Das Drama um den mitten im Spiel kollabierten dänischen Spielmacher Christian Eriksen ist einer der Schockmomente der Fußball-Europameisterschaft. Der Mittelfeldspieler erholt sich wieder, seine Mannschaft hat nun die Chance auf den Titel. Und zeigt, dass sie mehr als das Märchen-Narrativ ist.
Es hätte eigentlich nicht zählen dürfen. Das erste Tor der dänischen Fußball-Nationalmannschaft. Es entstand an diesem Samstagabend nach einer Ecke, die es nicht hätte geben dürfen. Oder die zumindest umstritten war. Der Tscheche Ondrej Celustka wollte den Ball klären, schoss aber den dänischen Angreifer Kasper Dolberg ab. Aus dem folgenden und unberechtigten Eckstoß fiel das 1:0 der Dänen. Die Ecke zu bekommen, das war Spielglück, sie zu verwandeln, das war Können.
Auch wenn das gestrige Viertelfinale kein hochklassisches Fußballspiel war, die lange Reise nach Baku und das schwül-warme Wetter werden wohl nicht geholfen haben, steht Dänemark nicht zu Unrecht im Halbfinale dieser Europameisterschaft. Schon vor dem Turnier war das Team von Kasper Hjulmand als Geheimfavorit auf dem Zettel mancher. Zwar nicht unbedingt fürs Halbfinale, aber dennoch für die K.-o.-Runde. Schließlich landeten sie in der Nations League noch vor dem nächsten Gegner England. Doch diese ganz geheime Geheimfavoritenrolle war spätestens nach dem 12. Juni vorbei. An diesem Tag wurden die Dänen ein anderes Team.
Es ist unvorstellbar, was sie beim Auftaktspiel gegen Finnland gemeinsam durchmachten. Diese bangen Minuten, wie sie mit anschauten, wie einer der ihren um sein Leben kämpfte. Wie Spielmacher Christian Eriksen auf dem Rasen ins Leben zurückgeholt wurde, wie der Teamarzt Morten Boesen es später selbst sagte. Wie auch die Frau Eriksens von Kapitän Simon Kjaer getröstet wurde. Genauso darf nicht vergessen werden, dass die UEFA das Team zwang, entweder am Ende des Abends oder am nächsten Mittag noch weiterzuspielen.
"Er war der beste Spieler über Jahre"
Eriksen, er spielt auch immer noch eine sehr große Rolle bei den Dänen. "Ich denke jeden Tag an Christian, vor dem Spiel und nach dem Spiel", sagte Coach Hjulmand nach dem 2:1-Erfolg gegen Tschechien. "Ich bin froh, dass er überlebt hat. Wir haben ihn hierhin mitgenommen und werden ihn auch mit nach Wembley nehmen."
"Christian hat letzte Nacht geschrieben, dass er sehr stolz auf uns ist", sagte Borussia Dortmunds Thomas Delaney. "Er war der beste Spieler über viele Jahre, wir tragen ihn in unserem Herzen, er sollte hier bei uns sein. Wir kämpfen immer noch damit. Aber ihn stolz zu machen, macht mich glücklich."
Und wie sie ihn stolz machen. Nicht ohne Grund stehen die Dänen erstmals seit 1992 wieder in einem EM-Halbfinale. Der 12. Juni bleibt ein besonderer Tag, doch was danach passiert ist, das zeichnet sie aus. Wie sie das wohl zweitschwierigste Spiel bei dieser EM angehen, ist erstaunlich. Schon in der zweiten Minute erzielte Yussuf Poulsen den Führungstreffer gegen Belgien. An dem gleichen Ort, an dem Eriksen kollabierte, jubeln die Fans wenige Tage später und peitschen ihr Team nach vorne. Nach einer furiosen ersten Hälfte kippte die Partie in den zweiten 45 Minuten. Die Einwechslung von Kevin De Bruyne führte die Roten Teufel zum 2:1-Erfolg.
Ohne einen einzigen Punkt geholt zu haben, ging es für die Hjulmand-Elf anschließend ins Gruppen-Finale gegen Russland. Schon gegen Belgien stellte er seine Formation um: Ohne den Zehner Eriksen agiert das Team im 3-4-3 statt im 4-3-3. Anders als die deutsche Nationalelf reagiert Hjulmand flexibel auf das ihm zur Verfügung stehende Personal und stellt mit Pierre-Emil Hojberg und Delaney zwei klassische Sechser vor die Abwehrkette.
Dolberg, Maehle, Braithwaite
Doch Hjulmand hält nicht stoisch daran fest. Im Achtelfinale gegen Wales korrigierte er seine Aufstellung. Als er die Unterzahl im Zentrum bemerkte, löste er die Dreierkette noch in der ersten Hälfte auf und beorderte Chelseas Profi Andreas Christensen von der Innenverteidigung ins defensive Mittelfeld. Die Änderung fruchtete, Dänemark bekam mehr Zugriff. Am Ende steht der 4:0-Erfolg, der auch eine weitere Geschichte schreibt.
Nämlich die des Kasper Dolberg. Der Stürmer kam gegen Wales für den verletzten Yussuf Poulsen rein, ausgerechnet im Stadion von Amsterdam, dort wo seine Profi-Karriere begann und zwischenzeitlich ins Stocken geraten war. Gegen Wales besorgte er per Doppelpack das Weiterkommen. "Es ist schwer zu glauben, dass das Wirklichkeit ist. Ich bewundere die Jungs und dass sie immer kämpfen. Egal, wer spielt, jeder spielt sehr gut. Die Jungs sind wahre Krieger", sagte Hjulmand danach.
Die Liste der "Krieger", die begeistern, ist lang. Auch der Profi von Atalanta Bergamo (und Gegenstück von DFB-Entdeckung Robin Gosens) Joakim Maehle spielt eine hervorragende EM. Der Außenverteidiger krönte seine Turnier-Leistung spätestens mit einer Außenristflanke vor dem 2:1 gegen Tschechien, die nicht nur wenige so nachmachen können, sondern der Versuch bei den meisten vermutlich schon kläglich endet.
Ein Riesen-Talent
Ähnlich viele Versuche unternahm Martin Braithwaite bei dieser EM. Selten waren sie von Erfolg gekrönt. Sein Tor hatte der Angreifer zwar erzielt, aber kein anderer Spieler brauchte bei dieser EM so viele Anläufe dafür - nämlich 13. Der 30-Jährige mit der besonderen Karriere, der zuletzt an der Seite von Superstar Lionel Messi spielte, wirft sich nicht nur in Flanken, sondern gleichermaßen auch in Zweikämpfe. Genauso auch das Talent Mikkel Damsgaard, das vor dem Turnier wahrscheinlich nur auf den Zetteln einiger Scouts stand, das mit dem 1:0-Hammer gegen Russland den EM-Wahnsinn der Dänen erst so richtig eröffnete.
Es ist einfach, das Narrativ des EM-Märchens zu bedienen und natürlich hat es auch seine Berechtigung. Aber das Drama um den kollabierten Christian Eriksen hätte in zwei Richtungen laufen können: Das Trauma hätte die Dänen verständlicherweise überwältigen können. Oder sie eben, wie erlebt, noch enger zusammenschweißen können. Dank Hjulmand und der eigenen Qualität. Und nicht nur das. Sie stehen völlig zu Recht im Halbfinale.
Quelle: ntv.de