
Kaum ein Durchkommen: Argentiniens Mannschaft in ihrem offenen Bus.
(Foto: AP)
Und noch ein Superlativ: Eine historische Anzahl von mehr als vier Millionen Menschen sind allein in Buenos Aires auf den Beinen und empfangen die Albiceleste weltmeisterlich. Sie wollen den WM-Pokal sehen. Die meisten müssen ihn im Himmel erahnen.
Der Sonnenschirm versperrt die Sicht auf den Balkon des Regierungspalastes, die Casa Rosada. Er muss weg. Also wird der 20 Meter entfernte Verantwortliche so lange angesungen, bis er ihn herunternimmt. Es ist kurz Dienstag um kurz vor 16 Uhr auf der Plaza de Mayo. Die Menschen warten auf den Weltmeister. Das Gebäude ist geschmückt, die Sonne knallt vom hellblauen Himmel, Lautsprechertürme sind aufgestellt. Alles scheint gerüstet für einen Empfang wie vor 36 Jahren, als Diego Maradona den WM-Pokal den Argentiniern präsentierte.
"Wir sind seit 7 Uhr hier, waren zuerst am Obelisken", sagt die 23-jährige Lourdes Reyna. "Ich habe noch nie Argentinien als Weltmeister erlebt", sagt sie ergriffen und kämpft hörbar mit den Tränen. Neben ihr steht Gabriela Rios, 45 Jahre alt. "Ich habe den vorherigen Titel 1986 als Kind erlebt. Der Tag ist in mein Gedächtnis eingebrannt." Nun hat sie ihren Sohn mitgebracht, der vom Finale 2014 traumatisiert war.
Die Ekstase, die am Sonntag nach dem Elfmeterschießen die 45 Millionen Argentinier erfasste, ist noch nicht abgeebbt. Die Regierung hatte kurzerhand einen arbeitsfreien Tag für den Empfang des Pokals ausgerufen. In Buenos Aires und auf der Strecke vom Nationalmannschaftslager sind mehr als 4 Millionen Menschen unterwegs, noch nie waren in der Geschichte des Landes mehr Menschen auf den Straßen, schreiben argentinische Medien. Bei der Rückkehr zur Demokratie 1983 waren weniger als die Hälfte.
Der Erlöser kommt
Die Mannschaft soll einen Rundkurs fahren, auch über die rund fünfzehn Minuten Fußweg vom Regierungspalast entfernte Paradestraße 9 de Julio in der Innenstadt von Buenos Aires, am Obelisken vorbei. Doch die Pläne werden permanent geändert. Überall sind Menschen, Menschen, Menschen in himmelblau und weiß, sie strömen über die Autobahnen, zwängen sich durch breite Straßen, sitzen auf Laternen, Balkonen und umliegenden Dächern, sie tanzen, zünden Bengalos, Trommeln mischen sich mit Gesängen. Von einer Fassade blickt Maradona samt arabischer Kopfbedeckung auf die Menge herab.
Die Händler etwas abseits verkaufen T-Shirts mit Lionel Messis "Was guckst Du so, Dummkopf"-Spruch und Trikots mit dem dritten Stern; eine kleine Replika des WM-Pokals kostet 500 Peso, etwa 1,20 Euro, eine große das Zehnfache. Aus Kunstdrucken blickt Messi als Erlöser oder Apostel, oder darin auf Diego Maradona, mit dem er gemeinsam vor dem Pantheon der Götter steht. An einer Straßenecke sind die beiden auf einer überlebensgroßen Wandmalerei zu sehen. Die Farbe glänzt frisch.
Messi und die anderen waren mittags losgefahren, aber ihr offener Bus schleicht dahin, gebremst von der Masse, die ein Stück Geschichte erleben will. In der Innenstadt lassen sich die Menschen von Bekannten und Verwandten, die zu Hause an den Fernsehschirmen sitzen, darüber informieren, was los ist - wenn sie kurz ein wenig Netz haben, das von der Informationslast völlig überfordert ist. Es ist höchstwahrscheinlich die häufigste gestellte Frage an diesem Tag: Wo ist der Pokal? Die Suche nach der Antwort gerät zur Schnitzeljagd.
Im Schatten des Mittelstreifens sitzen zwei Geschwister, sie trinken Fernet Branca mit Cola und haben es nicht eilig. "Wir wollten die Spieler sehen, aber offenbar haben sie die Route geändert", sagt die 32-jährige Daiana Pandiella: "Aber es ist auch egal, wir sind Weltmeister!", und lacht übers ganze Gesicht. "Es gibt viele Unterschiede in diesem Land, aber der Fußball ist das, was uns eint", fügt ihr jüngerer Bruder Nahuel Peralta hinzu. Vielen Argentiniern gehe es wirtschaftlich schlecht, da sei ein Grund zur Freude wie der Titel bitter nötig.
Kampfflugzeuge und Messi am Himmel

Nahuel Peralta und Daiana Pandiella sind dankbar für die Atempause von den Problemen.
(Foto: Roland Peters)
Plötzlich fegen vier Kampfflugzeuge über die Paradestraße und vollführen ein Manöver rund um das riesige Konterfei Evita Peróns, das an der Fassade des Sozialministeriums angebracht ist: Es sei eine Huldigung für die Weltmeister gewesen, wird es später in den Medien heißen. Währenddessen teilt die Mannschaft langsam die Menschenmassen. Irgendwann dreht ihr Bus ab, von den 30 Kilometern bis zum Epizentrum der Feierlichkeiten hat die Mannschaft in etwa vier Stunden die Hälfte geschafft.
Die Verantwortlichen zweifeln daran, dass der Bus durchkommen wird. Der Wahnsinn auf der Autobahn treibt die Weltmeister in den Himmel. Sie steigen nun in Hubschrauber um. Als am Regierungspalast die Helikopter auftauchen, bricht Jubel los, die Fahnen kreisen, das Sprühkonfetti trübt die Sicht auf den Balkon. "Komm, komm sing mit mir", fordern alle hüpfend, "denn einen Freund wirst Du finden / Hand in Hand / mit Leo Messi / gehen wir den ganzen Weg".
Alle wissen: Hinter dem Regierungspalast ist ein Hubschrauberlandeplatz, nie waren der WM-Pokal und die Mannschaft näher. Aber niemand benutzt ihn. Die Helikopter drehen wieder ab. Schon vorher hatten argentinische Medien vermutet, dass die Mannschaft sich nicht im Regierungspalast blicken lassen würde. So wolle sie verhindern, dass ihr Besuch eine politische Dimension bekommt.
Nach ewigen Minuten des Wartens kommen die Nachrichten von den Informanten zu Hause: Die Albiceleste ist zurück in Nationalmannschaftsquartier geflogen. Lourdes Reyna und Gabriela Rios sind enttäuscht, irgendwann drehen sie sich wie viele andere um und gehen. Weder die Mannschaft noch den Pokal werden sie hier sehen. Zumindest aber konnten sie Messi am Himmel erahnen. Denn dort schwebte er.
(Dieser Artikel wurde am Mittwoch, 21. Dezember 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de