
Unglaublich: Als dieses Foto von Mutaz Essa Barshim (links), seinem Sohn und Gianmarco Tamberi entsteht, läuft das WM-Finale im Hochsprung noch.
(Foto: REUTERS)
Europameister und Olympiasieger ist Gianmarco Tamberi schon geworden, bei der Leichtathletik-WM in Budapest gewinnt der italienische Hochspringer jetzt erstmals den Weltmeistertitel. Am Ende des Wettkampfs entstehen besondere Bilder, die eine außergewöhnliche Freundschaft verdeutlichen.
Noch bevor Gianmarco Tamberi den letzten Versuch eines denkwürdigen Hochsprung-Finals antreten kann, hat der frisch gekürte Weltmeister plötzlich ein fremdes Kind auf dem Arm. Wobei "fremd" wahrscheinlich etwas übertrieben ist, denn es handelt sich nicht um irgendein Kind, sondern den Sohn von Mutaz Essa Barshim: an diesem Abend entthronter Titelverteidiger und, viel wichtiger, enger Freund des neuen Weltmeisters. Mit im ersten Versuch übersprungenen 2,36 Meter hat Tamberi sich erstmals WM-Gold gesichert und will nun die Euphorie des Sieges nutzen, um sich an der neuen persönlichen Bestleistung von 2,40 Meter zu versuchen.
Dann aber gehört die Aufmerksamkeit in der Zielkurve des Budapester Leichtathletik-Stadions zunächst einmal dem kleinen Jungen im gelben T-Shirt. Barshim hat ihn in den Innenraum geholt und irgendwie ist es ihm gelungen, die Hochsprungmatte zu erreichen. Immer und immer wieder lässt er sich auf den weichen Schaumstoff fallen, um schnell wieder aufzustehen und von vorne zu beginnen. Stets begleitet von den Anfeuerungen und Jubelrufen des Publikums.
Auch Tamberi entgeht das nicht, und nun könnte sich der 31-Jährige natürlich aufregen und darüber echauffieren, dass die Hochsprunganlage mitten im Wettkampf plötzlich zum Spielplatz umfunktioniert worden ist. Stattdessen aber gesellt sich der Italiener zum Vater-Sohn-Duo, um zu dritt vor den versammelten Fotografen für ein einzigartiges Erinnerungsbild zu posieren. Kurz danach läuft Tamberi tatsächlich noch einmal an, taucht jedoch unter der Latte hindurch und dreht endgültig ab, um sich eine italienische Flagge zu schnappen und eine lange Partynacht zu starten. Der feierliche Schlusspunkt einer denkwürdigen Entscheidung.
Deutscher Hoffnungsträger Potye springt auf starken fünften Platz
"Ich wollte Geschichte schreiben und bei allen großen Wettkämpfen die Goldmedaille gewinnen", sagt Tamberi, der Olympiasieger von 2021 sowie Europameister von 2016 und 2022, anschließend: "Das Gefühl ist herausragend, all die Entbehrungen der vergangenen Jahre haben sich ausgezahlt." In Budapest zieht der exzentrische Ausnahmeathlet einmal mehr die Aufmerksamkeit auf sich, in der Kurve der Hochspringer wird es immer dann besonders laut, wenn er an seiner Ablaufmarke steht.
Nach einem Fehlversuch bei seiner Einstiegshöhe von 2,25 Meter liefert Tamberi dabei einen blitzsauberen Wettkampf ab, er überfliegt die nächsten Höhen allesamt im ersten Versuch: 2,29 - 2,33 - 2,36. "Ich habe einfach mein Bestes gegeben", sagt er, als wäre so einfach, woran die Konkurrenz nach und nach scheitert. Vier weitere Springer bewältigen die 2,33 Meter, darunter auch Tobias Potye, im Vorjahr Vize-Europameister hinter Tamberi. Es ist die zweitbeste Leistung seiner Karriere und dieselbe Höhe, mit der Barshim Bronze holt - ein einziger Fehlversuch macht den Unterschied, Potye wird deshalb "nur" Fünfter.
Einzig JuVaughn Harrison springt nach Tamberi noch über die 2,36 Meter, braucht dafür aber einen Versuch mehr. An 2,38 Meter scheitert der US-Amerikaner dreimal: Gold für den Italiener, Silber für Harrison. Tamberi sorgt unmittelbar darauf schon für die ersten Partybilder. Er springt über die Bande, taucht in den italienischen Block ein, der bei jedem seiner Versuche mit rhythmischem Klatschen dafür sorgt, dass alle im Stadion hinschauen.
Unglaublicher Moment bei Olympia in Tokio
Die Freude, mit der Tamberi zum Sieg springt, greift sogar auf die Konkurrenz über. "Ich bin glücklich, dass Tamberi gewonnen hat", sagt Barshim, mit drei Titeln Rekordweltmeister: "Es war die Medaille, die ihm noch gefehlt hat. Er hat es sich verdient, ganz oben auf dem Podium zu stehen." Auch der 29-Jährige aus Katar vervollständigte seine Sammlung, gewann nach Silber 2013 und Gold 2017, 2019 und 2022 nun erstmals WM-Bronze. "Wenn ich auf meine Karriere schaue, bin ich der einzige Hochspringer mit so einer Bilanz, das rührt mich beinahe zu Tränen." Dass "mein Sohn hier ist, macht das noch ein bisschen denkwürdiger", so Barshim.
Die Bilder des auf der Matte herum hüpfenden Kindes sind die nächste Episode in der außergewöhnlichen Rivalität zwischen Tamberi und Barshim. Ihren Platz in den Geschichtsbüchern des Sports sichern die beiden sich bei den Olympischen Spielen 2021. Im pandemiebedingt menschenleeren Stadion von Tokio nehmen sie im Gleichschritt alle Höhen bis 2,37 Meter im ersten Versuch, scheitern dann dreimal an 2,39 Meter. Als der Kampfrichter das Stechen erläutern will, um den Gleichstand aufzulösen, entsteht ein Video, das seitdem weltweit millionenfach abgespielt wurde.
Ob "zwei Goldmedaillen" denkbar wären, fragt Barshim darin, der Offizielle überlegt kurz, antwortet dann "das ist möglich". Barshim und Tamberi schauen sich an, scheinen sich ohne Worte zu verständigen. "Wenn ihr euch dazu entscheidet ...", leitet der Kampfrichter noch ein, aber die Entscheidung ist längst gefallen. "Das ist Geschichte", sagt Barshim, während Tamberi ausholt, um auf die Einigung einzuschlagen. Dann fallen sich die beiden Hochspringer, die in diesem Moment zu zwei Olympiasiegern werden, in die Arme.
Ganz so dramatisch endet der Wettkampf in Budapest zwar nicht - eine besondere Erinnerung kreieren die beiden aber auch diesmal. Und vielleicht erinnert sich auch Barshims Sohn irgendwann einmal daran, wie er mitten in einem WM-Finale plötzlich auf der Matte spielen durfte.
Quelle: ntv.de