Tor und Horrorpass von Kane Jaulende Kätzchen: Was ist nur mit EM-Favorit England los?
20.06.2024, 23:55 Uhr
Wach werden, Männer!
(Foto: REUTERS)
Ist das abgezockt oder fürchterlich? Am Spiel der englischen Fußball-Nationalmannschaft scheiden sich die Geister, nicht erst seit dieser EM. Doch beim zweiten Auftritt in diesem Turnier bekommt der Favoritenstatus der "Three Lions" erste große Kratzer.
Diese Fußball-EM ist bislang eine große Party. Die Schotten helfen einer Oma im Regen und feiern Deutschlands Biervorräte leer, in Dortmund melden die ersten Kneipen Alarm. In der gleichen Stadt verzaubern die Türken und Georgier den Kontinent mit einem Schlagabtausch, der kaum noch zu toppen ist. Die DFB-Elf wächst zu einem Titelfavoriten, der Trainer-Ikone Ewald Lienen bereits zu einem Autokorso bewegen möchte. Österreich knöpft sich die Franzosen vor und muss sich am Ende knapp der gigantischen Qualität der "Équipe Tricolore" beugen. Die Spanien zaubern, die Albaner kämpfen sich in die Herzen. Ach, alles herrlich.
Nur nicht bei den Engländern. Die müssen zum Auftakt ins "Shithole" Gelsenkörken und kommen da nicht mehr weg. Zumindest einer nicht. Alle andere mit reichlich Verspätung und Unmut. Und sie kamen ohnehin schon in geschlagener Stimmung. Der letzte Test vor der EM gegen Island wird zur "Horrorshow von Wembley". Kann doch alles gar nicht sein, diese Mannschaft ist doch der Top-Favorit auf den Titel. Wobei man "ist" nach dem 2. Spieltag durch "war" ersetzen muss. Mit einer Leistung, die mit "gurkig" ganz gut beschrieben ist, retten die "Three Lions" in Frankfurt ein wackliges Remis (1:1) gegen Dänemark. Kyle Walker, höchst dekorierte Fachkraft von Superteam Manchester City, findet an den Vorgängen im mächtigen Stadion der Eintracht nichts Schlimmes: Spitzenplatz in der Gruppe verteidigt. Verdienten Punkt ergattert. So sieht er das.
Tore: 0:1 Kane (18.), 1:1 Hjulmand
Dänemark: Schmeichel - Andersen, Vestergaard, Christensen Bødtker - Maehle, Hjulmand (82. Nørgaard), Højbjerg, Kristiansen (57. Bah) - Wind (57. Damsgaard), Eriksen (82. Olsen) - Hojlund (67. Poulsen). - Trainer: Hjulmand
England: Pickford - Walker, Stones, Guehi, Trippier - Alexander-Arnold (54. Gallagher), Rice - Saka (69. Eze), Bellingham, Foden (69. Bowen) - Kane (69. Watkins). - Trainer: Southgate
Schiedsrichter: Artur Soares Dias (Portugal)
Gelbe Karten: Vestergaard, Maehle, Nørgaard - Gallagher
Zuschauer: 47.000 (ausverkauft) in Frankfurt am Main
Diese wohlwollende Meinung hatte der pfeilschnelle Außenverteidiger recht exklusiv. Aus der Heimat flog den Löwen kurz nach Abpfiff die erste krachende Headline-Ohrfeige um den Kopf: "Was für eine schreckliche Leistung", schimpfte der "Daily Mirror". Nichts, wirklich gar nichts an diesem Spiel hatte Argumente dafür geliefert, dass am 14. Juli die große Titel-Sehnsucht nach 58 Jahren gestillt wird. Nicht mal das eigene Tor, erzielt von Harry Kane nach 18 Minuten. Auf der linken Abwehrseite fällt der Däne Victor Kristiansen in einen fatalen Sekundenschlaf, Walker sprintet dazwischen, seine abgefälschte Hereingabe landet bei Kane. Und der macht die Dinger aus kurzer Distanz dann eben locker weg - 1:0. Das Spiel war gerade ein wenig munterer geworden.
Und zack, wieder im Ruhemodus
Doch noch bevor die Engländer so richtig hochgefahren hatten, schalteten sie wieder in den Ruhemodus und kamen fortan kaum noch heraus. Bukayo Saka köpfte ein paar Minuten nach der Pause einmal ans Außennetz, Phil Foden haute den Ball wenig später nach einer schönen, schnellen Bewegung an den Pfosten. Aber sonst? Fußball, der keiner war. Eine Nicht-Leistung, nah am Arroganzanfall. In manchen Situationen deutlich darüber hinaus. Als würde der Gegner, der bei der letzten EM im Halbfinale nach einem umstrittenen Tor von Kane in der 104. Minute knapp besiegt worden war, nicht richtig ernst genommen.
Die vielleicht erschütterndste Szene für alle Fans der "Three Lions" passierte in der 66. Minute. Am eigenen Strafraum wird Declan Rice von Kieran Tripper angespielt, die Dänen laufen an und der 120 Millionen Euro schwere Sechser der Löwen spielt den Ball einfach ins Tor-Aus. Fassungslosigkeit bei Rice, bei seinen Kollegen, auf den Rängen. Was war denn da los? Eingeschüchtert wie ein Kätzchen, das man auf den Schwanz getreten hatte, agierte die Mannschaft von Gareth Southgate, um den es weiter nicht ruhiger werden wird.
Southgate lässt seine Mannschaft selten von der Leine. Die großen Stars der Offensive, Kane, Foden und Saka kommen nur selten zur Entfaltung. Sie können Fußball so wahnsinnig schnell und einfach aussehen lassen. Wie eine andere Sportart, auch im Vergleich zu einigen anderen europäischen Top-Ligen. Und auch Jude Bellingham, in Gelsenkörken noch bester Mann, bekam an diesem Donnerstagabend kaum etwas auf die Kette. Der Weltstar von Real Madrid winkte immer wieder verzweifelt ab, wenn der Schiedsrichter nicht pfiff, wenn seine Mitspieler wieder einmal keine gute Idee hatten, wie das Spiel nach vorne gestaltet werden kann.
Schlafmütze Kristiansen liefert zu
Bei einem Angriff verlor Kane mit einem Horrorpass im Zentrum den Ball. Die Dänen schalteten sofort um. Schlafmütze Kristiansen spielte einen einfachen Pass auf Morten Hjulmand und der laserte den Ball aus der Distanz in die Ecke (34.). Keeper Jordan Pickford war machtlos. Die Engländer verloren sich bis zur Pause selbst. Gefühlt keinen Zweikampf gewannen sie mehr. Sie fielen, sie haderten, sie schimpften. Nur Fußball, den spielten sie nicht. Von den Rängen, wo so oft die große Unterstützung herkommt, hagelte es laute Pfiffe. Bis zu einem Konzert wuchsen sie an.
Southgate nahm das stoisch hin. Er ließ die Dinge laufen, obwohl sie nicht in eine gute (englische) Richtung liefen. Auch zur Pause nahm er erst keine Korrekturen vor. Nach knapp zehn Minuten kam Conor Callagher, ein Mann für das zentrale Mittelfeld. Ein Kontrolleur, keiner für den enthemmten Lieferbefehl. Der blieb aus. Mit der Beharrlichkeit des deutschen Bundeskanzlers hatte Southgate alle Debatten um eine veränderte Startaufstellung und einen weniger defensiven Ansatz für dieses Offensiv-Monster ausgesessen. Warum ein Cole Palmer, der Shootingstar des FC Chelsea, etwa keine Chance hat, bleibt ein Rätsel. Auf den Sieg drängten die Engländer nicht mehr. Vielmehr drückten die Dänen und hatten bei einem Schuss von Pierre-Emile Höjbjerg Pech (85.).
"Wir schaffen das"
Walker, den dieser Auftritt ja nicht erschüttert hatte, widersprach im Interview der vorherrschenden Meinung, dass der Trainer seine Spieler zurückhalte, sie nicht nach vorne spielen lassen wolle. Es sei anders, Southgate wünsche sich schon den Vorwärtsgang. Dann brach das Gespräch im deutschen Fernsehen leider ab. So weiß man also nicht, wie der Gang in die Offensive aussehen soll. Vermutlich sehr kontrolliert und nicht enthemmt. Southgate, der englische Elfmeter-Unglücksschütze aus dem EM-Halbfinale gegen Deutschland 1996, ist ein großer Freund der defensiven Null. In 21 Turnierspielen blieb England unter seine Anleitung ohne Gegentreffer. Das ist, laut Weisheit, das Fundament für den Titel. Und der soll ja her.
"Ich weiß, dass es zu Hause wahrscheinlich viel Lärm und ein wenig Enttäuschung geben wird, aber das haben wir auch bei der letzten EM erlebt, als wir gegen Schottland unentschieden spielten", sagte Kapitän Kane und fügte beschwichtigend an: "Wir schaffen das. Wir sind Spitzenreiter, wir können uns noch verbessern." Müssen sie auch, sonst droht ein mögliches Achtelfinale gegen Deutschland, Oh dear.
Quelle: ntv.de