Spaniens Coach Enrique Der Sturkopf mit der tragischen Geschichte
06.07.2021, 06:33 Uhr
Luis Enrique spielt am Abend um seinen größten Erfolg als spanischer Nationaltrainer.
(Foto: picture alliance/dpa/Sputnik)
Wenn am Abend Spanien gegen Italien um den Einzug ins Finale der Fußball-Europameisterschaft spielt, geht es auch um das nächste Kapitel einer aufwühlenden Geschichte: Spaniens Auswahltrainer Luis Enrique hat so viel hinter sich gebracht und gegen so viele Widerstände angekämpft.
"We need you!", twitterte Spaniens Nationalcoach Luis Enrique. Adressiert ist sein Gruß an die englischen Fans des spanischen Fußball-Nationalteams. Die eigenen werden es von der iberischen Halbinsel aus Corona-bedingt wohl nicht ins Londoner Wembley-Stadion schaffen und nur vor dem Fernseher sitzen, wenn ihr Team am Abend im Halbfinale der Europameisterschaft gegen Italien spielt (21 Uhr/ ZDF, Magenta TV und im Liveticker auf ntv.de).
Enrique und die spanischen Fans (egal, wo sie leben) - vor und während des Turniers war das manchmal eine schwierige Beziehung. Denn schon die Vorbereitung auf die Europameisterschaft lief nicht optimal. Bei seiner Kadernominierung hatte Cheftrainer Enrique das erste Tabu gebrochen und das halbe Land gegen sich aufgebracht: Kein einziger Spieler von Real Madrid stand im Aufgebot. Daheim gab das viel Ärger.
Dann der nächste Rückschlag: Mitten im Vorbereitungslager wurde Kapitän Sergio Busquets positiv auf das Coronavirus getestet. Wenige Tage später erwischte es mit Diego Llorente (falsch positiv) den zweiten Profi. Spanien musste in Kleingruppen trainieren, baute einen Schattenkader auf. Die EM-Generalprobe gegen Litauen musste die U21-Mannschaft absolvieren. Damit war die EM schon vor Turnierbeginn sehr kompliziert geworden.
Die Fans erzürnt, das Training von der Pandemie durcheinandergewirbelt: Doch Enrique blieb ruhig. Kurz vor dem EM-Auftaktspiel sagte er einen Satz, der all das wieder ins Verhältnis setzte. Der nichts offen ließ. Auf die Frage, wie sehr ihn die Situation mit dem Corona-Ausbruch in der Mannschaft psychologisch fordere, sagte er: "Das ist ein Kinderspiel im Vergleich zu dem, was ich erlebt habe." Zwölf Worte und alles war wieder egal.
Tragische fünf Monate
Für knapp fünf Monate im Jahr 2019 war Enrique nämlich nicht Spaniens Nationaltrainer. In der Zeit übernahm sein langjähriger Assistent Roberto Moreno. Ein Mann, der vorher nie in der ersten Reihe stand. Dennoch hatte er plötzlich das Sagen. Keiner wusste, warum. Die Gründe kamen erst später an die Öffentlichkeit. Erst hieß es, Enrique könne aus "dringenden privaten Gründen" nicht. Im Juni 2019 erfüllte sich für Moreno plötzlich und unerwartet ein Traum, als er vom Interims- zum Cheftrainer befördert wurde. Anfang September dann die Pressekonferenz, die Moreno niemals halten wollte, wie er selbst später sagte.
Wenige Tage zuvor wurde bekannt, weshalb Enrique das Traineramt unfreiwillig abtrat. Was eben diese "dringenden privaten Gründe" waren. Er machte öffentlich, dass seine neunjährige Tochter Xana gestorben war. Fünf Monate hatte sie gegen Knochenkrebs gekämpft, Ende August 2019 verlor sie den Kampf. Ganz Spanien trauerte mit dem Mann, der als Spieler von Real Madrid einst zum Erzrivalen Barcelona gewechselt war.
Doch schon im November kam Enrique zurück. Und wie. Der Streit um den spanischen Nationalcoach-Posten eskalierte öffentlich. Enrique warf seinem ehemaligen Assistenten vor, er sei illoyal, weil er den Trainerstuhl nicht räumen wollen würde. Übergangscoach Moreno bezichtigte daraufhin seinen ehemaligen Freund auf einer eigenen Pressekonferenz der Lüge und erklärte, das nie gefordert zu haben. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen.
Es sind solche Geschichten wie seine Spanien-Rückkehr, die zeigen, wie unbequem Enrique sein kann. Und wie stur. Auch bei dieser EM. Sergio Ramos, Isco, Daniel Carvajal: Sie alle ließ er daheim. Selbst Thiago, der (zugegeben) bei Liverpool keine überragende Saison gespielt hat, gegen Ende aber fit war, blieb während des Turniers bisher häufig außen vor. Stattdessen bekamen andere ihre Chance: der 18-jährige Pedri, Pablo Sarabia, Ferran Torres, auch der eilig eingebürgerte geborene Franzose Aymeric Laporte.
Kader, Aufstellung: überall Aufregung
Nicht nur beim Kader, auch bei der Aufstellung hatten die Fans vieles zu monieren. Für viele war unerklärlich, dass in den ersten Partien nicht Cesar Azpilicueta als rechter Verteidiger auf dem Platz stand, der noch vor wenigen Wochen mit dem FC Chelsea die Champions League gewann, sondern die Position mit Marcos Llorente von einem offensiven Mittelfeldspieler bekleidet wurde. Enrique wird wohl seine Gründe haben. Nicht umsonst ist ihm das Vertrauen seiner Elf sicher. Busquets adelte zuletzt den Coach mit den Worten, dass es Glück und ein Privileg sei, ihn zu haben.
Beim Publikum dauerte es jedoch, bis das angekommen war. Auch, weil der Start in die EM ergebnismäßig eher holprig verlief. Bei den ersten Gruppenspielen gegen Schweden und Polen bestach die Enrique-Elf zwar mit einer herausragenden Ballbesitzquote, vergaß aber das Toreschießen. Die eigenen Fans pfiffen das Team nach dem Auftaktremis gegen Schweden im heimischen Olympiastadion von Sevilla aus. Es drohte schon gegen die Slowakei und damit vor der K.-o.-Runde das Turnieraus. Die spanische Presse rief den "Alarm in Rot" aus und ntv.de schrieb, dass die Tor-Phobie den EM-Erfolg gefährde. Im Rückblick alles etwas übertrieben.
Die Kritik am Trainer und vor allem an seinem Angreifer der Wahl, Alavaro Morata, wurde groß. Im Auftakt gegen Schweden vergab Morata einige Großchancen und die Wut der Fans wurde immer größer. Irgendwann schlug sie in blanken Social-Media-Hass um und der 28-jährige Angreifer von Juventus Turin musste sich mit Morddrohungen auseinandersetzen. Die Fans forderten, dass jemand anderes im Sturmzentrum spielt: Gerard Moreno vom Europa-League-Sieger FC Villareal. Schließlich war er der zweitbeste Torschütze der spanischen Liga hinter dem nun vereinslosen Lionel Messi. Und Enrique? Der ließ Morata in seiner Startaufstellung. Provokant sagte er vor dem Polenspiel, dass er sich erst noch überlegen müsse, wer die anderen zehn Spieler um Morata herum sein werden.
Morata dankte es ihm mit zwei Turniertoren. Ein wichtiges davon in der chaotischen Verlängerung im Achtelfinale gegen Kroatien. Dort zeigte er, warum Enrique auf ihn setzt. Als er eine Flanke mit dem rechten Fuß annahm und mit den linken unhaltbar zum vorentscheidenden 4:3 verwandelte. Nach dem mitreißendem Spiel sagte Enrique zur anwesenden Presse: "Ich habe eine Schlagzeile für euch: Genießt den Fußball!" Enrique, der Sturkopf mit der tragischen Geschichte, hat viel dafür gegeben und viel dafür ausgehalten, Spanien, das über Jahre nicht mehr über das Achtelfinale bei einem großen Turnier hinausgekommen war, den Genuss zurückzugeben.
Quelle: ntv.de