DFB-Team vor dem Schicksalsspiel Alles ganz anders als beim WM-Desaster

Kollektives Entsetzen: Mats Hummels traf 2018 nicht gegen Südkorea. Ein Schicksalsmoment, nicht nur für ihn.

Kollektives Entsetzen: Mats Hummels traf 2018 nicht gegen Südkorea. Ein Schicksalsmoment, nicht nur für ihn.

(Foto: picture alliance/dpa)

2018 sorgt die deutsche Fußball-Nationalmannschaft im letzten Gruppenspiel der Weltmeisterschaft für ein Desaster. Drei Jahre später steht nun wieder ein entscheidendes Vorrundenfinale an. Die Selbstverständlichkeit ist weg, die Überzeugung da - aber auch die Erinnerungen.

Viele Jahre galt das eherne Stammtischgesetz: Deutschland ist eine Turniermannschaft. Das Wort steht für die Erfahrung, dass es für DFB-Teams oft vorher und in den ersten Tagen eines Turniers nicht gut aussieht, man sich aber doch irgendwie durchwurschtelt und später, wenn es drauf ankommt, dann irgendwas Zählbares organisiert bekommt. Sogar der große José Mourinho schloss sich jüngst diesem Glauben in einer Mischung aus Verachtung und Bewunderung an: "Die Mannschaft von Joachim Löw war in der Qualifikation und in der Nations League schrecklich. Sie haben ein historisches Ergebnis erzielt, indem sie zu Hause gegen Nordmazedonien verloren. Es ist ziemlich schwer zu verstehen, warum sie in den letzten Jahren so schlecht waren", analysierte er kürzlich für die englische "Sun". Doch dann warnte er: "Jetzt ist die Stunde der Wahrheit. Normalerweise ist Deutschland im Moment der Wahrheit immer dabei. Löw geht nach der EM und wird hoch hinauswollen. Dies wird auch die letzte EM für Spieler wie Thomas Müller, Mats Hummels und Manuel Neuer. Sie sind immer ein Team, das man fürchten muss. Sie sind Soldaten. Sie sind sehr diszipliniert. (...) Die Deutschen sind die Deutschen, und ich denke, das sagt alles."

Die Deutschen sind die Deutschen, eine Turniermannschaft, die es immer irgendwie geregelt bekommt: 2018 starb diese Selbstverständlichkeit an einem heißen russischen Junitag gegen Südkorea. Tief in der Nachspielzeit des zweiten WM-Gruppenspiels gegen Schweden hatte Toni Kroos per Freistoß die frustrierende Auftaktpleite gegen Mexiko wieder repariert, ein einfacher Sieg gegen die auf der Weltbühne nicht eben furchteinflößenden - und selbst nach zwei Pleiten schon ausgeschiedenen - Südkoreaner hätte dem Titelverteidiger zum Weiterkommen gereicht. Doch es kam anders. Und zwar deutlich schlimmer aus deutscher Sicht: 0:2 - der Weltmeister war draußen. Schockwellen gingen durchs Land, sie spülten erst Mesut Özil, den Sündenbock, und dann mit Verzögerung Jérome Boateng, Thomas Müller und Mats Hummels aus der Nationalmannschaft.

Neuer hat "was gutzumachen"

Bei der deutschen Mannschaft ist nach dem 4:2-Rausch gegen Portugal die Selbstgewissheit spürbar, verdientermaßen. Die Erinnerung an 2018 ist aber überaus lebendig: Torwart und Kapitän Manuel Neuer, dieser Titelsammler, der Keepergigant, der so ehrgeizig ist, dass er seinen Mitbewerbern zwischen den bundesdeutschen oder auch nur den bayerischen Pfosten nur unter Zwang und Schmerzen Spielzeit überlässt, der also nicht unter Verdacht steht, nicht in jedem Moment seiner Karriere bis zum Bersten gespannt zu sein, gab vor dem EM-Start zu, dass das WM-Debakel von 2018 noch einmal Extra-Motivation bedeute, man habe nämlich noch was "gutzumachen".

Müller und Hummels sind wieder zurück, sie sollen dafür sorgen, dass sich das Desaster von 2018 nicht wiederholt. Im letzten Gruppenspiel geht es am Abend gegen Ungarn, auf der Weltbühne nicht eben furchteinflößend, der größtmögliche Außenseiter in der "Todesgruppe" F, mit einer erst arg spät zustande gekommenen Niederlage (gegen Europameister Portugal) und einem Punkt (gegen Weltmeister Frankreich) aber überraschend wettbewerbsfähig.

"Damals war das Spiel schon halb gewonnen ..."

Kroos, 2014 Weltmeister und 2018 Teil des Problems, hat die Kollegen vor dem Ungarn-Spiel vor Überheblichkeit gewarnt. Die DFB-Auswahl habe es zwar "in der eigenen Hand, aber das hatten wir vor drei Jahren auch – damals war das Spiel gegen Südkorea auf dem Papier auch schon halb gewonnen. Wurde es aber nicht", sagte Kroos im Podcast "Einfach mal luppen" mit seinem Bruder Felix.

Am schmerzhaftesten ist die Erinnerung an 2018 für Mats Hummels. Der Innenverteidiger wurde als Folge des Desasters von Joachim Löw für zwei Jahre aussortiert, das war hart. Doch der Dortmunder musste auch mit einer ganz individuellen Schuld am kollektiven Versagen leben, berichtete er schon damals, wenige Wochen nach dem Ausscheiden: "Dieser Kopfball hat mich verfolgt, weil es mir unglaublich wehtut, so eine Chance zu vergeben", gab Hummels im Herbst 2018 im Interview mit dem "Kicker" zu. "Und weil man sich verantwortlich fühlt, dass sein Land aus der WM flog. Das zu verarbeiten, hat eine andere Qualität als im Verein." Er spricht von der Kopfball-Chance, die er beim Stand von 0:0 gegen Südkorea vergeben hatte. Am Ende unterlag Deutschland mit 0:2. Hummels ärgerte sich vor allem, weil es "die Flanke ist, die ich mit Joshua Kimmich ohne Ende im Training übe."

Dass sich Geschichte nicht wiederholt, da ist Hummels überaus zuversichtlich. "Wir wollen die gleiche Energie wie gegen Portugal und Frankreich zeigen. Auch wenn es gegen Portugal noch offensichtlicher war", so Hummels. "Wir wollen sofort zeigen, dass wir die nächste Runde klar machen werden. Wir wollen den Fans wieder Freude bereiten." 2018 in Russland war der Spaßfaktor übersichtlich, die völlig aus dem Ruder gelaufene Debatte um Mesut Özils Nähe zum türkischen Präsidenten Recep Tayyp Erdogan hing über der deutschen Mannschaft, das Quartier sorgte für Frust, Manuel Neuer war auf den letzten Drücker nach langer Verletzungspause wieder fit geworden, es passte vieles nicht: Die WM-Kampagne des DFB stand unter keinem guten Stern. Jetzt ist alles ganz anders: "Der Spirit war ein anderer, die Atmosphäre eine andere", weiß Hummels. "Ich habe ein deutlich positiveres Gefühl, als es 2018 der Fall war. Der Eindruck, den ich von allen Spielern und Mitarbeitern habe, ist ein deutlich besserer im Vergleich zu vor drei Jahren."

Neuer, Hummels und Müller erinnern sich

Manuel Neuer war 2018 einer der Spieler, die zu viel mit sich selbst zu tun hatten, als dass sie dem Gesamtgefüge über ihre eigenen Qualitäten hinaus hätten helfen können. Es sei damals vor allem darum gegangen, selbst "spielfähig zu werden", sagte der Welttorhüter vor dem Turnierstart, "jetzt gehe ich mit einem guten Gefühl in das Turnier. Weil ich fit durch die ganze Saison gekommen bin, und weil ich die Mannschaft begleiten konnte, mich als Kapitän um ihre Belange kümmern konnte." In Russland war Neuer erst kurz vor Turnierbeginn nach einer langen Pause wieder zum DFB-Tross gestoßen, nun ist er die große Weltklasse-Konstante im Team, das mal wieder vor einem Schicksalsspiel steht. Mit Euphorie, aber auch mit geschärften Sinnen.

Thomas Müller glaubt jedenfalls fest an den Einzug ins Achtelfinale: "Wir werden alles in die Waagschale werfen, um da auch zu überzeugen. Mit eurer Unterstützung packen wir das", sagte Müller bei Instagram an die Fans gerichtet. Auf dem Video steht Müller in luftiger Höhe, der Blick vom Teamhotel geht über München und den Englischen Garten. Ob der Antreiber nach seiner Kapselverletzung im Knie mitwirken kann, entscheidet sich im Tagesverlauf. Mit dem überzeugenden Sieg gegen Portugal habe man aber "den Grundstein gelegt fürs Weiterkommen und auch vielleicht für so eine kleine Euphorie gesorgt". So oder so erwartet er "eine zähe Nummer". Ungarn sei sehr "kampfstark".

Auch Hummels warnte schon: "Sie haben große läuferische Qualitäten und sind defensiv sehr gut geschult", erklärte der Innenverteidiger mit den doppelt bitteren Erinnerungen ans letzte Alles-oder-nichts-Spiel der DFB-Truppe. "Dieses Spiel wird nicht so offen sein wie gegen Portugal. Es wird möglicherweise nicht so viele Torraumszenen geben." Nein, ein Selbstläufer wird es nicht, das Vertrauen in die Überzeugung Mourinhos - "die Deutschen sind eben die Deutschen" - zu stärken. Aber wenn es nicht von alleine und qua Stammtischgesetz geht, müssen sie es halt diesmal einfach mit Euphorie und Überzeugung lösen. Und zur Not reicht ja auch ein Punkt zum Weiterkommen.

Quelle: ntv.de

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