Noch fehlen zwei erfolgreiche Turnierspiele, dann ist Italien nicht nur seit 34 Spielen ungeschlagen, sondern auch Fußball-Europameister. Von den unterhaltsamen Auftritten kann sich auch das DFB-Team etwas abschauen. Dabei teilen beide Fußball-Nationen ein (fast) gleiches Schicksal.
Selbst Markus Söder ist überzeugt. Gut, ob der CSU-Chef und Beinahe-Kanzlerkandidat der Union wirklich als ausgewiesener Fußball-Experte zählt, sei mal dahingestellt. Aber auch er hat erkannt, was wahrscheinlich viele erkannt haben: Es macht wirklich Freude diesen Italienern zuzugucken. Wie sie bei der Europameisterschaft Traumtore schießen und Traumtore verhindern, "das macht schon richtig Spaß!", findet auch Olaf Thon, Weltmeister von 1990, im ntv-Interview.
Beim DFB-Team, und so ehrlich sollte man sein, hat es das nicht gemacht. Oder bestenfalls nur sehr selten. Die Mannschaft von Bundestrainer Joachim Löw mühte erst sich ins EM-Achtelfinale, um dort glanzlos gegen England auszuscheiden. Einzig beim 4:2-Gruppenerfolg gegen Portugal kam wenigstens so etwas wie Euphorie und Freude auf. Aber dass die gesamte DFB-Hintermannschaft dann Matthias Ginter nach einer gelungenen Abwehraktion ähnlich herzt wie die Italiener ihren Abwehr-Routinier Leonardo Bonucci, in einem Spiel, in dem es um nichts mehr geht? Unvorstellbar.
Klar, das DFB-Team und die Squadra Azzurra unterscheiden sich. Dennoch das sind Indizien, welche Stimmung in den beiden Teams während des Turniers herrschte. Dabei hatten beide Teams einen ungefähr gleichen Startpunkt für die EM. Die Weltmeisterschaft 2018 fand nämlich (praktisch) ohne nennenswerten Einfluss der beiden Fußballnationen statt. Die Russlandreise der DFB-Elf endete bekanntermaßen schon nach den drei Gruppenspielen. Sie endete in einem krachenden Debakel.
Ein gemeinsames Tal
Das Debakel ersparte sich Italien gleich. Die Alpennation konnte sich die Reisekosten gleich sparen. Erstmals seit 60 Jahren verpasste die Squadra Azzurra die Qualifikation. Und jetzt? Bei der Europameisterschaft könnte es nicht unterschiedlicher sein. Während Italien "herzerfrischenden Fußball", wie Thon es nennt, abliefert, endete die besondere Ära Löws unspektakulär im Achtelfinale.
Woran könnte es also liegen, dass sich beide so sehr unterscheiden? Es ist immer einfach, nach personellen Veränderungen zu rufen, doch Italien hat es wirklich gemacht. Noch bevor die verpasste WM begann, wurde Coach Roberto Mancini installiert.
Dabei schien sich die Trainerkarriere von Italiens Fußballer des Jahres 1997 schon so langsam dem Ende zu nähern. Mit Inter holte er gleich drei italienische Meisterschaften. So richtig viel Anerkennung gab es dafür nie, schließlich war Serienmeister Juventus Turin gerade erst wegen des Wettskandals aus der dritten Liga wieder aufgestiegen.
Ähnliches galt für seine Zeit in England. Mit Manchester City holte er 2012 den ersten Meistertitel seit fast 44 Jahren. Doch auch hier hielt sich die Anerkennung in Grenzen, schließlich kam wenige Jahre zuvor das große Geld aus Dubai. Danach dümpelte Mancinis Trainerkarriere vor sich hin: ein Kurz-Comeback bei Inter Mailand, neun Monate bei Galatasaray Istanbul und 45 Spiele bei Zenit St. Petersburg.
Sagenhafte Ungeschlagen-Serie
Nach diesen Stationen musste er nicht weniger als die leidende Seele der italienischen Fußball-Nation heilen. Im Unterschied zu Joachim Löw, der nach dem Russland-Debakel erst analysiert und dann drei Spieler (Hummels, Boateng, Müller) rausgeschmissen hatte, verfolgte Mancini einen radikal anderen Plan. Der Italiener lud jeden, wirklich jeden, der Fußballspielen kann und Lust auf die Squadra Azzurra hat, zur Nationalelf ein. Das System stand fest: Es sollte in einem 4-3-3 attraktiver Fußball gespielt werden. Und im Idealfall auch um den Titel.
Und so kamen fast 70 Leute unter Mancini seit 2018 zum Einsatz. Sogar der starke Freiburger Vizenco Grifo bekam seine Chance. Die daraus resultierende sagenhafte Ungeschlagen-Serie ist überall bekannt, seit einem 0:1 gegen Noch-Europameister Portugel im Oktober 2018 in der Nations League verloren sie kein Spiel mehr.
Anders dagegen die letzten Spiele unter Joachim Löw. Der Bundestrainer monierte auch bei seiner Abschluss-Pressekonferenz noch immer, dass nach 2018 der Rhythmus gefehlt habe, eine richtige Mannschaft einzuspielen. Für Mancini war das wohl eher weniger ein Faktor.
Er sortierte nicht wahllos alte Größen aus, sondern gab auf den Positionen, die es nötig hatten, neue Impulse. Die Stamminnenverteidigung aus Leonardo Bonucci und Giorgio Chiellini blieb die alte. Im Tor ersetzte der eine "Gigi" den anderen: Aus Buffon wurde Donnaruma. Der Rest wurde nach dem Leistungsprinzip und Spielidee besetzt. Und so kam es, dass No-Names wie Linksverteidiger Leonardo Spinazzola zu einer der Entdeckungen des Turniers wurden.
Neuanfang unter Flick?
Anders als Löw zwang Mancini seinen Profis keine Spielidee auf, die sie nie im Verein spielten. Er begeisterte sie für einen frischen, mutigen ballbesitzorientierten Fußball. Für ein geordnetes Gegenpressing, in dem aber auch Leute wie der wuselige Flügelspieler Lorenzo Insigne ihre Freiräume bekommen. Dieser Spirit, dieser Teamgeist, der entstanden ist, der trägt sich nun bis nach London, in die Finalrunde im Wembley-Stadion. Insigne sagte nach dem Halbfinalsieg gegen Belgien: "Ich habe so viel Spaß hier wie noch nie", sagte Insigne. Mit diesen Azzurri zu spielen, sei "wie mit den Kumpels unter der Woche. Wir spielen alle mit einem Lächeln im Gesicht, das ist unser Geheimnis."
Dagegen ging die Ära Löws ohne ein Lächeln zu Ende. Seine bleierne DFB-Zeit, wie es die "Zeit" aufgeschrieben hat, ist vorbei. Keine Freude, keine Euphorie, kein Plan. Der Umbruch ist misslungen, einen Neuanfang nach 2018 hat es nicht gegeben. Mit dem neuen Bundestrainer Hansi Flick gibt es endlich den erhofften Personalwechsel. Auch Jérôme Boateng kann sich wieder Hoffnungen auf eine Länderspieleinladung machen. Und Jamal Musiala kann darauf hoffen, nicht erst zwei Minuten vor Schluss in entscheidenden Spielen eingewechselt zu werden.
Und Italien? Mit Linksverteidiger Spinazzola fällt eine Stütze für das Offensivspiel aus. Wie gut Halbfinalgegner Spanien wirklich ist, kann niemand genau sagen. Sicher dagegen ist: Mancini ist angetreten, um Europameister zu werden. Ob er es schafft? Man kann es nur wie Markus Söder machen und ihm die Daumen drücken.
Quelle: ntv.de