Atléticos Trumpf gegen Real Die Wucht der Bruchbude
10.05.2017, 10:52 Uhr
Hier weht der Geist von Vicente Calderón.
(Foto: Nordmann)
Zur letzten großen Europapokal-Schlacht im Vicente Calderón kommt Real Madrid - und wird von den "Rojiblancos" und dem Geist des Estadio heroisch niedergerungen. Utopie nach der Hinspiel-Schmach? Nicht in der alten Bruchbude.
Der Zauber des Estadio Vicente Calderón. Ein letztes Mal wird er beschworen. Ein letztes Mal soll er wirken. Gegen Real Madrid. In der Fußball-Champions-League. Im Halbfinal-Rückspiel. Es wäre die vielleicht magischste aller Nächte in Atléticos charismatischer und so leidenschaftlicher Bruchbude. Trotz des Weltpokal-Siegs 1975 - als Vertreter des nicht angetretenen FC Bayern - gegen die Argentinier von Independiente. Trotz des spektakulär gedrehten 4:3-Liga-Erfolgs gegen den FC Barcelona 1993 - nach 0:3-Rückstand durch einen Hattrick des legendären Brasilianers Romario. Trotz des dramatischen Verfalls zu einer immer lauter nach Erlösung durch Abriss röchelnden Ruine. Denn heute (ab 20.45 Uhr im n-tv-de-Liveticker) braucht es gegen den verhassten Stadtrivalen einen Sieg mit vier Treffern Unterschied. Oder zumindest ein 3:0, um die Verlängerung zu erzwingen.
Atlético Madrid: Oblak - Thomas, Savic, Godin, Filipe Luis - Koke, Gabi - Saul, Carrasco - Griezmann, Gameiro; Trainer: Simeone.
Real Madrid: Navas - Nacho, Varane, Ramos, Marcelo - Modric, Casemiro, Kroos - Isco, Benzema, Ronaldo; Trainer: Zidane
Schiedsrichter: Cüneyt Cakir (Türkei)
Stadion: Vicente Calderón
Die letzten ekstatischen Atemzüge hätte das Calderón am 27. Mai machen sollen. Wenn das Endspiel der Copa del Rey angepfiffen wird. Dort stehen sich in diesem Jahr allerdings der FC Barcelona und der baskische Außenseiter CD Alavés gegenüber. Zwei Klubs, denen die "Rojiblancos" weder mit blankem Hass noch mit irgendeiner Form der Sympathie begegnen. Keine würdige Beisetzung für den Ort, der nach dem Pokalfinale abgerissen wird, dem die Atlético-Fans seit Jahren Zauberhaftes nachsagen. Daher nun also Real Madrid. Der Erzfeind. Die Königlichen mit ihrem Oberadeligen Cristiano Ronaldo, der Spieler und Fans des großen Rivalen aus der spanischen Hauptstadt sportlich so oft gedemütigt hat - zuletzt im Hinspiel vergangenen Dienstag. Diese Königlichen sollen nun heroisch aus der Bruchbude malocht und gespielt werden.
Mit dem Geist und der Kraft von Vicente Calderón. Dem großen, 1987 an einem Herzinfarkt verstorbenen Patron des Klubs. Dem Präsidenten, der den verschuldeten Klub Mitte der 60er Jahre entchaotisierte und in die spanische Spitze zurückführte. Der das Stadion nach akuten Finanzproblemen zu Ende bauen ließ. Der sich nach seinem Rückzug 1980 nur zwei Jahre später erneut wählen ließ, um das eiligst zurückgekehrte Chaos wieder zu bereinigen und schließlich als amtierender Präsident zu sterben. Vier Meisterschaften und vier Pokalsiege fallen der Calderón-Ära zu. Einen Landesmeister-Titel gab's noch nie.
"Wenn wir Atlético bleiben, können wir es schaffen"
Doch so dramatisch schlecht die Ausgangsposition auch ist, so stabil und abgezockt sich Real im Hinspiel und in der Runde davor gegen die Bayern präsentiert hat, so unerschrocken blicken die Rot-Weißen auf das letzte Stadtderby auf ihrem Kampfplatz: "Wir müssen das Unmögliche schaffen, aber wenn wir Atlético bleiben und an uns glauben, können wir es schaffen", verkündet Trainer Diego Simeone, der wie kaum jemand den Geist vertritt, der den Klub und das Stadion umweht. Kämpfen, beißen, rennen bis der Körper versagt - angetrieben vom eigenen, so fanatischen Anhang. So soll es klappen. So hat es schon so oft geklappt. Seit 1966 war die hässliche, größtenteils unüberdachte, aber voll bestuhlte Schüssel mit der Autobahn unter der Haupttribüne Heimspielstätte der Madrilenen. 142 Europapokalspiele hat Atlético hier ausgetragen, 104 davon gewonnen.
Doch so liebenswürdig-romantisch sie den Bau mit den unübersehbaren Rissen im Fundament, mit den an rostigen Metallkonstruktionen baumelnden Flutlichtern und dem wuchernden Grünzeug in den Tribünenaufgängen auch heroisieren, die Wahrheit beim ehemaligen Arbeiterklub ist mittlerweile eine andere. Sie ist modern, sie ist ambitioniert und sie kostet viel Geld. Das kommt unter anderem vom chinesischen Mitbesitzer (20 Prozent Anteil), dem Multimillionär Wang Jianlin und dessen Dalian Wanda Group, der dem angeblich mit einer halben Milliarde Euro verschuldeten Klub Anfang 2015 zur Seite sprang. Zur kommenden Saison zieht der Verein in die ultramoderne Arena Wanda Metropoliano um, 16 Kilometer weiter nördlich, komplett überdacht und mit 67.000 Plätzen um gut 12.000 reicher als das Calderón.
Doch die Wehmut hält sich offenbar in bescheidenen Grenzen. Denn wie das Portal "stadionwelt.de" und mehrere spanische Medien berichten, gibt's für die neue Arena einen neuen Dauerkartenrekord. Gut 48.500 Anhänger haben sich für die Saisonkarten eintragen lassen. Das sind nochmal gut 500 mehr als in der aktuellen Rekordsaison im Calderón. Proteste gegen den Umzug? Nein. Nur eines stößt den "Rojiblancos"-Fans böse auf: das letzte Spiel im Vicente ohne eigene Beteiligung. Unter dem Hashtag #NoALaFinalDeCopaEnElCalderon fordern sie den eigenen Anhang auf, dass Copa-Finale im Calderón zu verhindern. "Reißt nach dem letzten Saisonspiel gegen Bilbao die Sitze und den Rasen raus, nehmt alles mit, auch die Tornetze", heißt es in einem Internetaufruf.
Womöglich fangen sie damit schon heute an. Um kurz vor Mitternacht. Wenn der Zauber des Estadio Vicente Calderón ein letztes Mal gewirkt hat. Es wäre der würdigste aller Abschiede. Der magischste. Aber wohl auch der unwahrscheinlichste.
Quelle: ntv.de