Pokal war nah und doch so fern Der BVB erhält die bitterste aller Antworten
02.06.2024, 08:46 Uhr
Die Fans brannten ein Feuerwerk für den BVB ab.
(Foto: dpa)
Borussia Dortmund spielt 60 Minuten lang ein herausragend gutes Champions-League-Finale gegen Real Madrid. Und was wäre nur möglich gewesen, wenn die Mannschaft ihre Chancen genutzt hätte? So bleibt nur die bitterste Erkenntnis im Weltfußball.
Edin Terzić stand vor den Fans, minutenlang, mit Tränen in den Augen. Wieder einmal. Wie schon im Mai des vergangenen Jahres. Doch beim erneuten Gang der Enttäuschung musste er sich nichts vorwerfen lassen. Sein Team, das von Borussia Dortmund, hatte an diesem Samstagabend im legendären Londoner Wembleystadion Großes geleistet, Großartiges nur knapp verpasst. Es war im Kampf um den Titel nicht panisch kollabiert, wie noch im Frühjahr 2023 gegen Mainz 05 am letzten Spieltag der Fußball-Bundesliga. Dieses Mal hatte der BVB seinen Meister gefunden, war am "Endgegner" des Weltfußballs gescheitert. Das Finale der Champions League ging mit 0:2 (0:0) verloren. Real Madrid hatte ab Mitte der zweiten Halbzeit seine herausragende Qualität gnadenlos ausgespielt und sich aus den Händen des aus der Hölle greifenden Fußball-Teufels befreit.
45 Minuten lang hatte die Borussia alles, und das war sehr viel, getan, um die Königlichen aus der spanischen Hauptstadt umzuschubsen. Doch sie waren an der Finalpleiten-Resistenz dieser surrealen Mannschaft abgeprallt. Karim Adeyemi war zweimal gescheitert, Julian Brandt ebenfalls. Niclas Füllkrug traf nur den Pfosten. Fünf dicke Dinger gegen Real Madrid, das ist verdammt viel. Null Ertrag ist dagegen fatal wenig. Als die Kräfte nach einer langen Saison und einer aufmüpfigen, mutigen, starken Halbzeit nach einer Stunde plötzlich zur Neige gingen, stach Real Madrid zu. Dani Carvajal traf per Kopf (74.), Vinicius Junior bestrafte einen katastrophalen Fehlpass von Ian Maatsen vor dem eigenen Strafraum, den sich Jude Bellingham schnappte, eiskalt (83.).
Sie waren dem Traum vom Triumph so nah gewesen und dennoch blieb der Henkelpott so fern. Den stemmte Real am späten Samstagabend in die Luft. Ein gewohntes Bild. Zum neunten Mal triumphierte die Mannschaft in der Champions League, zum 15. Mal insgesamt in diesem Wettbewerb, der einst der Europapokal der Landesmeister war. Und während die Madrilenen im allerletzten Spiel ihrer Legende Toni Kroos ihr Glück nicht fassen konnten, konnten die Dortmunder einfach nicht begreifen, was ihnen widerfahren war. Auf der Suche nach einer Antwort landeten sie immer wieder bei der bittersten Erkenntnis im Weltfußball: Weil Real Real ist. Weil Real nie stirbt.
"Wir haben Wahnsinns-Angriffe gefahren"
"Wir haben Wahnsinns-Angriffe gefahren und haben es verpasst, das Tor zu schießen. Und dann machen wir ein paar Fehler und Real schlägt zu, wie sie es seit 100 Jahren gefühlt machen", haderte Abwehrchef Mats Hummels, der ja womöglich sein letztes Spiel für den BVB gemacht hat. "Es ist irgendwo eine Qualität und Können, aber du kannst dich nicht drauf verlassen, dass der Ball den Millimeter vom Innenpfosten rausspringt." Niemand außer offenbar Real Madrid, diese Mannschaft, die einfach nicht zu greifen ist. Die immer in der Lage ist, aus dem Faultier-Modus herauszubeschleunigen in den nicht mehr zu stoppenden Heldenfußball. Die mystische Qualität des "Alles-geht-immer-nichts-ist-nie-unmöglich" umweht dieses Ensemble seit Jahren. Mit jeder Minute, die ein Spiel voranschreitet, entfaltet sie ihre Kraft. Wie ein Gift lähmt sie den Gegner.
Auch die Dortmunder hatten in dieser Saison eine Superkraft herausgebildet. Die Mannschaft spielte immer dann am absoluten Limit, wenn die Königsklasse rief. Ein Gigant nach dem anderen wurde aus dem Weg nach Wembley geschafft. Anders als in der Bundesliga, als sich die Schwarzgelben sogar von den Zwergen piesacken ließen. Der Wankelmut des Teams hatte große Diskussionen um Trainer Edin Terzić losgetreten, der aber intern, so betonte Noch-Chef Hans-Joachim Watzke in den Tagen vor dem Finale, nie gewackelt habe. Rückendeckung für den Coach, gegen den und dessen taktische Herangehensweise Mats Hummels via "Sport Bild", ebenfalls in den Tagen vor dem Finale, schwer nachgetreten hatte. Überhaupt war es überraschend unruhig gewesen in Dortmund vor diesem größten Spiel des Jahrzehnts. Denn da war ja auch noch der Deal mit Rheinmetall, der dem Klub heftige Kritik einbrachte. Von den eigenen Fans, die im Wembleystadion dagegen protestierten. "Den BVB vor Sportswashing zu schützen ist unsere Mission", stand auf einem Banner (in Englisch indes).
Tore: 0:1 Carvajal (74.), 0:2 Vinicius Junior (83.)
Dortmund: Kobel - Ryerson, Hummels, Schlotterbeck, Maatsen - Adeyemi (72. Reus), Sabitzer, Brandt (81. Haller), Can (80. Malen), Sancho (87. Bynoe-Gittens) - Füllkrug. - Trainer: Terzić
Madrid: Courtois - Carvajal, Nacho, Rüdiger, Mendy - Valverde, Camavinga, Bellingham (85. Joselu) - Kroos (86. Modric) - Rodrygo (90. Militao), Vinicius Junior (90+4. Vazquez). - Trainer: Ancelotti
Schiedsrichter: Slavko Vincic (Slowenien)
Gelbe Karten: Schlotterbeck, Sabitzer, Hummels - Vinicius Junior
Zuschauer: 86.212 (ausverkauft)
Die in großen Scharen angereisten und euphorisierten Fans hatten dabei nichts mehr herbeigesehnt als die überraschende und furiose Rückkehr auf die größte Bühne des europäischen Fußballs. Sie wollten einfach nur Finale. Einfach nur Fußball. Sie wollten die "Krone" stehlen, wie sie mit einer gigantischen Choreo vor dem Anpfiff verkündeten. Dazu gab's noch die Hymne "You'll never walk alone", mitgesungen vom gut gelaunten Jürgen Klopp, in Wembley 2013 noch BVB-Coach, in der Ehrenloge.
Doch mit "einfach Fußball" gab's in London zunächst ein paar Probleme. Einige Flitzer hatten es nach dem Anpfiff auf den Rasen geschafft, machten in aller Seelenruhe Selfies mit Spielern oder streamten ihre Ausflüge ins Internet. Wo waren eigentlich die Ordner? Dann aber ging's los, mit superkräftigen BVB-Fußballern. Mit Real-Stars, die gar nicht mitzubekommen schienen, dass da ein Finale um sie herum läuft. Borussia drückt, Madrid schaut zu. Keine Leidenschaft, keine Bereitschaft zum Kampf. Anders die Dortmunder, um die es in dieser Saison viele Diskussionen gab, nur eine nicht: Mentalität! Die stimmte. Schwarzgelbe "Wahnsinnsangriffe" rauschten auf die Königlichen zu, wie Hummels ja befand, der einen spektakulär einleitete. Mit einem Pass, den sonst wohl nur Toni Kroos spielen kann. Der Ball sauste durch alle Ketten, landete bei Adeyemi. Der legte den Ball an Reals Keeper Thibaut Courtois vorbei, allerdings zu weit vom Tor, um noch zu treffen.
"Nie hätte ein Tor einem Spiel so gutgetan"
Der BVB spielte am Limit, verteidigte konsequent, mutig. Und trug die Angriffe mit Freude vor. Mit Tempo. Aber Real war mit Fortuna im Bunde. Hatte das Matchglück auf seiner Seite. Wie es der BVB selbst etwa gegen Paris St. Germain im Halbfinale bei sich hatte. Ein Tor fiel nicht, wobei man mit solchen Formulierungen bei Duellen zwischen Real und der Borussia ja vorsichtig sein muss. "Nie hätte ein Tor einem Spiel so gutgetan", selten war der legendäre Satz von Marcel Reif beim Torfall von Madrid von 1. April 1998 so lebendig und richtig, wie am 1. Juni 2024 in Wembley. Zumindest aus der Perspektive der Dortmunder.
"Wir hätten uns unsterblich machen können", sagte der niedergeschlagene Füllkrug. "Wir hätten so gerne diesen Pokal nach Hause gebracht", sagte Sportdirektor Sebastian Kehl, der den Schmerz der bitteren Niederlage nur zu gut kennt. Vor elf Jahren stand er als Kapitän gemeinsam mit Hummels und Marco Reus in Wembley auf dem Rasen und musste die Niederlage gegen den FC Bayern akzeptieren. Auch damals waren sie spät ausgeknockt worden. Hummels und Reus stehen für eine große Dortmunder Zeit, sie endet ohne den Henkelpott. "Es tut mir leid für Marco, dass wir nicht für ihn gewonnen haben", sagte Füllkrug. Reus kam nach 72 Minuten, es stand 0:0. Zwei Minuten später führte Real. Reus konnte nichts dafür, aber auch nichts mehr ändern. Für Stolz über eine grandiose Saison in der Königsklasse war kein Platz, die Unsterblichkeit, die etwa der 1997er-Mannschaft erteilt worden war, blieb dieser Generation verwehrt. Es wird (wieder einmal) einen Umbruch geben.
Kehl ist längst raus aus dem aktiven Geschäft. Und auch für Reus war es die letzte Chance auf den größten Titel. Zumindest mit der Borussia. In wenigen Wochen wird die Ikone den Klub verlassen und sucht eine neue, letzte Herausforderung. Ob noch einmal ein Champions-League-Gigant anklingelt? Eher unwahrscheinlich. Nicht klar ist, was aus Hummels wird. Alles ist möglich. Vom nicht sehr wahrscheinlichen Karriereende bis zum Verbleib beim BVB (was dann aber sicher eine Aussprache mit Terzić nötig macht, siehe oben) oder einem Wechsel sind alle Optionen auf dem Tisch. Auf jenem lag auch der perfekte Plan des Dortmunder Trainerteams. Sie hatten es geschafft, Kroos aus dem Spiel zu nehmen, Real das Herz zu rauben. Aber sie hatten es eben nicht geschafft, sich zu belohnen. Der "Telegraph" schrieb dazu: "So ist das mit den Champions-League-Finals der letzten zehn Jahre: Man kann sich einen perfekten Plan zurechtlegen, Chancen kreieren und die großartigen Spieler des Gegners unterdrücken, und dann, wenn es darauf ankommt, gewinnt Real Madrid das Spiel trotzdem."
Quelle: ntv.de