Armel Bella-Kotchap ist die Überraschung im deutschen WM-Kader. Um den Jungprofi mitzunehmen, verzichtet Bundestrainer Hansi Flick sogar auf den formstarken Mats Hummels. Den Plan dahinter erklärt Flick. Die Vergangenheit zeigt, wie dieser Plan aufgehen kann.
Mats Hummels selbst brauchte erstmal nur wenige Worte. "Wenig überraschend ist das eine der größeren Enttäuschungen meiner Karriere", schrieb der 33-Jährige auf Instagram, nachdem Bundestrainer Hansi Flick seinen Kader für die Weltmeisterschaft in Katar öffentlich präsentiert hatte. Ohne Hummels. Dabei zeigt der Innenverteidiger seit Monaten regelmäßig starke Leistungen bei Borussia Dortmund, hat sich trotz der Verpflichtungen von Niklas Süle und Nico Schlotterbeck dort einmal mehr als Abwehrchef etabliert. Flick bescheinigte Hummels sogar "eine hervorragende Form". Trotzdem verpasst er nun erstmals seit der WM 2010 wieder ein großes Turnier.
Ein Widerspruch, der dem Bundestrainer bewusst sein muss, schließlich sagte Flick zu seinen Kriterien für die Personalfragen auch: "Bei uns steht im Fokus, wie jemand performt." In dieser Hinsicht führt aktuell eigentlich kein Weg an Hummels vorbei - und trotzdem wird an diesem Sonntag nicht der Weltmeister von 2014 ins Flugzeug nach Oman steigen, sondern Armel Bella-Kotchap. Im Sommer vom VfL Bochum zum FC Southampton in die Premier League gewechselt, ausgestattet mit wenigen Sekunden Länderspielerfahrung, seit er im September beim wilden 3:3 in England in der Nachspielzeit eingewechselt wurde. Vor allem aber fast auf den Tag genau 13 Jahre jünger als Hummels, der im Dezember seinen 34. Geburtstag feiert und nach Manuel Neuer der zweitälteste Profi im Kader gewesen wäre.
"Im Trainerteam" sei die Entscheidung gefallen, erklärte Flick in Frankfurt, und zwar "für einen jüngeren Spieler". Auf Hummels zu verzichten und stattdessen einen 20-Jährigen zu berufen, stellt laut dem Bundestrainer "einen Blick in die Zukunft" dar. Dieser ist zwar hoch veranlagt, aber auch noch etwas roh in seinem Spiel, was angesichts von nicht einmal 100 Pflichtspielen als Profi für Bochum und Southampton allerdings wenig verwundert. Flick nimmt Bella-Kotchap jedoch ohnehin nicht als Leistungsträger mit, sondern wird ihn vor allem im Training herausfordern wollen, ihn auch über die maximal viereinhalb Wochen zwischen Abreise in Frankfurt bis zum WM-Finale beobachten wollen. Eine Rolle, mit der sich Hummels wohl weitaus schwerer getan hätte.
Überraschungen werden noch nicht verraten
Der Bundestrainer scheint nicht nur bei dieser Personalie der Kaderplanung für die WM 2022 auch schon die Heim-Europameisterschaft 2024 im Kopf zu haben. Mit Manuel Neuer und Thomas Müller sind nur zwei Nominierte vor 1990 geboren, dafür mit Bella-Kotchap, Karim Adeyemi, Jamal Musiala und Youssoufa Moukoko gleich vier nach dem Jahr 2000 - der BVB-Stürmer feiert gar erst am Tag des Eröffnungsspiels zwischen Katar und Ecuador seinen 18. Geburtstag. Und mit Florian Wirtz fehlt sogar noch eines der größten Talente, weil der 19-Jährige nach einem Kreuzbandriss im März nicht ohne Spielpraxis gleich ein Weltturnier bestreiten soll. "Einen Spieler seiner Qualität hätten wir gerne dabei gehabt", so Flick, aber "er ist jetzt erst gerade wieder im Mannschaftstraining dabei."
Auf dem Weg zum finalen 26-köpfigen Aufgebot seien "alle Optionen und Wenn-dann-Strategien intensiv durchgespielt" worden, erklärte Flick, der zugleich die eine oder andere Überraschung für die WM andeutete. "Ich möchte da noch nicht groß etwas verraten", aber "es kann schon das ein oder andere passieren, das im Vorfeld nicht so offensichtlich ist". Dabei versprechen sich Flick und seine Assistenten offenbar mehr Potenzial von Nachwuchskräften als von Veteranen wie Hummels, der schon 2014 zum Stammpersonal gehört und mit seinem Kopfballtor im Viertelfinale gegen Frankreich (1:0) entscheidend zum Titelgewinn beigetragen hatte.
Ausschlaggebend für die Nominierung seien letztlich auch Fragen gewesen wie, wer "für die eine oder andere Situation der Matchwinner werden" könne. So lobte Flick etwa Moukoko, der sich zum jüngsten deutschen WM-Teilnehmer aufschwingen wird, für die Geschwindigkeit und die Wendigkeit, die er mitbringe. In Dortmund ist der 17-Jährige nach der Krebsdiagnose von Haaland-Nachfolger Sebastién Haller in eine tragende Rolle gerutscht, die er mit wachsendem Erfolg und Selbstvertrauen immer öfter ausfüllen kann.
Wer sorgt für den Odonkor-Moment der WM 2022?
Musialas Qualitäten sind spätestens in dieser Saison beim FC Bayern unverzichtbar geworden, wettbewerbsübergreifend steht er in München bei 18 direkten Torbeteiligungen in 20 Einsätzen. Wie groß seine Rolle bei dieser WM schon wird, ist unklar, zumal neben den Vereinskollegen wie Thomas Müller, Leroy Sané, Leon Goretzka oder Serge Gnabry auch Kai Havertz, Mario Götze oder İlkay Gündoğan in die Startelf drängen. Wobei der 19-Jährige in den vergangenen Wochen so stark aufspielt, dass die Frage eher nicht sein sollte, ob er aufläuft - sondern auf welcher Position seine Stärken am besten eingesetzt werden können. Ein weiterer Beleg für diesen Blick in die Zukunft, der auch schon die Gegenwart prägt.
Ganz anders ist die Situation bei Adeyemi, was Flick sogar offen zugab. Der Bundestrainer sprach sogar selbst davon, dass die Nominierung für manche "überraschend" komme, zumal die Leistungen beim BVB nicht überragend gewesen seien: "Ich glaube, er hat sich mehr versprochen, Dortmund hat sich mehr versprochen. Mit seinem Tempo und seinem Abschluss kann er der Mannschaft aber etwas geben."
Der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass solche Personalentscheidungen sich oftmals ausgezahlt haben. David Odonkor hat sich mit seinem Lauf auf der rechten Außenbahn und der Flanke auf Oliver Neuville im WM-Gruppenspiel 2006 gegen Polen ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, bei der WM 2010 waren es die jungen Wilden um Thomas Müller und Mesut Özil, die nach dem vermeintlich einschneidenden Ausfall von Michael Ballack die DFB-Elf zum dritten Platz trugen. 2014 war es Christoph Kramer, der kurz vor dem WM-Finale plötzlich in die Startelf rückte und bis zu seiner Verletzung einen starken Eindruck machte. Oder Lukas Podolski und Bastian Schweinsteiger, die bei der zugegeben verkorksten EM 2004 erste Turniererfahrung sammelten.
Auf derartige Momente wird auch Flick hoffen, wenn er den Jüngsten in seinem Kader in Katar Einsatzminuten verschafft. Dass ein Karim Adeyemi mit seinem Tempo eine stabil stehende Abwehr überrumpelt, dass Youssoufa Moukoko mit seinem Tordrang die Lücke findet, die sich bis dahin nicht aufgetan hatte. Dass Jamal Musiala den Spielwitz zeigt, mit dem er beim FC Bayern schon neun Tore in dieser Bundesliga-Spielzeit erzielt hat. Oder wie es Fredi Bobic, der Europameister von 1996, nach der Nominierung zusammenfasste: "Hansi Flick hat sich unfassbar viele Variationsmöglichkeiten mit dem Kader geschaffen." Jetzt muss er diese nur noch gemeinsam und erfolgreich mit der DFB-Elf umsetzen.
Quelle: ntv.de