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DLV holt erstmals keine Medaille Tieftrauriger Weber vollendet deutsches WM-Debakel

An der Medaille vorbei: Julian Weber.

An der Medaille vorbei: Julian Weber.

(Foto: REUTERS)

Bis 2028 soll Deutschlands Leichtathletik wieder zu den Top Fünf der Welt gehören. Die WM in Budapest gerät jedoch zum Debakel: Erstmals gewinnt ein deutsches Team keine einzige Medaille. Speerwerfer Julian Weber vergibt die letzte Chance. Die Probleme gehen jedoch weit über Einzelleistungen hinaus.

Ein bisschen wirkte es, als müsste Julian Weber erst einmal kurz sacken lassen, was da gerade am letzten Abend der Leichtathletik-Weltmeisterschaften passiert war. Schließlich hatte sich der amtierende Europameister mit dem klaren Ziel nach Budapest aufgemacht, endlich seine erste Medaille auf Weltebene zu gewinnen. Sein Speer jedoch flog in der ungarischen Hauptstadt nur 85,79 Meter weit. Platz vier. Schon wieder. Wie schon 2021 bei den Olympischen Spielen von Tokio und 2022 bei der WM in Eugene. Nach seinem letzten Wurf sank Weber zunächst geschlagen auf den Boden, ehe er seine Tasche packte und sich auf den Weg vor die Mikrofone machte.

Ganz langsam schritt er durch den Stadiongraben, der die Aktiven von den Zuschauerinnen und Zuschauern trennte. Immer wieder blieb der 28-Jährige stehen, schrieb geduldig Autogramme, posierte für Fotos. "Wenn die Fans schon hier im Stadion sind und einen anfeuern", erklärte Weber seinen Spaziergang, "dann will ich auch ihnen gerecht werden." Eine lobenswerte Einstellung nach einem Wettkampf, dessen Ergebnis ein Debakel endgültig gemacht hatte: Die 19. Leichtathletik-WM ist die erste, bei der die deutsche Mannschaft keine einzige Medaille gewonnen hat.

"Ich bin enttäuscht", sagte Weber über seine persönliche Leistung, mit der er hinter Neeraj Chopra (Indien/88,17), Arshad Nadeem (Pakistan/87,82) und Jakub Vadlejch (Tschechien/86,67) Vierter geworden war. Es war das beste Einzelresultat für den Deutschen Leichtathletik-Verband, der gemessen am Medaillenspiegel das mieseste Resultat seiner Geschichte verkünden musste.

DLV-Präsident Jürgen Kessing sprach vom "Worst Case", während der erst im März verpflichtete Sportdirektor Jörg Bügner konstatierte, dass die Deutschen "den Anschluss an die Weltspitze verloren" haben. Das war in den 49 Finals von Budapest offensichtlich geworden.

Frankreich schafft, was Deutschland nicht gelingt

Speerwerfer Weber war als letzte Medaillenhoffnung des DLV in seinen Endkampf gegangen "und vielleicht hat das unterbewusst auch ein bisschen mit reingespielt", wie er anschließend sagte. "Aber eigentlich war ich einfach nur motiviert, hatte Bock und war gut drauf." Trotzdem blieb er rund drei Meter unter seiner Jahresbestleistung. Zu wenig, um die deutsche Mannschaft nach schweren Tagen und immer lauter werdenden Diskussionen um den gewachsenen Abstand zu den Weltbesten doch noch zu erlösen.

Wie diese Erlösung ausgesehen hätte, konnte Weber auf den letzten Metern seines Spaziergangs aus nächster Nähe mit anschauen: Als er gerade den Zielraum erreichte, von dem aus eine Treppe vor die TV-Kameras führt, brach dort und auf der Tribüne lauter französischer Jubel aus. Die 4x400-Meter-Staffel der Männer hatte sensationell Silber hinter den übermächtigen USA gewonnen - und damit den Gastgeber der Olympischen Spiele 2024 davor bewahrt, das Schicksal der Medaillenlosigkeit mit den Deutschen zu teilen.

"Ich werde mich jetzt erstmal mit meiner Leistung beschäftigen und analysieren, was ich da gemacht habe", sagte Weber, der das richtige "Feeling" in seinen sechs Versuchen vermisste und mit der Position der Abwurflinie haderte. Die war nicht wie sonst direkt an der Rasenkante aufgezeichnet, sondern einige Meter davor. "Das fühlt sich an, als würde man in der Mitte vom Tartan abwerfen. Das ist für mich einfach Horror." Zwar habe er sich bemüht, diese Ablenkung auszublenden, "aber es hat nicht so ganz funktioniert." Der frühere Handballer "hätte sehr gerne die Medaille geholt", zumal er "wusste, dass ich mehr drauf habe. Aber es bringt jetzt auch nichts mehr, das zu sagen."

Selbst Top-Leistungen reichen deutschen Athleten nicht

Und so taucht Deutschland erstmals bei einer Leichtathletik-WM nicht im Medaillenspiegel auf. 46 Nationen weist der finale Stand von Budapest als Gewinner von Gold, Silber oder Bronze aus, darunter etwa die Britischen Jungferninseln (zum ersten Mal überhaupt), Barbados und Grenada. Drei Länder mit zusammengenommen rund 435.000 Einwohnern, das sind etwas mehr als in Berlin-Pankow, dem größten Bezirk der Bundeshauptstadt.

Angesichts dieser miserablen Bilanz auf den ersten Blick überraschend: Dem allergrößten Teil der deutschen Mannschaft bei dieser WM ist kaum ein Vorwurf zu machen. Die Mehrheit der Starterinnen und Starter präsentierte sich im Vergleich zu den Vorleistungen mindestens respektabel, zeigte auf individueller Ebene gute Wettkämpfe. Nur reicht, was deutsche Spitze ist, im globalen Maßstab kaum noch für ganz vorne.

Die 4x400-Meter-Staffel der Männer beispielsweise lief in 3:00,67 Minuten so schnell wie seit 1995 kein deutsches Langsprint-Quartett - und schied trotzdem im Vorlauf aus. Zehnkämpfer Leo Neugebauer sammelte nicht nur viele Sympathien, sondern auch herausragende 8645 Punkte. Er stellte damit sogar einen inoffiziellen "Weltrekord" auf: Nie zuvor hatte ein solches Ergebnis nur zu Platz fünf gereicht, bei 16 von 18 vorherigen Weltmeisterschaften wäre der 23-Jährige damit auf dem Podium gelandet. U23-Europameisterin Olivia Gürth lief im Finale über 3000 Meter Hindernis als 14. in 9:20,08 Minuten auf Rang vier der ewigen deutschen Bestenliste - doch selbst der DLV-Rekord von Gesa Krause hätte nicht für die Top Drei gereicht.

Der "Ist-Zustand" ist nicht gut genug für die Besten der Welt

Geher Christopher Linke stellte über 20 und 35 Kilometer sogar zwei neue deutsche Bestmarken auf und wurde dennoch zweimal "nur" Fünfter. Der deutsche Teamkapitän sah daher nicht, "dass wir aktuell zu schlecht sind. Vielleicht ist die internationale Konkurrenz einfach nur stark." Auch Teamkapitänin Gina Lückenkemper sprach im Gesamteindruck von "sehr, sehr guten Leistungen, die aller Ehren wert sind." Allerdings reicht das nicht, um mit der international "extremen Leistungsentwicklung" mitzuhalten.

Ausdruck dieser Steigerungen über nahezu alle Disziplingruppen hinweg sind gleich sechs neue Weltmeisterschaftsrekorde, also Leistungen, die zuvor noch nie bei einer WM erzielt wurden: bei den Männern im Kugelstoßen und Diskuswerfen, bei den Frauen über 100, 200 und 4x100 Meter sowie im 35-Kilometer-Gehen. Den einzigen Weltrekord gab es in Budapest in der Mixed-Staffel über 4x400 Meter, einem sehr jungen Wettbewerb, der bei der WM 2019 erstmals bei globalen Titelkämpfen ausgetragen worden war.

"Wir müssen schauen, wie wir in Zukunft die Distanz zur Weltspitze überwinden können", sagte Sportdirektor Bügner in seiner Analyse während der DLV-Pressekonferenz wenige Stunden vor den letzten WM-Entscheidungen. Mit dem allgemeinen Abschneiden, dem "Ist-Zustand" der deutschen Leichtathletik, sei er "nicht zufrieden". Ein Abrücken vom Ziel, bis zu den Olympischen Spielen 2028 wieder den Top Fünf der Welt anzugehören, schloss er aus. Er sei jedoch nach einem knappen halben Jahr im Amt noch dabei, sich "einen noch tiefergehenden Einblick" in den "komplexen Verband" und dessen Strukturen verschaffen zu müssen.

Deutschland liegt knapp vor Norwegen und knapp hinter Japan

Keinerlei öffentliche Wortmeldungen waren rund um die Wettkämpfe von Budapest indes von Idriss Gonschinska zu vernehmen, dem DLV-Generaldirektor. Der 54-Jährige ist seit 2008 hauptamtlich beim Verband angestellt, über die Jahre zum wohl mächtigsten Entscheider aufgestiegen und somit maßgeblich verantwortlich für die Strukturen, die im Weltmaßstab aktuell offenbar wenig Erfolg versprechen.

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Zumindest aber endete die WM für den DLV mit einem ganz kleinen Aufwärtstrend. Denn Julian Weber sorgte bei aller Enttäuschung über die verpasste Medaille zumindest für den 13. Top-Acht-Platz in Budapest, vor Jahresfrist in Eugene waren es nur sieben gewesen. Im "Placing Table", der neben den Medaillenrängen auch alle weiteren Top-Acht-Ergebnisse abbildet, liegt die deutsche Mannschaft immerhin auf Platz zwölf. Knapp vor Norwegen und knapp hinter Japan, mit deutlichem Abstand auf die davor platzierten Niederlande.

Deren Superstar Femke Bol stürmte im letzten Finale dieser WM, den 4x400 Metern der Frauen, mit einer unfassbaren Zielgeraden zu ihrem zweiten Gold und ließ das Stadion begeistert zurück, als sie im Schlussspurt an der vermeintlich enteilten Staffel Jamaikas vorbeizog.

Julian Weber hatte da schon geduldig zahlreiche Fragen beantwortet, ehe er darauf angesprochen wurde, als Speerwurf-Vierter die beste DLV-Platzierung dieser WM erzielt zu haben. Was ihm nur ein wenig euphorisches "Immerhin" entlockte, bevor er sich freundlich verabschiedete und sich in die ungarische Nacht aufmachte.

Quelle: ntv.de

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