Olympia-Aus mit Hintertürchen Russlands Leichtathleten gesperrt, aber ...
17.06.2016, 17:15 Uhr
Der Leichtathletik-Weltverband IAAF hebt die internationale Wettkampfsperre für russische Sportler nicht auf. Damit dürfen Leichtathleten aus Russland nicht bei den Olympischen Spielen in Rio starten. Für einzelne Sportler gibt es aber trotzdem Hoffnung. Im deutschen Sport entzündet sich daran Kritik.
Der Leichtathletik-Weltverband IAAF hat die internationale Wettkampfsperre für russische Athleten auf unbestimmte Zeit verlängert. Das teilte IAAF-Präsident Sebastian Coe nach einer Council-Sitzung in Wien mit. Damit dürfen Leichtathleten aus Russland nicht bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro starten, die im August ausgetragen werden. Allerdings soll russischen Aktiven ohne Verbindung zum offiziellen Rusaf-System oder Whistleblowern wie der Russin Julia Stepanowa per Ausnahmeregelung die Möglichkeit zum Start bei internationalen Wettbewerben unter neutraler Flagge gegeben werden.
Russlands Sportminister Witali Mutko: "Der Traum vieler unserer Sportler ist zerstört wegen eines falschen Verhaltens einzelner Sportler, Trainer und Spezialisten."
Diskus-Olympiasieger Robert Harting: "Ich freue mich über diesen Schritt, das ist das richtige Signal für den Weltsport. Die Leidenschaft und der Glaube, dass das, wofür ich kämpfe, erreichbar ist, wurde mir persönlich somit ein wenig erhalten." Stabhochsprung-Weltrekordlerin
Jelena Issinbajewa (Russland): "Das ist ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Dazu werde ich nicht schweigen. Ich werde für die Gerechtigkeit kämpfen."
Rainer Brechtken, Präsident des Deutschen Turner-Bundes (DTB): "Das ist eine Entscheidung zwischen zwei ungerechten Maßnahmen."
Özcan Mutlu, Sprecher für Sportpolitik der Grünen im Bundestag: "Jede andere Entscheidung des Internationalen Leichtathletikverbands IAAF wäre unfair gegenüber Sportlerinnen und Sportlern, die sich ihre Leistung ohne Dopingmittel hart erarbeiten und würde funktionierende Dopingkontrollsysteme ad absurdum führen."
Clemens Prokop, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes: "Ich halte die Entscheidung der IAAF für nachvollziehbar, konsequent und im Interesse aller Sportler, die einem gut funktionierenden Anti-Doping-Kontrollsystem unterliegen."
Die Sperre war im November 2015 nach Bekanntwerden eines systematischen und flächendeckenden Dopingsystems in der russischen Leichtathletik verhängt worden. Maßgebliche Informationen lieferten Julia Stepanowa und ihr Mann Witali, ein früherer Mitarbeiter im russischen Dopingkontrollsystem. Die geforderten Reformmaßnahmen für eine Wiederzulassung Russlands wurden nicht erfüllt, urteilte das IAAF-Council nun: "Das russische Anti-Doping-System ist frühestens in 18 bis 24 Monaten wieder regelkonform."
Hintertürchen durchs IOC?
Über Olympia-Teilnahmen entscheidet formal in letzter Instanz das Internationale Olympische Komitee (IOC). Es wird spekuliert, dass das IOC einzelne russische Leichtathleten doch zulässt – wenn sie beispielsweise beweisen, dass sie sauber sind. Laut "Guardian" soll am kommenden Dienstag bei einem Treffen von Vertretern des IOC, internationaler Sportverbände und Vertretern der Anti-Doping-Agenturen diskutiert werden, "ob und in welcher Form einzelnen Athleten eine individuelle juristische Betrachtung zuteilwerden soll". Das Exekutivkomitee des IOC will schon am Samstag in einer Telefonkonferenz über die Konsequenzen der Entscheidung des Weltverbandes IAAF beraten.
Die russische Stabhochsprung-Olympiasiegerin Jelena Issinbajewa nannte die IAAF-Entscheidung einen "Verstoß gegen die Menschenrechte. Dazu werde ich nicht schweigen. Ich werde für die Gerechtigkeit kämpfen." Clemens Prokop, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV), bewertet die mögliche Wiederzulassung russischer Leichtathleten hingegen kritisch.
"Ich begrüße die konsequente Entscheidung über den russischen Ausschluss. Gleichzeitig stehe ich dem Beschluss, vermeintlich sauberen Athleten eine Startberechtigung zu geben, mit größter Skepsis gegenüber", sagte er dem sid: "Wenn ein Anti-Doping-Programm in der Vergangenheit nachweislich nicht funktioniert hat, kann Chancengleichheit nicht gegeben sein."
Aus Prokops Sicht erlauben negative Ergebnisse von zeitnah durchgeführten Kontrollen keine verlässlichen Rückschlüsse auf Methoden in der bereits länger zurückliegenden Aufbauphase: "Nach den bekannten Fakten über die Wirkung entfaltet Doping seinen größten Nutzen, wenn es in den Zeiten der höchsten Trainingsbelastung genommen wird, im Hinblick auf die Olympischen Spiele 2016 also im Herbst 2015 und im Frühjahr 2016. Nur wenn in diesen Zeiträumen vergleichbare Kontrollbedingungen bestanden hätten, bestünde in Rio auch Chancengleichheit im Wettkampf."
Vertuschung im Schwimmsport?
Neben der Begnadigung russischer Sportler durch das IOC ist aber auch denkbar, dass Russland komplett von den Olympischen Spielen ausgeschlossen wird. Erst am Freitag war auch der russische Schwimmsport in Medienberichten der Vertuschung von Dopingfällen beschuldigt worden. Die Londoner "Times" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" berichteten von einem Angebot russischer Anti-Doping-Funktionäre, einheimische Spitzenschwimmer gegen Geld aus dem nationalen Anti-Doping-Pool zu nehmen.
Der Weltschwimmverband wertete Medienberichte über vertuschtes Doping im russischen Schwimmsport als "sehr ernste Anschuldigungen". In einer Pressemitteilung forderte die FINA von allen Beteiligten "relevante Beweise". Dann könnten weitere Schritte erfolgen, um die sauberen Athleten zu schützen.
Vernichtende Wada-Bewertung
Kurz vor dem IAAF-Entscheid hatten deutsche Sportler eine Olympia-Sperre für Russland in einem offenen Brief an IOC und Wada als unausweichlich bezeichnet. Russlands Präsident Wladimir Putin sprach sich gegen einen möglichen Ausschluss von russischen Aktiven von den Olympia-Wettbewerben in Rio de Janeiro aus. "Es kann keine Kollektivverantwortung aller Athleten geben. Das ganze Team kann nicht dafür verantwortlich gemacht werden für einen Einzelnen, der gegen die Regeln verstoßen hat", sagte er auf dem Wirtschaftsforum im russischen St. Petersburg.
Putin wies außerdem erneut Vorwürfe wegen systematischen und von staatlichen Stellen organisierten Dopings in seinem Land zurück: "Es gibt keine Unterstützung der Regierung für Regelverletzungen im Sport, besonders nicht in der Frage des Dopings, und es kann auch keine geben."
Vor Putin hatte bereits Russlands Sportminister Wladimir Mutko die IAAF zur Berücksichtigung der vermeintlichen Bemühungen seines Landes im Anti-Doping-Kampf aufgefordert. In einem offenen Brief an IAAF-Präsident Sebastian Coe bat Mutko, die seit November 2015 bestehende Suspendierung des RUSAF "zu überdenken".
Die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada kam in ihrem jüngsten Bericht allerdings zu einem vernichtenden Urteil über die russischen Reformbemühungen im Anti-Doping-Kampf. So hätten zwischen dem 15. Februar und dem 29. Mai dieses Jahres insgesamt 736 geplante Dopingkontrollen aus verschiedenen Gründen nicht umgesetzt werden können. Die Wada berichtet weiter von eklatanten Versäumnissen der Athleten bei der erforderlichen Angabe des Aufenthaltsortes, der Zugang zu den Sportlern sei den Kontrolleuren in großem Ausmaß erschwert. Häufig würden etwa militärische Einrichtungen als Aufenthaltsort angegeben, zu denen der Zutritt nur mit einer Sondergenehmigung möglich sei. Kontrolleure seien zudem von Geheimdienstagenten eingeschüchtert und bedroht worden.
Ein Grundsatz eines erfolgreichen Anti-Doping-Kampfes, die Möglichkeit, ohne jegliche Vorankündigung jederzeit kontrollieren zu können, ist in Russland weiter nicht gegeben. Der Nachrichtenagentur Interfax sagte Sportminister Mutko zu diesem Thema: "Wenn Doping-Kontrolleure Hilfe von der Regierung brauchen, sollen sie uns Bescheid sagen. Wir werden alles Mögliche tun, damit Kontrolleure jede Stadt besuchen können. Sie müssen uns nur informieren - aber wartet damit nicht bis zur letzten Minute!"
Auf die Berichte über eine Bestätigung der Sperre reagierte Mutko kämpferisch: "Die Suspendierung ist eine erwartete Entscheidung. Wir hätten das vorhersagen können, wir werden reagieren."
Quelle: ntv.de, cwo/sid