"Mehr wert als 100 Goldene" WM-Silber gibt Semechin Kraft für nächste Chemo
14.06.2022, 13:06 Uhr
Semechin schwimmt weiter unter ihrem Mädchennamen Krawzow.
(Foto: IMAGO/Ralf Kuckuck)
Sie ist krebskrank, mitten zwischen zwei Chemotherapie-Zyklen, aber davon lässt sich Elena Semechin nicht unterkriegen. Die fast blinde Schwimmerin tritt trotzdem bei den Weltmeisterschaften an. Und gewinnt sensationell Silber. Die knapp verpasste Goldmedaille ist ihr herzlich egal.
Völlig entkräftet hievte sich Elena Semechin aus dem Becken. Nach der 100 Meter langen Qual musste sie erst einmal zu sich kommen - doch prompt lagen ihr Ehemann Phillip und Bundestrainerin Ute Schinkitz in den Armen: Platz zwei, winzige 0,02 Sekunden hinter der Erstplatzierten. "Diese Silbermedaille bedeutet mehr als 100 andere Goldene", so die Paralympics-Siegerin am Tag, nachdem sie den Beweis angetreten hatte, dass sie trotz Krebs nach wie vor selbst über ihr Leben bestimmt.
Dass sie auf Madeira über 100 Meter Brust den dritten WM-Titel ihrer Karriere hinter Colleen Young aus den USA nur allzu knapp verpasst hatte, sorgte nur einen Moment lang für Enttäuschung. "Ich weiß, dass das eine hervorragende Leistung war, mit der keiner gerechnet hat", sagte Semechin. Die Medaille sei nicht weniger als "ein Statement, dass ich noch da bin", und der "wahrscheinlich größte Erfolg meiner Karriere", hatte sie im MDR-Interview beteuert.
"Wollte nur noch ankommen"
Selbst ohne Edelmetall wäre die sehbehinderte Schwimmerin allein durch ihren Start schon eine Siegerin gewesen. Schließlich hatte Semechin im Oktober wenige Wochen nach ihrem Tokio-Gold die niederschmetternde Hirntumor-Diagnose erhalten. Anfang November folgte die Operation, fünf Monate später das sensationelle Comeback.
All den kräftezehrenden Bestrahlungen durch die Chemotherapie zum Trotz ließ sie sich nie von ihrem WM-Traum abbringen. Willensstark kämpfte sie sich durch das Finale. "Die letzten 40 Meter waren schlimm, ich wollte nur noch ankommen", sagte Semechin, sonst für ihre starke zweite Bahn gefürchtet: "Da kam der Mann mit der Sense, nichts ging mehr."
Kein Wunder, dass sie einfach nur erleichtert war, als sie endlich im Ziel anschlug - und realisierte, was ihr Kraftakt wert war. 1:14,81 Minuten - nur etwas mehr als eine Sekunde langsamer als in Tokio. "Mein Ansporn ist es immer, die Beste zu sein. Ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich nicht mit einer Medaille geliebäugelt hätte", sagte Semechin: "Aber ich war überrascht, was ich aus mir herausholen konnte."
Damit gewann sie nicht nur ihre vierte Medaille bei Weltmeisterschaften, sondern schöpfte auch Zuversicht für den fünften Chemo-Zyklus, der bereits am Samstag beginnt. "Ich habe noch einen weiten Weg vor mir", sagte Semechin und ergänzte ohne zu zögern: "Ich weiß, dass ich stark genug dafür bin."
Quelle: ntv.de, ara/sid