Hässliche Szenen, UEFA kuscht Die große Inszenierung von Erdogan und Özil zerplatzt

Mesut Özil flog für das Türkei-Spiel nach Berlin.

Mesut Özil flog für das Türkei-Spiel nach Berlin.

(Foto: picture alliance / Matthias Koch)

Provokationen seitens des türkischen Präsidenten Erdogan bereiten Berlin Kopfschmerzen, aber seine Show zerschellt an einer Oranje-Party im EM-Viertelfinale. Teil einer großen Inszenierung ist auch Mesut Özil. Am Ende bleibt ein mulmiges Gefühl.

Es ist eine unschuldige Szene. Und doch tut sie im Herzen weh. Vor dem Olympiastadion in Berlin reiht sich eine Familie auf, die es mit dem türkischen Nationalteam hält, um vor dem EM-Viertelfinale, das die Niederlande am Ende mit 2:1 (0:1) gewinnen, ein Erinnerungsfoto zu schießen. Von Kleinkindern bis Großeltern ist alles mit dabei. Ein paar tragen Trikots, andere Freizeitkleidung, ein paar der Frauen ein Kopftuch, andere die Haare offen. Eine normale Berliner Familie. Alle lächeln für das Foto - und auf einmal zeigt ein etwa neunjähriges Mädchen den Wolfsgruß. Ganz kurz nur, dabei blickt sie sich ein wenig verängstigt um. Sie weiß, dass die Geste irgendwas Verbotenes oder Schlimmes ist, doch was genau, das sicher nicht. Dafür ist sie zu jung.

Eine kleine Szene zeigt, dass das Politische das gesamte Viertelfinale zwischen der Türkei und der Niederlande überlagert. All die Provokationen der letzten Tage und Stunden, die hässlichen Szenen mit türkisch-rechtsextremistischen Wolfsgrüßen - unter deren Verwendung in der Türkei bereits Pogrome an Aleviten, syrischen Flüchtlingen und andere Minderheiten verübt wurden -, Bannern und Parolen vom Samstag, sie haben in diesem Moment gesiegt. Sie stellen die vielen friedlich feiernden Fans in den Schatten, etwa den kleinen Jungen im Spiderman-Ganzkörperkostüm mit einer türkischen Flagge auf dem Rücken, der seine Hip-Hop-Tanzschritte auspackt. Oder das Mädchen im Türkei-Trikot, das von ihrer Mutter gefilmt wird, während sie wie wild zu Taylor Swifts Welt-Hit "Shake it off" herumhopst, den eine Schüler-Band mit Blasinstrumenten zum Besten gibt.

Teil dieser alles konsumierenden Provokationen ist Präsident Recep Tayyip Erdogan. Der für seine Inszenierungen bekannte türkische Präsident ist sich des besonderen Schauplatzes bewusst, sagt einen Trip nach Aserbaidschan ab und reist kurzerhand nach Berlin, um seine Nationalelf anzufeuern - und in der Aufmerksamkeit der Menge zu baden. Eine perfekt konstruierte Machtdemonstration des nationalistischen Autokraten live im deutschen Fernsehen. Vor den Augen von Millionen von Zuschauern auf der ganzen Welt.

Machtdemonstration von Erdogan

Anfangs wirkt auch alles wie gemacht für die große Erdogan-Inszenierung. Nachdem eine Kohorte der türkischen Botschaft ihn und seine Ehefrau Emine am Flughafen abholt, lässt er sich mit zwei Maybach-Limousinen ins Olympiastadion fahren. Dort wird Erdogan warm empfangen, als er 20 Minuten vor Anpfiff auf der Ehrentribüne eintrifft. Er wirft Küsse ins Publikum. Fasst sich ans Herz. Will in Richtung der vielen türkischen Fans zeigen: Ich liebe euch alle, ihr seid meine Kinder, Papa ist da.

Provokation ist auch, als Erdogan in der Türkei Deutschlands Botschafter einbestellt, nachdem die deutsche Politik den Wolfsgruß-Jubel von Merih Demiral kritisiert hatte. Dass er anschließend in die Bundesrepublik fliegt, ohne mit Kanzler Olaf Scholz oder einem anderen Vertreter der Regierung zu sprechen, soll ein Zeichen sein, dass er die Zügel in der Hand hat und diktiert. Sich nicht herumkommandieren lässt, der starke Mann ist. Erdogan demonstriert seine Macht, weniger in Richtung Scholz und Co. als in Richtung Heimat und Wählerschaft.

Schlussendlich war die UEFA-Sperre gegen Demiral auch so etwas wie eine Delegitimierung der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), weil der Wolfsgruß ihr Zeichen ist, und damit eines Regierungspartners von Erdogan. Das konnte der Präsident nicht auf sich sitzen lassen. Die MHP ist der politische Arm der Grauen Wölfe und ein Teil der türkischen Regierung an der Seite von Erdogans AKP. Kamal Sido, Referent von der "Gesellschaft für bedrohte Völker", sagt zu ntv.de: "Ich vertrete die Meinung, dass die Ideologie der Grauen Wölfe auch die inoffizielle Ideologie des türkischen Staates ist." Als Graue Wölfe werden die Anhänger der rechtsextremistischen Ülkücü-Bewegung bezeichnet, die in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet wird.

Eren Güvercin, Mitbegründer der Alhambra-Gesellschaft, die sich für einen offenen innermuslimischen Dialog einsetzt, erklärt vor der Partie gegenüber ntv.de, dass es sich für Erdogan nicht um einen normalen Besuch eines Fußballspiels der türkischen Nationalmannschaft handele. "Er nutzt jede Gelegenheit, um eine Position der Stärke für seine Anhänger zu inszenieren", so Güvercin. "Nach der Debatte um den Wolfsgruß nach dem Achtelfinalspiel war klar, dass Erdogan diese Gelegenheit nutzen wird, sich als Führer der Türkei zu inszenieren."

Auch Mesut Özil ist Teil der Show

"Die Tatsache, dass Erdogan alle seine Termine abgesagt hat, auch andere Reisen ins Ausland, um bei dem Spiel dabei zu sein, deutet darauf hin, dass er Provokationen im Schilde führt", meint auch Experte Sido. Dies könne entweder direkt im Stadion oder durch Aussagen rund um das Spiel geschehen. "Ich gehe davon aus, dass er Botschaften an den nationalistischen Teil der türkischen Bevölkerung übermitteln will, durch Symbolik oder Gesten", sagt er weiter.

Zur großen Symbolik kommt es, als die türkische Nationalhymne läuft. Ultra- und nationalistische Gruppen hatten türkische Fans dazu aufgerufen, dabei den rechtsextremen Wolfsgruß zu zeigen. Und Tausende leisten Folge. Eine Massenprovokation, die Erdogan sichtlich schmecken dürfte. Eine bedrohliche Geste für alle Minderheiten - seien es Kurden, Armenier, Juden oder Jesiden - die die rechtsextreme Gruppierung der Grauen Wölfe in der Türkei und in Deutschland als Feindbilder ansieht.

Im Meer von Wolfsgrüßen, auch wenn längst nicht alle türkischen Fans mitmachen, stehen nicht weit von Erdogan entfernt auf der Ehrentribüne Turnierdirektor Philipp Lahm, die Oranje-Legenden Edgar Davids und Clarence Seedorf - und Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt. "Wir versuchen immer, dass Vertreter der deutschen Regierung dabei sind", hatte Kanzler Olaf Scholz zuvor über den Besuch von Erdogan bei der EM gesagt.

Weitaus näher an Erdogan sitzt Mesut Özil, genau eine Reihe hinter dem Präsidenten. Sie beide lauschen der Hymne, ohne den Wolfsgruß zu zeigen. Wenngleich Erdogan dies früher schon mal getan hat und Özil sich im vergangenen Jahr mit einem Tattoo der Grauen Wölfe auf der Brust in den sozialen Medien präsentierte. Der ehemalige deutsche Nationalspieler flog ebenfalls kurzfristig nach Berlin und teilte dabei in einer Instagram-Story ein Bild mit dem türkischen Nationalspieler Merih Demiral beim Wolfsgruß-Jubel nach dem Österreich-Spiel. Er kündigte sein Erscheinen mit einem Foto aus dem Flugzeug an, "I am coming" steht auf dem Bildausschnitt, der seinen Nadelstreifenanzug und eine teure Uhr zeigt. Damit stand Özil Erdogan in Sachen Inszenierung in nichts nach.

UEFA kuscht, kein Verbot der Wolfsgrüße

Dass die rechtsextremen Gesten ungeahndet geschehen können, liegt daran, dass weder der Wolfsgruß noch die Grauen Wölfe in Deutschland verboten sind, obwohl seit 2020 im Bundesinnenministerium eine Verbotsprüfung läuft. "Das Problem des türkischen Rechtsextremismus", meint Güvercin, "wird seitens der Politik zu oft nicht ernst genug genommen. Wenn wir von einer Brandmauer gegen Rechts sprechen, muss das auch den türkischen Rechtsextremismus umfassen, da die Grauen Wölfe in Deutschland sehr gut organisiert sind." Das größte Problem, das den Samstag über in Berlin immer wieder sichtbar wird, laut dem Journalisten und Autor: "Ankara versucht durch eine aggressive Diasporapolitik, nationalistisches Gedankengut insbesondere unter jungen Türkeistämmigen in Deutschland zu verbreiten."

Auch die Kurdische Gemeinde in Deutschland fordert ein Verbot der Geste. "Fans übernehmen solche Zeichen, unter türkischen Jugendlichen auch in Deutschland gilt es als cool, rechtsextrem zu sein", sagte der Bundesvorsitzende Ali Toprak in einer Erklärung. "Man stelle sich vor, ein österreichischer Spieler hätte nach einem Torschuss einen Hitlergruß gezeigt."

Derweil kuscht die UEFA angesichts der massenhaften türkisch-rechtsextremistischen Gesten. Sie schreitet nicht ein, dabei hätte sie das Spiel noch vor dem Anpfiff unterbrechen können, laut ihres Drei-Stufen-Plans bei diskriminierenden Vorfällen. Stattdessen zeigen die TV-Bilder der UEFA die hässlichen Szenen nicht einmal. Nur im Stadion und im Internet bekommen die Menschen sie mit. Der Verband beweist damit, dass man seine Anti-Diskriminierungskampagne nicht ernst nehmen kann, wollte laut Informationen des "Tagesspiegel" aber auch eine Eskalation vermeiden.

Oranje crasht die Türkei-Party

Erdogan hat eine Provokationsrunde gewonnen. Auch für ihn, den die Grauen Wölfe als eine Art Anführer ansehen, werden die Arme mit dem Wolfsgruß in den Abendhimmel gereckt. So wie bei den Kundgebungen vor dem Spiel, als die Berliner Polizei einschritt und einen Fanmarsch zunächst vorübergehend stoppte und dann wegen anhaltender rechtsextremer Gesten komplett abbrach. Eine Gruppe von schwarz gekleideten Ultras hatte bei der Kundgebung laut Videos in den Sozialen Medien die Parole skandiert: "Wir wollen keine Flüchtlinge in unserem Land."

Das Sportliche sorgt aber dafür, dass die Inszenierungs-Show von Erdogan und Özil immer mehr verpufft. Bei dem Führungstor durch Samet Akaydin (er küsst das Wappen auf dem Trikot, zeigt keinen Wolfsgruß) in der 35. Minute ist die Laune auf der Erdogan-Tribüne noch gut: Der Präsident legt kurz den Arm um die Schultern seiner Ehefrau, er weiß, wie er sich vor den Kameras zeigen muss. Dann winkt er zum Jubel in die Masse, klopft sich aufs Herz. Mesut Özil verteilt High-Fives.

In der zweiten Halbzeit aber entreißt Oranje mit einem Doppelschlag durch Stefan de Vrij (70.) und ein Eigentor von Mert Müldür (76.) der Türkei das Spiel. Nun tanzen die Fans in Orange, der komplette Block hüpft von rechts nach links, während bei Erdogan und Co. verzerrte Minen und Stille herrschen. Mit Niederlage und Ausscheiden ist die Wirkung von Erdogans Machtdemonstration am Ende um einiges geringer.

"Mulmiges Gefühl" bleibt

Nach dem Abpfiff schaut Erdogan in der türkischen Kabine vorbei und schüttelt die Hände der Spieler. Auch das sind medienwirksame Bilder. Mit Siegerposen aber kann er nicht punkten. Derweil gibt es vereinzelt Randale, Festnahmen und Hup-Konzerte in Berlin, doch insgesamt bleibt es ruhig. Mesut Özil verschwindet ohne einen großen Auftritt.

"Türkische Fußballfans in Deutschland, die mit ihrer Mannschaft mitfiebern, stehen vor einem Dilemma", hatte Güvercin vor der Partie gesagt. "Man kann durch diese Politisierung des Fußballs durch türkische Rechtsextremisten nicht einmal mit ruhigem Gewissen einfach nur den Fußball genießen. Man hat immer ein mulmiges Gefühl." Das ist nun bei dieser EM vorbei.

Das mulmige Gefühl aber bleibt. Etwa, wenn ein neunjähriges Mädchen einen rechtsextremen Gruß zeigt, von dem sie nicht wissen kann, welches Leid er bedeutet.

Quelle: ntv.de

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