Fußball

Nagelsmann sucht "heiligen Weg" Die Realität fliegt dem Bundestrainer um die Ohren

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Nach dem Debakel in der Slowakei quält sich die deutsche Fußball-Nationalmannschaft zu einem 3:1-Erfolg über Nordirland. Das Ergebnis wirkt deutlicher, als es ist. Und auch das zweite Spiel der WM-Quali zeigt, dass die DFB-Elf und ihr Bundestrainer meilenweit von ihrem Anspruch entfernt sind.

Man kann sich die Realität des Bundestrainers als einen Drahtseilakt vorstellen. Der Abend in Köln-Müngersdorf ist spät geworden, die totale Mondfinsternis mittlerweile fast vorbei, da hält Julian Nagelsmann im Pressesaal des Stadions eine Kurzvorlesung in Fußball-Philosophie. Das Thema sei "superkomplex und sprengt jetzt den Rahmen", räumt der Dozent selbst ein, deshalb wird es hier auch an dieser Stelle nur (sehr stark) vereinfacht wiedergegeben.

Der Bundestrainer versucht, so erklärt er das, sich bei seinen Aufstellungen einem "heiligen Weg" anzunähern. Denn Nagelsmann (und jeder andere andere Trainer) balanciert immer zwischen zwei Ansätzen: Stabilität und Flexibilität. Klingt kompliziert, heißt vereinfacht aber: Entweder macht er mit wechselnden Protagonisten immer das Gleiche oder aber mit den gleichen Protagonisten immer was Anderes. Beides hat Vor- und Nachteile, die Antwort liegt irgendwo in der Mitte. Ein Drahtseilakt eben.

So superkomplex die Theorie ist, so einfach stellt sich die Praxis dar. Für das sehr wichtige WM-Quali-Spiel gegen Tabellenführer Nordirland entscheidet sich Nagelsmann (wie nun schon seit anderthalb Jahren) für die erste Variante. Die Antwort auf das Debakel in Bratislava und die 0:2-Niederlage gegen die Slowakei sind gleich fünf Wechsel in der Startelf. Klingt nach Panikreaktion, ist aber das Gegenteil: Denn gleichzeitig schraubt der Bundestrainer seine Experimentierfreude wieder herunter und vereinfacht die Taktik deutlich. Statt irgendwelcher fluider Varianten wie gegen die Slowakei beginnt die DFB-Elf von Beginn an mit drei festen Innenverteidigern sowie einer neuen Mittelfeldzentrale. Stabilität auf Kosten von Flexibilität also.

Erst Pfiffe, dann Jubel

Und siehe da: Die Umstellungen päppeln den DFB-Patienten etwas auf. Der Bundestrainer sieht, dass seine Elf (wenigstens etwas) energetischer ins Spiel findet als gegen die Slowakei. Schon in der siebten Minute darf das nicht ausverkaufte Publikum im Kölner Stadion den ersten deutschen Treffer bejubeln. 90-Millionen-Mann Nick Woltemade (das Preisschild wird er nicht so schnell los) erobert den Ball gedankenschnell im Mittelfeld und schickt anschließend Bayern-Star Serge Gnabry mit einem Steilpass auf die Reise. Der wiederum vollendet alleine aufs nordirische Tor zulaufend.

Nagelsmann und die Fans, die es mit der DFB-Elf halten, erhoffen sich, dass dieses Tor etwas löst. Irgendetwas von dem Druck, der sich in den vergangenen Tagen aufgebaut hat. Doch es kommt anders. Nach der "Katastrophe" (Florian Wirtz) in Bratislava merkt man den Protagonisten an, dass ihnen die bittere Niederlage noch in den Knochen steckt. Das deutsche Spiel bietet reichlich Quergepasse, bleibt träge, unkreativ - und vor allem auf Sicherheit bedacht. Blöd nur, wenn selbst das nicht klappt. Nach einem Ballverlust von Abwehrboss Antonio Rüdiger und anschließendem Fehlpass von Waldemar Anton schocken die Nordiren das DFB-Team - und treffen nach einer Ecke in der 34. Minute zum 1:1.

Der DFB-Patient fällt in der Folge wieder ins Koma. Unsicherheit macht sich breit, das ohnehin nicht risikohafte Spiel der DFB-Elf wird noch vorsichtiger. Das sorgt für Unmut: Der deutsche Anhang quittiert das mit lauten Pfiffen zur Halbzeit. Auch nach der Pause bleibt die Partie schwere Kost. Neuen Schwung bringen erst die Einwechslungen nach einer Stunde: BVB-Profi Maximilian Beier ersetzt den glücklosen Woltemade; der Mainzer Nadiem Amiri wiederum Gnabry. Das DFB-Spiel nimmt an Emotionalität (das hatte der Bundestrainer gefordert) zu, die letzten 30 Minuten gehen laut Nagelsmann sogar "in Richtung 'gut'". Mit zählbarem Ergebnis: Amiri trifft zum 2:1, Wirtz sehenswert per direktem Freistoß zum 3:1-Endstand.

Und doch: Diese Partie zeigt nochmals eindrücklich, wie weit dieses DFB-Team von den Träumen des Bundestrainers entfernt ist - oder wie sehr er sich verschätzt hat. Denn während sich der viermalige Weltmeister mit Mühe und Not ein 3:1 gegen den 71. der Weltrangliste erarbeitet, spielt die vermeintliche Konkurrenz um den WM-Titel in ganz anderen Sphären. Spanien fertigt parallel die Türkei mit 6:0 ab, Belgien hat in beiden Spielen insgesamt zwölf Tore geschossen. Auch Italien und Portugal gewannen ihre Partien unter der Woche mit 5:0.

Aber was wird aus dem WM-Titel?

Nur, was denkt der Bundestrainer selbst? Er hüllt sich in Schweigen. Insgesamt gehe er mit "vielen Erkenntnissen" aus dem Nordirland-Spiel, sagt Nagelsmann. An irgendwelchen Extremen wolle er sich nicht beteiligen. "Wir versuchen, die vier Spiele zu gewinnen, um auf uns zu schauen." Das wiederum klingt deutlich demütiger als noch vor einer Woche. Nagelsmanns Plan war ursprünglich ein anderer.

Eigentlich sollte bei der WM-Qualifikation nicht nur die Teilnahmeerlaubnis zum Mega-Turnier auf der anderen Seite des Atlantiks erspielt werden. Der Bundestrainer wollte auch die Zweifel wegwischen, die in den Spielen nach der Heim-Europameisterschaft aufgekommen waren. Das mühsam aufgebaute Selbstverständnis sollte gepflegt werden. Heißt: Es sollten sechs Partien voller Dominanz sein, auf dem Weg zum WM-Titel.

Doch die Realität sieht komplett anders und gar nicht superkomplex aus. Schon in den ersten beiden Spielen gibt es drei desolate Hälften. Die Slowakei und Nordirland stellen die deutschen Probleme zur Schau: Es fehlt ein klares Konzept, eine Idee, an die sich die Protagonisten klammern können. Dass die DFB-Elf gegen Nordirland die Wende schafft und 30 okaye Minuten spielt, hat auch was mit dem Gegner zu tun. Trainer Michael O'Neill beklagt seinerseits nach dem Spiel die eigene Kadertiefe, die fehlt. "Wir müssen Spieler einwechseln, die bei ihren Klubs keine Stammspieler sind", sagt er. Zudem habe er auf 18- und 20-Jährige bauen müssen.

Nach dem Debakel von Bratislava stellte Nagelsmann einiges infrage. "Vielleicht müssen wir dann tatsächlich weniger auf Qualität setzen, sondern auf Spieler, die einfach nur alles reinwerfen", sagte er. Das erinnert an ein wiederkehrendes Thema der Heim-EM: das feste Rollenprinzip aus "Zauberern" und "Arbeitern". Das ist mit der Zeit jedoch verschüttgegangen, so wirkt es. Ist der Ruf nach "Emotionen" da ein Ablenkungsmanöver für fehlende Struktur? Gegen Nordirland bekam man einen Eindruck, wie "weniger Qualität" aussehen kann.

"Aber so ist er und so lieben wir ihn"

Hinzu kommen die Probleme, die diese Nationalelf sowieso hat. Mit Jamal Musiala, Kai Havertz, Niclas Füllkrug, Deniz Undav und Tim Kleindienst fallen derzeit gleich fünf potenzielle Stammkräfte in der Offensive aus. Was die Qualität dahinter angeht, ist der deutsche Spielerpool bei weitem nicht so reichhaltig wie in Spanien, Frankreich oder Portugal. Das lässt sich für alle Positionen weiterspinnen. Mit der Zurückversetzung von Kapitän Joshua Kimmich ins Mittelfeldzentrum fehlt zudem ein richtiger Rechtsverteidiger. Auf der wichtigen Sechserposition konnte sich bislang auch noch kein Duo länger einspielen.

Wie wird Nagelsmann auf die beiden Septemberspiele reagieren? In der jüngeren Geschichte kam das DFB-Team dem Tiefpunkt zuletzt im November 2023 so nahe - die grausigen Länderspiele gegen die Türkei (2:3) und Österreich (0:2) hallten lange nach. Nagelsmann baute damals die Nationalelf über Weihnachten radikal um. Er holte Toni Kroos aus der DFB-Rente und nominierte knallhart nach Form- und Leistungsprinzip. Die Heim-EM tat ihr Übriges. Diesmal bleibt weder Zeit noch Handlungsspielraum: Schon im Oktober geht es in der WM-Quali weiter, gegen Nordirland und Luxemburg. Gibt es diesmal ähnlich radikale Reformen?

Und nicht nur der Kader ist eine heikle Angelegenheit - das gilt auch für die Kommunikation. Nach dem dramatischen EM-Viertelfinalaus gegen Spanien hatte Nagelsmann sich dazu hinreißen lassen, den WM-Titel als Ziel auszurufen. Das verteidigte er auch noch einmal in Bratislava. Es wäre "unglaubwürdig" und ein "fatales Zeichen", dieses Ziel jetzt einzukassieren, sagte er. Aber wäre es das wirklich? DFB-Sportdirektor Rudi Völler verteidigte und kritisierte den Bundestrainer zugleich. "Für den einen oder anderen ist es vielleicht übers Ziel hinausgeschossen", sagte Völler am RTL-Mikro. "Aber so ist er und so lieben wir ihn." Auch das lernt man dieser Tage: Kritik ist manchmal ein Drahtseilakt.

Quelle: ntv.de

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