Ungarn-Fans provozieren mit Song DFB-Elf "zündet" das Land an, lässt aber Fragen offen

Jubel über das 2:0.

Jubel über das 2:0.

(Foto: picture alliance / osnapix)

Das zweite EM-Gruppenspiel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft erzählt viele Geschichten. Der 2:0-Erfolg steigert die Euphorie rund um das DFB-Team, die Ungarn fallen unterdessen negativ auf. Es gibt nur die Erkenntnis, wieder ein Stück widerstandsfähiger geworden zu sein.

Eine Sache verzückte Julian Nagelsmann schon weit vor dem Anpfiff. Nach dem 2:0-Erfolg über Ungarn sitzt der Bundestrainer auf dem Pult der Pressekonferenz, mittlerweile Hemd und Hose gegen T-Shirt und Shorts getauscht, und erzählt von den besonderen Bildern, die das DFB-Team vor dem zweiten Spiel bei der Heim-Europameisterschaft erreicht haben. Am frühen Mittwochnachmittag zog nämlich der DFB-Fanmarsch am Teamhotel in Stuttgart vorbei. Verglichen mit der wilden Oranje-Party der Niederländer am Wochenende war das noch ausbaufähig, aber: Insgesamt 4500 Menschen spazierten unter einem Meer von weißen Fischerhüten und Deutschlandflaggen zum Stadion.

Der Bundestrainer, das erklärt er auf dem Podium, empfand die Stimmung als genial. Allein schon die Bilder lösten etwas in der deutschen Fußball-Nationalmannschaft aus. "Man glaubt es immer nicht, wir haben unfassbar erfahrene und erfolgreiche Spieler und trotzdem macht es was mit ihnen", erklärt Nagelsmann.

Und tatsächlich: Kapitän İlkay Gündoğan läuft schweigend und vor allem grinsend zum Mannschaftsbus, Nico Schlotterbeck verteilt indes lachend Rückenklopfer an seine Kollegen, die gerade Interviews geben. Selbst Toni Kroos wählt kurz nach dem Abpfiff überraschend überschwängliche Worte. Nach Jahren ohne Euphorie (WM-Debakel in Russland und Katar, Achtelfinal-Aus bei der EM 2021) sei es schön zu sehen, "dass die Nationalmannschaft immer noch in der Lage ist, das Land anzuzünden", sagt er der ARD.

Was Kroos meint, war zuvor im Stuttgarter Stadion zu spüren. Auf den Rängen wurde "Major Tom" kräftig mitgesungen, das Lied wird diesen Sommer wohl begleiten. Kroos selbst mutierte derweil bei der Mannschaftsaufstellung ganz zart zum "Fußballgott", wie man es eigentlich nur aus Bundesligastadien kennt. Und es ging während der Partie weiter. Als sich DFB-Star Jonathan Tah in den Schuss eines Ungarn warf, wurde gejohlt und gegrölt. Das Stuttgarter Publikum feierte den eingewechselten VfB-Star Deniz Undav als Helden. Das vielleicht Überraschendste war, dass es auch in den schlechten Phasen der DFB-Elf Anfeuerungsrufe gab.

Zwischen Gigi D'Agostino und "Oh, wie ist das schön"

Auf der Gegenseite saßen unterdessen die vielen Tausenden ungarischen Fans, die den Rest zur lauten und aufgeregten Stimmung beitrugen. Ein Teil des Anhangs nutzte die weite Auswärtsfahrt jedoch zur Provokation. Schon auf dem Weg zum Spielort sangen sie Gigi d'Agostinos "L'Amour Toujours" und trugen ein Banner, auf dem "Free Gigi" stand. Applaus gab es online dafür vor allem von Rechtsextremisten und deren Sympathisanten, denn der Partysong aus den 90ern feierte jüngst ein Comeback, als er im Champagner-Rausch auf Sylt und an vielen anderen Orten in Deutschland mit menschenfeindlichem Text gegrölt wurde. Dass einige Ungarn, wenn auch längst nicht alle, das Banner und den Song während des Spiels erneut auspackten, ging im Allgemeinen "Wir fahren nach Berlin"-Gesang und den La-Ola-Wellen dann aber weitestgehend unter.

Erst vor dem und dann im Stadion: das Banner der Ungarn-Fans.

Erst vor dem und dann im Stadion: das Banner der Ungarn-Fans.

(Foto: IMAGO/Moritz Schlenk)

Der Vorfall zeigt, dass der Fußball nicht alle Gräben überwinden kann. Zumal schon einmal zwischen Ungarn und dem DFB-Team Welten aufeinandergeprallt waren. Bereits bei der Corona-EM 2021 kam es zum Eklat. Damals ging es darum, ob die Münchner Arena, wo das Gruppenspiel stattfand, in Regenbogenfarben erstrahlen sollte. Die Stadt wollte damals ein Zeichen gegen ein ungarisches Gesetz setzen, das die Informationsrechte von Jugendlichen zu Homo- und Transsexualität eingeschränkt hatte. Die Arena blieb einfarbig, aber der diesmal nicht nominierte Leon Goretzka formte mit den Händen ein Herz, das er dem ungarischen Anhang schenkte.

Für das Geschehen auf dem Feld tat all das nun nichts zur Sache: Der Erfolg der DFB-Elf über Ungarn war weniger eine Rauscherzählung (anders als das Schottland-Spiel), sondern vielmehr die von vielen kleinen Puzzleteilen, die zunächst mühsam und später dann überzeugend zusammengesetzt wurden. Da war die wackelige deutsche Anfangsphase, die nach Abpfiff von allen Beteiligten hervorgehoben wurde. Nagelsmann unkte, dass das für die DFB-Elf vor einem halben Jahr möglicherweise noch schiefgegangen wäre. Es seien Momente, die man überstehen musste, erklärt er. Auch Kroos räumte in der ARD ein: In der K.-o.-Runde werde man nicht in allen Spielen führen, da werde es auch Rückschläge geben. Es sei gut, Momente des Zweifels schon jetzt überwunden zu haben.

Neuer, Gündoğan, Mittelstädt, Müller?

Die Null stand zwar beim DFB-Team, Neuers Frisur aber nicht mehr

Die Null stand zwar beim DFB-Team, Neuers Frisur aber nicht mehr

(Foto: picture alliance/dpa)

Da war auch Manuel Neuer, der nun die Kritik endgültig abprallen lässt wie die vergeblichen Torschüsse der Ungarn. Schon in den ersten Minuten grätschte er einen gefährlichen ungarischen Angriff ab, dann fischte er kurz darauf sehenswert den Freistoß von Dominik Szoboszlai aus dem Winkel. Der schon umgezogene Nagelsmann ist später verzückt, wie sich die DFB-Stars selbst über die Parade freuten. Die Null stand zwar beim DFB-Team, dafür aber Neuers Frisur nicht mehr. Der 38-Jährige prahlte (für seine Verhältnisse) im grellen Licht des Stadionkellers später, dass der Schuss doch eine ganz hohe Geschwindigkeit hatte.

Kapitän Gündoğan zeigte indes erneut eine Weltklasse-Leistung, er machte wieder seine Nebenleute besser. Für ihn persönlich war es auch ein erfolgreicher Abend. Diesmal gab es keine schottischen Verteidiger, die ihr Bein zwischen seine Abschlüsse und das Tor werfen konnten. Folglich erzielte er das spielentscheidende 2:0. Nagelsmann (zum dritten Mal verzückt) ermahnte deshalb alle: "Wir müssen ihm alle ein bisschen mehr vertrauen im Land". Der deutsche Kapitän sei ein extrem smarter Spieler und nicht umsonst erfolgreich mit Manchester City und dem FC Barcelona gewesen.

Das lässt sich ewig so weitererzählen. Linksverteidiger Maximilian Mittelstädt fügte seinem wirklich unglaublichen Fußballjahr mit der Torvorlage zum 2:0 ein weiteres Kapitel hinzu. Wer hätte gedacht, dass er ein Jahr nach dem Abstieg mit Hertha BSC plötzlich Stammspieler bei der Heim-EM ist? Er bekam auch seinen ganz besonderen Moment, als er zum Jubeln in die Stuttgarter Kurve abdrehte und dort gefeiert wurde.

Das Duo "Wusiala" bestätigte unterdessen den Eindruck aus dem Auftakt. Der eine, Florian Wirtz, sprintete immer wieder über viele Meter den ungarischen Kontern hinterher. Der andere, Jamal Musiala, traf als erster Spieler des Turniers zum zweiten Mal (zugegeben, das DFB-Team eröffnete den zweiten Spieltag). Später musste er sich die Frage gefallen lassen, ob er nun Torschützenkönig werden wollte.

All diese Puzzleteile ergeben ein Bild, das eine deutlich gefestigtere DFB-Elf zeigt. Die Nagelsmänner lassen manche Fans davon singen, dass sie völlig losgelöst seien. Sie sorgen dafür, dass tatsächlich vereinzelt ein Auto mit Deutschlandfähnchen hupend die Stuttgarter Nacht einläutet. Es entsteht ein Kreislauf der DFB-Euphorie: die Fans jubeln, die Nationalelf liefert.

Es gibt dennoch weiterhin ein Problem, das weniger in den aktuellen Leistungen begründet liegt, sondern in den Auftritten der jüngeren Vergangenheit. Das DFB-Team ging als großes Rätsel in das Turnier und ist es trotz zweier souveräner Siege nach wie vor. Niemand weiß, wie aussagekräftig die beiden ersten Partien waren. Waren Schottland und Ungarn so schlecht oder das DFB-Team so gut? In etwas mehr als 180 EM-Minuten wurde die Abwehr noch keinem ernsthaften Stresstest unterzogen. Bundestrainer Nagelsmann versichert am Ende seiner Pressekonferenz, dass die DFB-Elf jede der möglichen sieben Partien siegreich beenden wolle. Der Auftritt gegen Ungarn hat die gegen Schottland gelegte Basis dafür noch einmal stabiler gemacht.

Quelle: ntv.de

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