
Nils Schumann konnte seinen Triumph bei den Olympischen Spielen 2000 selbst kaum glauben.
(Foto: imago/WEREK)
Mit der Forderung, Doping freizugeben und den Spitzensport zum Test neuer leistungssteigernder Mittel zu nutzen, sorgt Nils Schumann vor Jahren für Aufsehen. Jetzt tritt der 800-Meter-Olympiasieger einen Job beim Deutschen Leichtathletik-Verband an - und erklärt sich gegenüber ntv.de.
Eigentlich möchte Nils Schumann nur noch ungern über die Aussagen sprechen, die er vor einigen Jahren in seinem Buch "Lebenstempo" getroffen hat. Auf Anfrage von ntv.de sagt der vielleicht auf ewig letzte deutsche Mittelstrecken-Olympiasieger, der sich mit seinem sensationellen Sieg über 800 Meter bei den Sommerspielen 2000 in Sydney unsterblich gemacht hatte: "Immer wieder über das Thema Doping und Anti-Doping-Kampf zu sprechen, ist für mich nach dem Erscheinen des Buches 2016 sehr ermüdend geworden." Mit vielfach kritisierten Aussagen hatte Schumann damals für Aufsehen gesorgt.
Weil der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) den 46-Jährigen jetzt als neuen Bundesstützpunkttrainer präsentiert hat, ist die Diskussion um das Buch und die darin formulierten Ansichten neu entbrannt.
Vom DLV heißt es auf Nachfrage, Schumann habe "seine früheren Aussagen zur Freigabe von Dopingmitteln längst zurückgenommen und dies in einer persönlichen Erklärung gegenüber dem DLV festgehalten", die dann sogar wörtlich zitiert wird: "Ich lehne Doping ab. Als Athlet und Trainer habe ich stets die Anti-Doping-Richtlinien befolgt und werde weiterhin die Statuten der WADA und NADA beachten." Ohnehin könne für den Verband "nur als Trainer tätig werden, wer den DLV-Ehrenkodex einhält, in dem unter anderem Doping strikt abgelehnt wird." Schumann habe überdies auch in persönlichen Gesprächen bekräftigt, "dass er den Anti-Doping-Kampf unterstützt, seine früheren Aussagen keinen Bestand haben und er den DLV-Ehrenkodex befolgt".
Es gibt keinerlei Grund, an diesen Bekenntnissen zu zweifeln - und doch würden viele gerne vom einstigen Mittelstreckenläufer selbst hören, dass er sich zu dem verhält, was in "Lebenstempo" steht. Mit seinem dank eines herausragenden Schlussspurts errungenen Olympiasieg wurde der damals 22-Jährige zum Star, anschließend als "Deutschlands Sportler des Jahres" ausgezeichnet und zu "Wetten, dass?" eingeladen. Die Sendung im Oktober 2000 verfolgten damals mehr als 12 Millionen Menschen vor den TV-Bildschirmen. Alte Zeiten.
Leichtathletik ist regelmäßig von Dopingfällen betroffen
Zurück in die Gegenwart: "Ausführlich Stellung beziehen" möchte Schumann zwar nicht, aber er erklärt sich gegenüber ntv.de bereit, "in aller Kürze" einmal festzuhalten, was ihm wichtig ist. Er habe die "zum Teil sehr provokanten Thesen" in seinem Buch "aus einem Gefühl der Frustration und Machtlosigkeit heraus" formuliert. Ein Gefühl, das viele, die es mit der Leichtathletik halten, teilen dürften - immer und immer wieder erschüttern prominente Dopingfälle die Glaubwürdigkeit der olympischen Kernsportart: Mehr als 50 Medaillen der Spiele 2000, 2004, 2008 und 2012 sind inzwischen neu vergeben worden, weil die ursprünglichen Gewinnerinnen und Gewinner des Dopings überführt wurden.
"Das Anti-Doping-System verlangt sehr viel von den Athleten", sagt Schumann, und spielt damit unter anderem auf die Pflicht für deutsche Spitzenleichtathleten an, für jeden Tag des Jahres ihren Aufenthalts- und Übernachtungsort und ein 60-minütiges Zeitfenster zu nennen, in dem sie für eine Dopingkontrolle anzutreffen sind. Trotzdem hat es dieses System "in der Vergangenheit oft nicht wirklich geschafft, für faire Bedingungen im internationalen Vergleich zu sorgen". Die ehemalige deutsche Kugelstoßerin Nadine Kleinert ist ein Musterbeispiel dafür, sie ist nach eigenen Angaben schon 15-mal in Ergebnislisten vorgerückt, weil Konkurrentinnen nachträglich disqualifiziert wurden. "Ich habe aufgehört, zu zählen", sagte die (inzwischen) Olympia-Zweite von 2004 einmal dazu.
Schumann sieht den Anti-Doping-Kampf noch immer nicht gut genug aufgestellt: "Zu groß sind die Unterschiede bei unangemeldeten Trainingskontrollen im Ländervergleich", dazu kommen in seiner Wahrnehmung "zu viele Fälle der Korruption und Ungleichbehandlung von Doping-Sündern". Er scheint sich darüber eine größere, auch öffentliche Debatte zu wünschen, sieht dabei jedoch auch das Risiko, "öffentlich gebrandmarkt zu werden". Eine Schlussfolgerung, die er auch aus der Rezeption seines Buches gezogen zu haben scheint: "Es war schon bezeichnend, dass dieses Thema alle anderen Inhalte des Buches [...] medial so überlagert hat."
"Ketzerisch gefragt, was ist eigentlich so schlimm?"
Was jedoch offen gesagt beim Blick in die meist zitierten der insgesamt 320 Seiten nicht allzu verwunderlich ist. "Wenn wir wirklich klare Verhältnisse wollen, dann bleibt uns nur die Freigabe aller leistungssteigernden Mittel", schrieb Schumann in "Lebenstempo", damit "würde der Leistungssport neu an Dynamik gewinnen". Neue Präparate könnten an Sportlerinnen und Sportlern erprobt werden, wie "in der Formel 1 neue Bremsbeläge und Reifen Anwendung finden, bevor sie, wenn sie sich bewähren, in die Serienproduktion wandern". Gedopte Leistungssportler würden "zu Helden, die für unser aller Wohl Leben und Gesundheit riskieren", hieß es weiter.
Als eine Art Fazit formulierte Schumann: "Aber was ist, ketzerisch gefragt, an Doping eigentlich so schlimm? Warum sollte man es nicht genauso legalisieren [...] wie Cannabis?" Er beantwortete diese Fragen unter anderem selbst mit: "Ja, Doping kann für einen Leistungssportler, zumindest relativ gesehen, sogar gesund sein. Denn wer dopt, muss sich weniger anstrengen, um dasselbe zu erreichen." Kurzum: "Ich würde das gesamte Anti-Doping-Kontrollsystem in die Mülltonne treten. Das verursacht nur Kosten und hat noch nie seine Aufgabe erfüllen können."
Schon unmittelbar nach der Veröffentlichung waren Schumanns Äußerungen scharf kritisiert worden. Fritz Sörgel, einer der renommiertesten Doping-Experten des Landes, bezeichnete sie gar als "fatal", denn "damit würde eine neue Dopingszene geschaffen werden." Er empfahl dem ehemaligen Leistungssportler sogar mit deutlichen Worten, "lieber wieder im Kreis herum" zu laufen, "dass Ihnen der Atem zum Schwadronieren wegbleibt. Die vielen Menschen, die an den Folgen Ihrer Welt des Sports leiden würden, danken's Ihnen."
Es sind sogar so viele, dass es in Deutschland einen eigenen Verein dafür gibt: den Doping-Opfer Hilfe e.V., gegründet im März 1999. Der Name ist selbsterklärend und der Verein maßgeblich daran beteiligt, dass inzwischen mehr als 15 Millionen Euro Entschädigung an Dopingopfer ausgezahlt worden sind, in erster Linie jene des DDR-Zwangsdopings. Auf der Webseite der Doping-Opfer-Hilfe gibt es eine scheinbar endlose Liste anonymer Sportlerinnen und Sportler, die mit Disziplinen, Erfolgen und vor allem den Folgen des Dopings aufgeführt sind: Fehlgeburten, Wirbelsäulenschäden, Depressionen, Krebserkrankungen, Todesfälle.
"Lebenstempo"-Gedankenspiele sind Vergangenheit
Auch aus diesen Schicksalen heraus hat der Deutsche Leichtathletik-Verband seine klare Anti-Doping-Haltung entwickelt, die auch gegenüber ntv.de noch einmal betont wird: "Der DLV positioniert sich seit Jahren klar gegen Doping", deshalb "trug er maßgeblich zur Einführung des Deutschen Anti-Doping-Gesetzes bei und setzt sich für fairen, sauberen Sport ein". Auf der Verbandswebseite heißt es weiter, "die Bekämpfung des Dopings zum Zweck der Leistungsmanipulation ist [....] oberstes Gebot" und mit Präventionsarbeit tue der DLV sein Möglichstes, um "das Dopingproblem bereits in seiner Entstehung zu verhindern".
Diesen Worten hat sich jetzt auch Nils Schumann ganz offiziell verpflichtet. In seiner Funktion als "Bundesstützpunkttrainer Nachwuchs Disziplingruppe Lauf/Gehen am Bundesstützpunkt Erfurt" soll er dazu beitragen, dass die deutsche Leichtathletik wieder den Anschluss an die Weltspitze findet - für die Olympischen Sommerspiele 2028 hat der DLV das ambitionierte Ziel formuliert, wieder zu den Top 5 zu gehören.
Die Gedankenspiele aus dem Buch "Lebenstempo" lässt er dafür jetzt auch öffentlich hinter sich: Schumann widmet sich jetzt seiner "Aufgabe als Trainer im Nachwuchsleistungssport, den Athleten einen Weg zu einem sauberen und erfolgreichen Sportlerleben aufzuzeigen und sie mit fairen Mitteln zu nationalen und internationalen Erfolgen zu führen". Wie sich diese Erfolge anfühlen, weiß er ja aus eigener Erfahrung.
Quelle: ntv.de