
Vier Europameisterinnen, vier besondere Geschichten.
(Foto: IMAGO/Beautiful Sports)
Am Dienstag sitzt Gina Lückenkemper noch im Krankenhaus, muss eine klaffende Wunde nähen lassen. Jetzt beschert sie der Leichtathletik-EM den perfekten Abschluss aus deutscher Sicht. Die 4x100-Meter-Staffel der Frauen holt Gold - und vereint vier ganz individuelle, erzählenswerte Geschichten.
Gfreidi gibt noch einmal alles, aber ehrlich gesagt könnte sich das tanzende Eichhörnchen die Mühe sparen. Nach der letzten Entscheidung dieser European Championships läuft das plüschig-sympathische Maskottchen mit einer riesigen "Get Loud"-Flagge über die Laufbahn des Olympiastadions, die Lautstärke hat da allerdings längst das Maximum erreicht. Über 4x100 Meter der Frauen fliegt das deutsche Quartett über die Stadionrunde und als Rebekka Haase über die Ziellinie sprintet, ist es im kollektiven Jubel nahezu unmöglich, das eigene Wort zu verstehen. Es ist der ziemlich sicher lauteste Moment der sieben stimmungsvollen Tage bei den Leichtathletik-Europameisterschaften in München.
Die 42,34 Sekunden sind die emotionale Krönung einer Staffel, deren vier ganz unterschiedliche Leidensgeschichten diesen Triumph für Alexandra Burghardt, Lisa Mayer, Gina Lückenkemper und Rebekka Haase besonders emotional werden lassen. Sie gewinnen am Ende vor Polen (42,61 Sekunden) und Italien (42,84 Sekunden), die Britinnen scheiden nach der schnellsten Vorlaufzeit aufgrund eines Wechselfehlers früh aus. Damit ist der Weg frei für die Auswahl des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, der sich mit der siebten Goldmedaille zugleich Platz eins im Medaillenspiegel dieser EM sichert.
Aber zurück zu den besonderen Geschichten hinter diesem Lauf zum Titel. Für Gina Lückenkemper, den anhand der Jubellautstärke bei der Athletinnenvorstellung eindeutigen Liebling der über 40.000 Menschen im Stadion, ist es schon ein Erfolg, überhaupt an diesem Sonntagabend auf der Bahn zu stehen. "Es ist einfach unfassbar geil", sagt sie am Stadionmikrofon, auch wegen der Ungewissheit der Vortage.
Am Dienstag schmeißt sich die 25-Jährige im 100-Meter-Finale ins Ziel, wird sensationell Europameisterin, gerät aber auch folgenschwer aus dem Gleichgewicht. Mit den Spikes des rechten Fußes reißt sie sich das linke Knie auf und muss unmittelbar erstversorgt werden. Während die Risswunde behandelt wird, stimmt Lückenkemper breit grinsend und auf einem Stuhl sitzend die La-Ola-Welle an - danach allerdings geht es in die Notaufnahme.
Aufregende Zeit im Krankenwagen
Der schmerzhaft tiefe Schnitt am Knie muss mit acht Stichen genäht werden, erst nach 1 Uhr in der Nacht kommt sie wieder im Mannschaftshotel an. Am Mittwoch sitzt Lückenkemper in der Pressekonferenz und muss sich nach deren Ende beim Aufstehen mit beiden Händen abstützen, um wieder auf die Beine zu kommen.
Zwar erzählt sie freudig davon, wie aufregend die erste Fahrt mit dem Krankenwagen und der erste Besuch in der Notaufnahme waren, sagt aber auch, dass der Staffelvorlauf am Freitag auf jeden Fall zu früh kommt. Jessica-Bianca Wessolly rückt auf, auch ohne ihren Superstar erreicht das DLV-Quartett den Endlauf. Am Samstagabend verkündet der Verband offiziell, dass die Wunde ausreichend verheilt, dass die schnellste Frau Europas für das Finale bereit ist.
In diesem Finale bringt Lückenkemper die deutsche Staffel auf Position drei nach vorne, übergibt in Führung liegend an Rebekka Haase. Beide verbindet eine enge Freundschaft, bei großen Meisterschaften teilen sie sich oftmals ein Zimmer. Nach den Olympischen Spielen von Tokio im vergangenen Jahr aber findet sich Haase in einem tiefen Loch wieder.
"Du bist zu nichts mehr in der Lage"
Alltägliche Aufgaben erscheinen ihr unmöglich, selbst der Weg zum Kühlschrank fällt ihr schwer. "Du bist zu nichts mehr in der Lage", sagt die 29-jährige Haase vor wenigen Tagen der "Sportschau": "Ich konnte mental nicht mehr." Sie lässt die Hallensaison aus, holt sich psychologische Hilfe und schafft die Rückkehr in das aufreibende Leben als Hochleistungssportlerin. Auf ihrem Teilstück, sagt sie, habe sie "nur das Stadion gehört. Ich danke jedem Einzelnen, der heute hier war."
Eine Comeback-Story kann auch Lisa Mayer erzählen, die als frisch gekürte Europameisterin vor der Haupttribüne auf die Bahn sinkt, weil Tränen der Freude, der Erleichterung, der Erlösung sie erfassen. "Absolute Leere", sagt sie, habe sie in diesem Moment gefühlt: "Das ist so überwältigend an Emotionen." Erst wenige Tage vor der EM gelingt ihr der Sprung ins deutsche Aufgebot.
Die heute 26-Jährige arbeitet sich seit Jahren immer wieder zurück, weil ihr Körper nach Pausen verlangt. Exemplarisch dafür sind die Olympischen Spiele im vergangenen Jahr, für die sie sich mit persönlicher Bestzeit qualifiziert - bevor sie mit muskulären Problemen noch vor Beginn der Wettkämpfe wieder abreisen muss. Für München empfiehlt sie sich beim allerletzten Meeting vor der endgültigen Nominierung und läuft auf der zweiten Position zwei starke Rennen.
Burghardt geht freiwillig aufs Glatteis
Für den Auftakt im Vorlauf und im Finale ist Alexandra Burghardt verantwortlich. Nach Jahren der Stagnation entschließt sie sich Anfang 2020 zu einem Neuaufbau, um das unzweifelhaft vorhandene große Potenzial endlich freizusetzen. 2021 gelingt ihr schließlich der Durchbruch, auf den sie so lange gewartet hatte. Bei den Deutschen Meisterschaften gewinnt sie das Double über 100 und 200 Meter, ihre ersten Einzeltitel bei den Erwachsenen. Bei Olympia in Tokio gewinnt sie ihren Vorlauf und wird am Ende in der Addition der drei Halbfinals immerhin Elfte.
Anschließend tauscht Burghardt die Laufbahn gegen den Eiskanal, als Anschieberin von Mariama Jamanka debütiert sie Ende November 2021 im Zweierbob-Weltcup. Wenig später gelingt die Qualifikation für die Winterspiele in Peking. Dort feiert Burghardt den bis zu diesem Staffelfinale von München größten Erfolg ihrer Karriere. Mit Olympia-Silber kehrt sie aus China zurück und bekommt anschließend dafür das Silberne Lorbeerblatt verliehen, die höchste sportliche Auszeichnung der Bundesrepublik Deutschland.
Danke auch an die, die nicht gelaufen sind
Danach kehrt sie zum leichtathletischen Sprint zurück - wo sie sich nun nicht allzu weit entfernt von ihrem Geburtsort in Oberbayern zur Europameisterin krönt. "Es ist wirklich fast wie ein Märchen", fasst sie anschließend im ZDF zusammen, wie sich dieser Moment nicht nur für sie anfühlen dürfte.
So emotional dieser Europameisterschaftstitel für die vier Sprinterinnen ist, so sehr denken sie im Moment des Triumphs auch an die, die noch unmittelbar dazu beigetragen haben. "Das ist unfassbar", beschreibt Mayer im selben Interview ihre Gefühle, "aber ich glaube, an dieser Stelle sollte ich auch Tatjana (Pinto; Anm. d. Red.) nennen, die vielleicht eigentlich hier gestanden hätte, aber leider verletzungsbedingt nicht laufen konnte (...), aber auch Jessica Wessolly aus dem Vorlauf, die einen grandiosen Job gemacht hat" sowie die Ersatzläuferin "Lisa Nippgen, die unser Team auch unterstützt hat".
Danach fasst Mayer, die immer wieder sichtbar mit den Tränen kämpft, es so zusammen: "Also, das war wirklich heute eine Teamleistung." Eine Teamleistung mit ganz besonderen Vorzeichen, mit ganz individuellen und außergewöhnlichen Geschichten. Geschichten, die in einer Ehrenrunde gipfeln, angefeuert vom Applaus der mehr als 40.000, der gar nicht mehr enden will.
Quelle: ntv.de