Die Ethikkommission des Internationalen Olympischen Komitees empfahl kurz vor der Vorstellung des Wada-Resports die Suspendierung des IOC-Ehrenmitglieds.

Interpol hat im Zuge des Skandals derweil Ermittlungen in der russischen Leichtathletik aufgenommen. Die länderübergreifende Polizei-Behörde gab kurz nach der Präsentation in Genf bekannt, dass sie eine weltweite Untersuchung unter französischer Leitung koordinieren werde. Interpol nennt die Aktion "Operation Augias" - eine Anspielung auf die griechische Mythologie, in der Herakles im Rahmen seiner legendären zwölf Aufgaben den riesigen "Augias-Stall" ausmisten sollte.

Russland ist sich derweil keiner Schuld bewusst und wies die Forderung nach drakonischen Strafen für die eigene Leichtathletik in ersten Reaktionen als politisch motiviert zurück. Zugleich wies Sportminister Mutko darauf hin, dass die Wada zwar Empfehlungen aussprechen könne, aber niemanden selbst von Wettbewerben ausschließen könne. Tatsächlich obliegt diese Entscheidung den zuständigen Organisationen IAAF und IOC, sofern die Wada die Empfehlungen der Kommission offiziell bestätigt und an die Sport-Großorganisationen weiterleitet.

Beide Organisationen setzen jedoch einen mit dem Anti-Doping-Code übereinstimmenden Status aller Starter für die Teilnahme an den Wettkämpfen voraus. Eine zügige Entscheidung des IAAF ist trotz Alarmierung nicht zu erwarten. Präsident Coe teilte mit: "Wir benötigen Zeit, um die detaillierten Ergebnisse des Berichtes vollständig zu verarbeiten und zu verstehen."

Quelle: ntv.de, cwo/sid/dpa

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