Der Zirkus ist aus dem Land Deutschland hat die EM endlich hinter sich
03.07.2021, 11:42 UhrDie Fußball-Europameisterschaft endet für die deutsche Nationalmannschaft früh, das Land bleibt noch eine Runde länger im Turnier. Zwei großen Teams schenkt Deutschland einen großartigen Abschied. Nun ist ein kompliziertes Turnier endgültig Geschichte.
Nein, man kann nicht behaupten, dass das Land in große Depression verfallen ist, nachdem die deutsche Fußball-Nationalmannschaft durch ein 0:2 gegen England im Achtelfinale dieser Europameisterschaft ausgeschieden war. Zu gering war die Fallhöhe für das Team von Joachim Löw, das sich im Verbund mit dem Verband über Jahre die maximale Entfremdung der Fußball- und Schunkel- und Klatschpappen-Anhänger im Land erspielt hat. Schon einen Tag nach dem Scheitern hängen in Münchens Kaufhäusern die DFB-Leibchen für die Hälfte. Und sie hängen da ausdauernd, so schlaff wie bisweilen der Offensivvortrag des deutschen Teams. Die zurückhaltende Beflaggung einzelner Autos und Balkone ist längst verschämt eingeholt.
Auch für die Hersteller von Fanartikeln ist dieses Turnier ein Desaster. Adidas, der Hersteller der deutschen Trikots, gab erst gar keine Verkaufszahlen raus, während selbst bei der verkorksten WM 2018 noch millionenfach die Hemden mit dem Bundesadler über den Tresen gingen. "Es tut mir leid, dass wir unsere Fans enttäuscht haben und nicht die Begeisterung ausgelöst haben, die wir uns vor dem Turnier vorgenommen haben", sagte der scheidende Bundestrainer Joachim Löw, dessen Ära nach dem Ausscheiden endete. Ja, das haben sie geschafft: keine Euphorie auszulösen. Nicht am Spielort München, nicht im Land.
München war ein standhafter Standort
München war dabei ein guter Standort für diese Europameisterschaft. Nicht aus Sicht der UEFA vielleicht. Dafür gab man sich ausdauernd zu störrisch. Bis zum letzten Tag ließ man sich nicht vom Verband erpressen, der Zuschauergarantien forderte. Man beließ es bei der Zusage wohlwollender Prüfung und durfte aufgrund politischer Faktoren, die nie öffentlich wurden, seine EM-Spiele behalten. Anders als Dublin und Bilbao, die ebenfalls keine Fans und volle Stadien garantierten wollten, und die von der Landkarte dieses Turniers gestrichen wurden.
Und schon früh machte man klar, dass die Auslastung nicht während der Gruppenphase hochgefahren wird, trotz stabil niedriger Inzidenzen. Bilder aus vollbesetzten Stadien in Budapest oder London sorgten indes weithin für Fassungslosigkeit. Und ja, auch Neid. Bei aller Empörung, die Schönheit eines vollen Fußballstadions ist außerhalb von Pandemien nur schwer zu leugnen. Nun sind die Bilder von zurückhaltend befüllten Arenen und solchen, in denen die Fans ihren Siegesrausch dicht an dicht ausleben, Symbol eines Europas der Kleinstaaterei. München ließ Vernunft walten.
Und dann war da noch die Sache mit der Regenbogen-Farce, als die Stadt den Verband bloßstellte. Es wäre zu viel Politik gewesen, wenn die EM-Arena für ein Spiel lang als Zeichen der Solidarität mit der LGBTG+-Bewegung in den Regenbogenfarben erstrahlt wäre. Im folgenden Sturm der Entrüstung stand der Verband schlecht da, das Thema wuchs mit der Empörung. Man gab sich bei der UEFA, die sich "Respect" und "Equal Game" und über die Jahre allerhand andere schön anzuschauende Slogans auf die Fahnen geschrieben hatte, dann im Nachgang doch irgendwie solidarisch, färbte das eigene Logo ein - und verbot seinen Sponsoren dann, in St. Petersburg und in Baku, das auf nur scheinbar wundersame Weise Teil dieser Veranstaltung geworden war, ihre Werbung auf den Banden im Regenbogenlook auszuspielen.
Eine EM, der kein Zauber innewohnte
Dass München sich für den Regenbogen eingesetzt hatte, wurde in Ungarn, dessen arg umstrittene Homosexuellen-Gesetze der Anlass für den Protest waren, als Provokation aufgefasst. Das dritte Gruppenspiel, eben gegen jene Ungarn, es wurde zum Politikum. Die deutschen Spieler äußerten sich vielfach klar und klug und deutlich und mit großer Entschiedenheit und ließen dann sportlich alles davon vermissen. Aus Deutschland immerhin verabschiedeten sie sich mit dem Ein-Mann-Lovestorm des Leon Goretzka, der den zuvor homophob auffällig gewordenen ungarischen Fans einen Mittelfinger in Herzform entgegenstreckte. Es war mehr als eine politische Botschaft.
Das Spiel selbst taugte trotz des kurzen Taumels kurz vor Schluss schon nicht mehr zum großen gemeinsamen Moment von Mannschaft und Fans, der große Schulterschluss fiel aus. Das arg erzitterte Weiterkommen nach einer bisweilen skurrilen Vorstellung wurde bestenfalls pflichtschuldig gemeinsam gefeiert, wenige Minuten nach dem Schlusspfiff war der Schulterschluss schon wieder aufgelöst. Zu groß war der Stimmungsabfall, zu hart war der Tritt auf die Euphoriebremse nach dem höchst gelungenen 4:2 über Portugal. Nein, dieser Europameisterschaft wohnte nur für Augenblicke ein Zauber inne.
Der größte Glücksmoment, den diese Europameisterschaft in die zur "Fußball Arena München" umgewidmeten Allianz Arena brachte, passierte schon, bevor der erste Pass des Auftaktspiels gespielt war: Ein Umweltaktivist steuerte sein Fluggerät ins Kabel der über dem Spielfeld montierten "Spider Cam" und verhinderte mit höchster Mühe und Not, in die Haupttribüne zu krachen. Dass nur zwei Menschen leicht verletzt wurden, war Glück. Eine Katastrophe fiel nochmal aus, knapp. Es war gut, dass die Arena nur spärlich besetzt war. Aus vielerlei Gründen. Für Greenpeace, in dessen Auftrag der Mann unterwegs war, war die Aktion ein Desaster. Für die deutsche EM-Mission war es ein Omen. Der ungeplante Absturz.
Zum Abschluss bekam München noch ein Spiel geschenkt, das Fußball zeigte, wie er sein soll. Wie er sein kann. Wie er von der deutschen Mannschaft auch erwartet werden darf. Nur die deutsche Mannschaft bringt ihn eben nicht aufs Feld. Höchstens an den selten gewordenen Festtagen des deutschen Fußballs. Belgien gegen Italien, ein Viertelfinale. Es war Fußball zum Staunen und Fußball zum Leiden: Wie Belgiens Kevin De Bruyne mit der Ballannahme in die Tiefe startet, in höchstem Tempo. Der Angreifer von Manchester City dreht auf schon im Aufdrehen. Und Lukaku, diese Mensch-Maschine mit dem Kombinationsgeist, wirkt noch dann bereiter fürs Spiel und gefährlicher, als viele andere, wenn er nur auf dem Rasen kniet und sich die Schuhe bindet.
Die Italiener mit ihren ebenfalls dribbelwilligen Außenspielern, die mit höchstem Tempo und höchster Überzeugung ins Duell gehen. So eben, als würden sie wirklich dran glauben, irgendetwas Zählbares erreichen zu können. Deutschland gewann im gesamten Turnier nur zwei Dribblings, weniger als alle anderen Teams. Gingen die Deutschen ins Dribbling, war das Spiel tot. Die großartigen Abwehrhaudegen Giorgio Chiellini und Leonardo Bonucci sind derweil wie Hund und Halter, die sich im Alter immer ähnlicher werden. Von schräg oben sind die beiden Senioren kaum noch zu unterscheiden. Ein wunderbares Duo, wenn man das Verteidigen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln als Kunstform anerkennt. Das Duell des ewigen Geheimfavoriten Belgien, dessen "Goldene Generation" nun zu früh gescheitert ist, und Italien, dem vielleicht besten Team bei dieser Europameisterschaft, es zeigte, wie Fußball sein soll. Zum Staunen, zum Wundern und zum Ärgern. Ärgern und wundern durfte man sich ja auch über die deutsche Mannschaft, es ist aber alles eine Frage der Mischung.
Den Zirkus ziehts in den Hotspot
Es gilt noch abzuwarten, wie sich die Inzidenzen im Nachgang zum paneuropäischen Reisezirkus entwickeln, ob Public-Viewing-Events und die konsequente Ignoranz gegenüber Masken- und Abstandsregeln im Stadion einen Rückschlag im Kampf gegen die Pandemie bedeuten. Dann muss man sich aus Fußball-deutscher Sicht nicht mehr weiter mit dieser Europameisterschaft beschäftigen, wenn man nicht Nationalspieler oder sonst wie beim DFB in verantwortlicher Position tätig ist. Nicht mal der Bundestrainer ist noch im Amt.
Nun trifft sich Fußball-Europa zum Endspurt dieses Turniers eben in London, der Stadt der steigenden Inzidenzen, in die man als ausländischer Gast nur unter strengen Quarantänevorschriften hinein- und wieder hinauskommt. Normalerweise, wenn man eben nichts mit der UEFA zu tun hat. Ist man Gast der UEFA, gelten Regeln, die eigentlich für alle gelten, eben nicht. Die UEFA ist größer als das Virus und größer als Regierungen. Unter dem Schutz der UEFA kann man dieser Tage unbehelligt quer über den Kontinent reisen. Auch in den Hotspot London. Alle Teilnehmer werden viele, viele Tausende Flugkilometer hinter sich haben.
Dass die Schweiz kurz vor London ausgeschieden ist, bringt sie nicht um den Titel der weitgereisteten Mannschaft des Turniers: In der Gruppenphase schickte die UEFA den Außenseiter von Baku zum zweiten Spiel nach Rom und wieder zurück nach Aserbaidschan. Gut 6000 Kilometer waren die Schweizer alleine während der Gruppenphase in der Luft. Von Baku nach Bukarest, wo das "Wunder" gegen Frankreich gelang, sind es dagegen bescheidene 2000 Kilometer. Der Weg nach St. Petersburg zum Viertelfinal-Aus brachte die Reisegruppe Eidgenossen dann auf rund 10.000 Flugkilometer, in London wären es dann 12.000 gewesen. Ein Wahnsinn.
Für Deutschland ist diese komplizierte Europameisterschaft der Schwierigkeiten und des europäischen Dissens, deren wichtigste Spiele in einem Land stattfinden, das sich in der Bekämpfung der Pandemie schwertut und sich mit großer Überzeugung aus der EU verabschiedet hatte, nun endgültig beendet. Geblieben ist die Idee vom Regenbogen. Sie bleibt sogar noch ein bisschen, wenn der EM-Zirkus schon weitergezogen ist. Das immerhin ist ja nicht schlecht.
Quelle: ntv.de