Formel1

Abschied nach 16 Formel-1-Jahren Diese großen Momente hinterlässt Sebastian Vettel

imago1019330440h.jpg

In Abu Dhabi bestreitet Vettel sein 299. und letztes Formel-1-Rennen.

(Foto: IMAGO/Motorsport Images)

Er sammelt Müll, baut Hotels für Bienen und setzt sich für Minderheiten ein. Sebastian Vettel ist nicht gerade der typische Formel-1-Fahrer. Inzwischen genießt er weltweit großes Ansehen. Mit Blick auf seinen Werdegang in der Königsklasse ist das nicht unbedingt selbstverständlich.

Große Karrieren lassen sich oft an außergewöhnlichen Wegmarken nachzeichnen. An Momenten, die Sportler definieren, die nachhaltig im Gedächtnis bleiben und die sofort präsent sind, wenn sie zur Sprache kommen. Schon allein deshalb, weil Gesamtbetrachtungen viel zu umfangreich wären, wenn sie wie bei Sebastian Vettel 16 Jahre in der Formel 1 umfassen müssten. 299 Rennstarts gehen für den Deutschen in die Statistik ein, 122 Podiumsplätze, 53 Siege, 57 Pole Positions. Mehr als 3000 WM-Punkte, 3501 Führungsrunden, über 18.000 Kilometer auf Platz eins, mit denen er vier Weltmeistertitel einfuhr. Schon die Zahlen machen deutlich, dass da am Saisonende jemand abtritt, der als einer Größten in die Geschichte eingehen wird, die dieser Sport je gesehen hat.

Seinen ersten großen Schritt zur Legende macht Sebastian Vettel in Italien. Das Schlagwort "Monza 2008" reicht vielen langjährigen Fans wahrscheinlich schon, um die Bilder direkt wieder vor Augen zu haben. Wie ein 21-Jähriger im eigentlich chancenlosen Toro Rosso die regnerischen Bedingungen nutzt, um erst zur Pole Position und dann von dort auch noch zum Sieg zu fahren. "Grande, grande, grandissimo", funkt Vettel nach dem Qualifying an seine Box, knapp 24 Stunden später fehlen ihm die Worte, als sein Team ihm zur Sicherheit gleich doppelt mitteilt: "You have won the Italian Grand Prix, you have won the Italian Grand Prix." Spätestens an diesem Wochenende erkennen viele, warum dieser Junge aus Hessen als besonderes Talent gilt.

Den ersten nachhaltigen Tiefpunkt bringt "Istanbul 2010", obwohl der zu Red Bull beförderte Vettel und Teamkollege Mark Webber vor dem Großen Preis der Türkei punktgleich die WM anführen. Auf dem Weg zum vermeintlich sicheren Doppelsieg kollidieren die beiden, Vettel scheidet wütend aus, während Webber zumindest noch Platz drei ins Ziel rettet. In den folgenden Rennen fällt der junge Deutsche in der Gesamtwertung scheinbar aussichtslos zurück, ehe "Abu Dhabi 2010" als eins der denkwürdigsten Saisonfinals in der Geschichte der Formel 1 eingeht. Der Crash in der Türkei hängt ihm jedoch über Jahre nach, wird zum Symbol des Übereifers.

Schrecklich-schönes "Multi 21"

Vettel geht nur als WM-Dritter hinter Webber und Fernando Alonso ins Wochenende, die im November 2010 vermeintlich den Titel untereinander ausmachen. Von der Pole Position aus bestimmt der Außenseiter aber das Rennen, während die beiden Favoriten durch eine Safety-Car-Phase zurückfallen und mit jeder Runde, die sie im Mittelfeld, lauter schimpfen. Weil sie den 23-jährigen Heppenheimer davonfahren lassen müssen, der die große Erfolgslücke füllen soll, die mit Michael Schumachers Ferrari-Abschied in Deutschland entstanden ist.

Vettel gewinnt, mit der schwarz-weiß-karierten Flagge beginnt das Warten am Boxenfunk, bis die entscheidenden Autos im Ziel sind. "Rosberg ist Vierter, Kubica ist Fünfter", dann folgt der legendäre Schrei: "DU BIST WELTMEISTER!" Es ist das erste Mal, dass er die WM anführt. Weil er im entscheidenden Moment eine herausragende Leistung zeigt. Die Antwort des bis heute jüngsten Formel-1-Champions fällt deutlich leiser aus, mit Freudentränen in den Augen sagt Vettel: "Danke Jungs, ich liebe euch. Unglaublich."

In der Saison 2011 dominiert Vettel so sehr, dass zeitweise Langeweile bei den Zuschauern und Verzweiflung bei der Konkurrenz aufkommen. Fünf Siege aus den ersten sechs Rennen, 15 Pole Positions in 19 Qualifyings, die Titelverteidigung gelingt beim viertletzten Grand Prix. Vorwürfe werden laut, mit dem überlegenen Red Bull könne ja jeder gewinnen. Deutlich dramatischer verläuft "Brasilien 2012", als Vettel zwar die WM anführt, sich nach wenigen Metern jedoch dreht und ans Ende des Feldes zurückfällt. Fernando Alonso profitiert, der Titel rückt in weite Ferne Trotz beschädigtem Auto kämpft sich der 25-Jährige bis auf Platz sechs nach vorne. Der reicht am Ende knapp, um zum dritten Mal in Folge die Weltmeisterschaft zu gewinnen. Eine seiner größten Leistungen.

Auf dem Weg zum vierten Titel ist es "Multi 21", das für Schlagzeilen sorgt. "Multi 21, Seb", ruft Mark Webber seinem Teamkollegen vorwurfsvoll zu, als die beiden Red-Bull-Piloten nach dem Großen Preis von Malaysia auf die Siegerehrung zu warten. "Multi 21" hatte die Box an beide Fahrer gefunkt, eine schlecht getarnte Stallorder, die Reihenfolge Webber (Auto mit der Nummer 2) vor Vettel (Nummer 1) sicher ins Ziel zu bringen. Vettel aber hat andere Pläne, zieht mit einem harten Manöver vorbei und sagt anschließend, er sei "nicht glücklich, dass ich gewonnen habe, ich habe einen Fehler gemacht". An den Buhrufen, die auf ihn einprasseln, ändert das kaum etwas.

Der verhängnisvolle Hamilton-Vorfall

Es ist die Zeit, in der Vettels öffentliches Ansehen und seine Beliebtheit bei den Fans auf einen Tiefpunkt zu sinken scheinen. Sein Talent stellt längst niemand mehr infrage, sein Temperament am Steuer und die schützende Hand, die Teamchef Christian Horner und Red-Bull-Berater Helmut Marko bisweilen über ihn zu halten scheinen, erzeugen vielerorts Ablehnung. Sportlich aber ist Vettel auch in dieser Saison eine Klasse für sich. Er gewinnt nach der Sommerpause alle neun Rennen und stellt damit eine Formel-1-Bestmarke auf, die bis heute unerreicht ist. Mit 397 Punkten sammelt Vettel sogar mehr Punkte als das in der Konstrukteurswertung zweitplatzierte Mercedes-Team.

"Malaysia 2015" bringt den nächsten großen Vettel-Moment. Dieser hat sich inzwischen von Red Bull gelöst und ist zu Ferrari gewechselt. Die Scuderia dürstet nach Erfolgen und setzt darauf, dass der Deutsche nach einem schwachen Jahr nicht nur sich, sondern auch das Team zurück zu alter Stärke führt. In Sepang gelingt das gleich im zweiten Rennen in Rot. "Woooooohoooooo", funkt Vettel freudig schreiend an die Box, gefolgt von einem langgezogenen "YEEEEEESSSSS!" und "Forza Ferrari!". Italien feiert ihn als Heilsbringer, der den Traditionsrennstall von seiner Titelsehnsucht befreien kann. In Singapur holt er die erste Ferrari-Pole nach 61 vergeblichen Versuchen. Die Prophezeiung scheint sich zu erfüllen.

Zwei Jahre später bringt das Nachtrennen auf dem anspruchsvollen Marina Bay Street Circuit deutlich weniger Freude. "Singapur 2017", das ist der Startunfall auf feuchter Strecke, durch den Vettel, Teamkollege Kimi Räikkönen und der damals noch junge, aber bei Red Bull als Supertalent-Nachfolger des Deutschen auserkorene Max Verstappen schon nach wenigen Sekunden ausscheiden. Bis zur Sommerpause hatte Vettel die WM angeführt, jetzt entgleitet sie ihm. Es ist der zweite Unfall in jener Saison, mit der in Erinnerung bleibt. "Baku 2017" beschreibt einen Ausraster, bei dem es niemandem gewundert hätte, wenn das Verhältnis zu Lewis Hamilton nachhaltig darunter gelitten hätte.

"Verdammte Scheiße" in Hockenheim

Als das Safety-Car beim Großen Preis von Aserbaidschan vor dem Feld losfährt, will Hamilton Abstand lassen. Vettel scheint das zu übersehen, bremst zu spät, macht sich seinen Frontflügel am Heck des Mercedes kaputt. Wutentbrannt fährt der Deutsche von der Ideallinie, zieht neben seinen WM-Rivalen - und lenkt seinen Ferrari plötzlich nach rechts, um eine Kollision herbeizuführen. Beide können weiterfahren, Vettel erhält wenig später eine harte, zehnsekündige Stop-and-Go-Strafe und darf froh sein, dass die Disqualifikation ausbleibt. Da ist er wieder, der unkontrollierbare Heißsporn, meinen viele. Mittlerweile lachen Hamilton und Vettel darüber, erzählen vor dem Saisonfinale 2022 in Abu Dhabi, dass die Aufarbeitung dieses Moments ihre Freundschaft gestärkt habe.

Deutlich größer ist das Mitgefühl mit dem Deutschen, als "Germany 2018" passiert. Als Vettel in Hockenheim nicht nur den Großen Preis von Deutschland anführt, sondern auch die Weltmeisterschaft. 15 Runden vor Schluss setzt langsam Regen ein, er verliert die Kontrolle über sein Auto und rutscht in einer Linkskurve in die Streckenbegrenzung. Der Schmerz in der Stimme ist hörbar, als er erst "Verdammte Scheiße" und dann "Es tut mir leid" ruft. Hamilton erbt den Sieg, dominiert den Rest der Saison - und vereitelt rückblickend die letzte echte Chance Vettels auf einen fünften WM-Titel.

Danach werden die besonderen Momente seltener, 2019 der 53. und mutmaßlich letzte Grand-Prix-Sieg, wieder in Singapur. 2020 reicht es gar nur zu einem einzigen Podiumsplatz, der Regen von Istanbul spült den hoffnungslos unterlegenen Ferrari auf Platz drei nach vorne. Es folgt der Wechsel zu Aston Martin. Einem Team, das mit großen Ambitionen um Siege kämpfen will, sich jedoch aktuell zumeist darum bemüht, nicht Letzter zu werden. Nicht nur die Ergebnisse verändern sich, auch Vettels Fokus scheint einen Wandel zu vollziehen.

72 in weniger als 150

Der lange als verbissen und überehrgeizig geltende Fahrer gewinnt über die Jahre immer mehr Sympathien, zeigt sich als guter Verlierer, als fairer Sportler und trägt immer mehr nach außen, was ihm außerhalb der Rennstrecke wichtig ist. In Saudi-Arabien richtet er ein Kartrennen für Frauen aus, in Österreich baut er ein Bienenhotel, in Ungarn protestiert er gegen die Unterdrückung von LGBTQIA+, nach dem Großen Preis von Großbritannien bleibt er länger, um Müll zu sammeln, drängt die Formel 1 nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs dazu, das Rennen in Sotschi abzusagen. Die Bilder, wie der Multimillionär mit dem Rad ins Fahrerlager kommt, gehen immer wieder um die Welt.

"Was heißt Zukunft?", fragt Vettel nun, als er seinen Abschied verkündet. "Mehr Zeit mit meiner Familie" möchte er verbringen, der mit seiner Frau auf einem ehemaligen Bauernhof lebt und dort gemeinsam mit ihr die drei Kinder aufwachsen sehen möchte. Auch für sie hat der 35-Jährige sich dem Kampf gegen die Klimakrise verschrieben. "Reden reicht nicht mehr aus, und wir können es uns nicht leisten zu warten. Es gibt keine Alternative." Immer wieder hält er der Formel 1 den Spiegel vor, ihre technische Vorreiterrolle wieder hervorzuheben. Weit über den Motorsport hinaus hat er sich eine Stellung erarbeitet, die ihm Gehör verschafft, und die er auch konsequent für seine Werte einsetzt und ausnutzt.

Die verbleibenden zehn Rennen werden zu einer Abschiedstour werden für einen, der die Formel 1 und ihre Geschichte studiert und aufgesaugt hat wie kaum ein anderer. Diese Liebe für den Sport sorgt auch für den vielleicht letzten legendären Moment, den Vettel hinterlässt. Anders als der Aston-Martin-Pilot, der erst kurz vor seiner Abschiedsankündigung den Weg in die sozialen Medien findet, produziert die Formel 1 seit Jahren sehenswerte Formate. Darunter "Grill the Grid", in dem die Fahrer Fragen beantworten müssen.

Mehr zum Thema

Mal geht es dabei darum, anhand der Umrisse die Strecken zu erkennen, mal darum, das Fahrerfeld nach Körpergröße zu ordnen, mal darum, die Länder zu benennen, in denen die Formel 1 in ihren mittlerweile 72 Jahren schon zu Gast war. Vettels Stunde schlägt, als gefordert ist, alle Weltmeister in chronologischer Reihenfolge von heute bis 1950 aufzuzählen. Während die meisten Piloten nach zehn, manche nach 20 Namen aufgeben, fragt Vettel nur kurz, wie viel Zeit er denn hätte. "So viel wie du brauchst", bekommt er als Antwort - ehe er ganz entspannt innerhalb von weniger als 150 Sekunden alle 72 aufzählt. Weil die großen Wegmarken eben leichter im Gedächtnis bleiben.

Dieser Text erschien in ähnlicher Form erstmals am 28. Juli 2022

Quelle: ntv.de

ntv.de Dienste
Software
Social Networks
Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen