DFB-Team in der Einzelkritik Die freche Verzweiflung des Timo Werner
09.10.2021, 07:48 UhrEs gibt ja Menschen, die nörgeln sehr gerne. Besonders viele von denen krochen in den vergangenen Jahren aus ihren Wuthöhlen, wenn es um die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ging. Während es im September, beim ersten Lehrgang unter Hansi Flick eher ruhig zuging, schleichen nun bereits die ersten Kritiker wieder hervor. Ihr Vorwurf: Das Spiel gegen Rumänien in der WM-Qualifikation war nicht so richtig gut. Das kann man so sehen. Muss man aber nicht. Denn (a) war Rumänien der erste stärkere Gegner der neuen Ära unter Hansi Flick und (b) zeigte das DFB-Team Dinge, die man lange vermisst hatte. Deutschland wehrte sich nach dem frühen Rückstand durch Ianis Hagi (9.) mit höchster Intensität und maximaler Leidenschaft. Und auch mit einem hohen Risiko. Die Mannschaft baute einen so großen Druck auf, dass der rumänische Schutzwall irgendwann brach. Serge Gnabry (52.) und der eingewechselte Thomas Müller (81.) wendeten die erste Niederlage des neuen Bundestrainers ab. Dessen Bilanz liest sich weiter hervorragend: vier Spiele, 14:1 Tore - und fast schon für Katar qualifiziert. Ob man sich darüber freuen sollte, das muss jeder für sich selbst entscheiden. Wir entscheiden uns für die Einzelkritik.
Marc-André ter Stegen: Beim FC Barcelona läuft es für den Torwart in diesen Wochen überhaupt nicht. Wobei man das präzisieren muss. Ohne den Torwart würde es beim FC Barcelona noch viel schlechter laufen. Das Team ist in einer fürchterlichen Verfassung. Und entsprechend in einer fürchterlichen Krise. Schöne Sache für ter Stegen also nun mal wieder in einer Mannschaft zu spielen, die zuletzt furios unterwegs war und auch noch erfolgreich. Die vermutlich beste Nummer zwei der Welt durfte spielen, weil bei Manuel Neuer die Adduktoren zuckten. Das Blöde für ihn ist: Für Deutschland erwischt er selten Spiele, in denen er sich auszeichnen kann. Das war auch nun wieder so. Beim frühen 0:1 war er machtlos. Die Fehler waren seinen Vorderleuten passiert. Was ter Stegen immer wieder gut macht: Er wählt ein schnelles und mutiges Aufbauspiel. Spielt manchmal lange, flache Pässe. Das ist eher ungewöhnlich. Bringt aber gute Umschaltmomente mit sich.
Jonas Hofmann: Die Lage für den Offensivspieler von Borussia Mönchengladbach ist ein wenig skurril. Mit dem, was er am besten kann, kann er für Deutschland nicht punkten. Denn in den vorderen Reihen ist die Konkurrenz viel zu groß, ein wenig zu übermächtig. Aber der 29-Jährige kann dennoch wichtig werden. Weil er, Obacht, ein polyvalenter Typ ist. Bedeutet: Er kann auf vielen Positionen spielen und sich schnell anpassen. Das tut er derzeit auf der Position hinten rechts. Das ist eine von zwei großen deutschen Baustellen. Die andere ist der zentrale Stürmer (dazu später mehr). Hofmann macht seine Sache gut. Allerdings ist es auch so: Gegen die bisher eher schwachen bis mäßig starken Gegner wird er als Abwehrspieler kaum gefordert. Gegen die Rumänen war er offensiv mutig, hatte viele gute Läufe, aber nicht ganz so viele gute Flanken. In der Defensive sah er zweimal bei Kontern der Rumänen nicht gut aus, wurde überlaufen. Ob er wirklich die Lösung sein kann? Ab 85. Minute Lukas Klostermann: Er kam und sollte helfen, das Ergebnis dingfest zu machen. Das gelang, allerdings ohne nennenswerte Aktionen. Er hat nun das 14. Mal für Deutschland gespielt.
Niklas Süle: Über den Münchner erzählt man sich in diesen Tagen viele wilde Geschichten. Dabei ist der Hüne in diesen Tagen in einer richtig guten Verfassung. Beim FC Bayern ist er der konstanteste und beste Abwehrspieler. Das war lang nicht so gewesen. Auch weil sein körperlicher Zustand das nicht zuließ. Doch statt über diesen guten bis sehr guten Süle zu reden, reden sie lieber darüber, wie es um seine Zukunft steht. Gerüchte, dass er den FC Bayern verlassen muss/will sind nicht wegzudiskutieren. Parallel dazu wird ein möglicher Wechsel von Antonio Rüdiger zum Rekordmeister herbeigeredet. Aktueller Status des ganzen Theaters: alles kann, nichts muss. In der Nationalmannschaft spielen die beiden Protagonisten nun Seite an Seite. Und haben das zuletzt in Kombination sehr gut gemacht. Gegen die Rumänen war es nicht ganz so super. Was aber weniger an Süle lag. Der mischte sich immer wieder in den Aufbau mit ein, er trägt ja laut Klubcoach Julian Nagelsmann ein "Zehner"-Gen in sich. Und in seinem Kerngebiet "Aufräumen" erledigte er die gestellten Aufgaben souverän. War weder am Boden noch in der Luft zu bezwingen. Hatte seinen auffälligsten Moment im Duell mit George Pușcaș (48.).
Antonio Rüdiger: Tja, der Abwehrchef erlebte einen fürchterlichen Start in das Spiel. Beim 0:1 war er erst zu passiv im Duell mit Hagi, dann ließ er sich tunneln und muss sich ankreiden lassen, dieses Gegentor maßgeblich verschuldet zu haben. Aber Rüdiger ist ein Mentalitätstyp. Er ließ sich nicht hängen, sondern biss sich vehement in die Partie. Sein Problem ist: Er überreizt schnell mal, wenn er unbedingt etwas gut machen will. Bei Standards versuchte er seinen Fehler zu korrigieren. Die Versuche waren aber eher das Modell Brechtstenge. Seine Duelle wirkten bisweilen etwas zu wild. Aber die Sache ging gut aus. Er leistete sich am Ende noch einen leichten Fehler, der Kehrer zu einer gelben Karte zwang.
Thilo Kehrer: Der Mann von Paris St. Germain war der große Gewinner des ersten Lehrgangs unter Flick. Weil er ein polyvalenter Typ ist (wirklich eine schlimme Beschreibung), gilt er als Löser für die viele Probleme. Aktuell spielt er auf der linken Abwehrseite. Dort ist Robin Gosens sonst beheimatet. Der ist aber schwer verletzt, darf sich aber immerhin über seinen ersten Nachwuchs freuen. Kehrer und Gosens, das sind zwei unterschiedliche Typen. Während der Mann aus Paris die defensive Variante ist, treibt der derzeit Verletzte das Spiel mit seinem wilden Drang mächtig an. Blöd für Kehrer nun: Ausgerechnet das, was er am besten kann, gelang gegen Hagi nicht immer gut. Beim 0:1 war er neben Rüdiger maßgeblich am Rückstand beteiligt. Auch sonst hatte er immer wieder Probleme mit dem Sohn der rumänischen Legende Gheorge Hagi. Konnte dem deutschen Team nach vorne keine Hilfe anbieten, das war schade für Leroy Sané.
Joshua Kimmich: Der Ersatzkapitän musste mächtig was einstecken. Die Rumänen gingen den Schlüsselspieler immer wieder hart an, kamen manchmal zu spät, was mehrfach schmerzhaft für Kimmich wurde. Aber weil er eben ist, wie er ist, ließ er sich nicht entnerven. Der Mann des FC Bayern leitete das Spiel stark an, verteilte die Bälle immer wieder klug und blieb unter dem Druck der Attacken stets stabil am Ball. Wenn es noch Fragen gibt, warum Kimmich im Zentrum spielen muss und nicht auf der rechten Außenbahn, Spiele wie dieses geben die Antworten. Und das eindrucksvoll. Allerdings hatte auch er, wie die gesamte Mannschaft, ein paar Probleme mit der Konzentration, sprich mit der Präzision. Aber "unter'm Strich" fand er das Spiel "schon ganz geil."
Leon Goretzka: Der kräftigste Fußballer, den Deutschland derzeit zu bieten hat, war zunächst ziemlich wenig zu sehen. So auffällig er als Typ ist, so unscheinbar begann er nun. Das kennt man eigentlich nicht von ihm. Denn er ist eigentlich immer präsent. Beim Rückstand kam er als letzter Retter ein zu wenig spät. Ihm das als Fehler auszulegen, das wäre aber falsch. Denn gebockt hatten andere. Je länger das Spiel dauerte, desto mehr richtete sich der Fokus auf den Münchner. Er sorgte mit Tiefenläufen immer wieder für Gefahr und Räume. Die Dynamik, die er hat, ist eine von Deutschlands Stärken. War an beiden Toren beteiligt. Das 1:1 durch Gnabry leitete er mit einem klugen Pass in die Mitte auf Marco Reus ein, der schließlich für den Torschützen ablegte. Beim Siegtreffer leitete er eine Ecke per Kopf auf den langen Pfosten weiter, wo sich Müller müller'sch freigeschlichen hatte.
Serge Gnabry: Tja, was soll man über diesen Mann noch sagen. In der deutschen Offensive, in der es reichlich gute Optionen gibt, ist er die beste. Wenn es einem Mann wirklich gut gelingt, das Fehlen eines Mittelstürmers zu kaschieren, dann dem 26-Jährigen. In seinem 30. Länderspiel erzielte er bereits seinen 20. Treffer. Diese Quote ist überragend. Überragend war auch sein Abschluss: entschlossen, handlungsschnell, präzise. Wenn das deutsche Offensivspiel immer so funktionieren würde, dann wäre die Sache mit dem fehlenden Stürmer völlig egal. Aber so ist es eben nicht. Auch Gnabry gelang an diesem Abend nicht alles so perfekt, wie beim Tor. Er mühte sich mal im Sitzen, mal per Kopf und manchmal auch mit Alleingängen. Belohnt wurde er nur einmal.
Marco Reus: Alter ist ja keine Kategorie, in der der Bundestrainer denkt. Flick denkt in der Kategorie Qualität und Form. Reus hat beides. Allerdings überraschte es schon ein wenig, dass der Dortmunder als Spielmacher agieren durfte, und Müller nur auf der Bank saß. Reus machte seine Sache gut. Ist mit seiner Spielfreude immer ein Gewinn. Hatte gute Momente im Aufbau, aber Pech in den eigenen Abschlussaktionen. Vergab Mitte der zweiten Halbzeit eine Riesenchance zur Führung, als er den Ball volley aus kurzer Distanz über das Tor schoss. Man kann es ihm verzeihen, er hatte den Ausgleich ja schließlich vorbereitet. Ab 67. Minute Kai Havertz: Ihn zog es direkt in die Sturmmitte. Wurde auch mit hohen Flanken gesucht. Eine neue Variante im deutschen Spiel. Er hatte gute Szenen, aber keine herausragenden. Wurde einmal auf dem Weg zur Führung gerade noch gestoppt (76.). Er hilft der deutschen Offensive, aber die Lösung für das Sturmproblem ist er (noch) nicht, auch wenn er das gerne sein möchte. Die Rolle hat er für sich ja bereits ausgerufen.
Leroy Sané: Seine Geschichte war ja bemerkenswert. Nach einer schwachen Europameisterschaft und einem ganz schwachen Start in die Saison war er von den eigenen Fans in München ausgepfiffen worden. Sané wirkte angeschlagen, ihm wollte nichts mehr gelingen. Aber dann ging's im September zur Nationalmannschaft. Und mit Flick machte es Klick. Sané ackerte und kämpfte. Er kämpfte nicht nur um jeden Ball, sondern auch um gute Aktionen. Die folgten. Mehr und mehr. Beim FC Bayern spielte er zuletzt furios auf. Auch, weil er mit Alphonso Davies eine gute Unterstützung hat. Der Linksverteidiger schafft Sané mit seinen Vorstößen Räume. Gegen Rumänien fehlte ihm diese Hilfe. Kehrer konnte nicht, er war beschäftigt. Sané hatte nur selten starke Szenen am Ball. Dafür war er fleißig im Pressing, holte sich immer wieder Bälle. Er bekam dafür Applaus. Ab 89. Minute Karim Adeyemi: Die Sturmhoffnung von RB Salzburg kam in den letzten Minuten für Sané. Leitete noch einen Konter klasse ein. Deutete wieder einmal an, dass er in Zukunft eine große Hilfe werden kann.
Timo Werner: Herrje, Deutschland sucht einen Stürmer und hat Timo Werner. Der hat eigentlich viele Stärken, kann diese aber viel zu selten einbringen. Hat es im Klub nicht immer leicht und will in der Nationalmannschaft Form und Glück finden. Klappte aber nicht. Fiel nach fünf Minuten viel zu leicht, wäre damit beinahe mit einem Elfmeter "belohnt" worden. Der wurde aber völlig zurecht zurückgenommen. Blöde, weile freche Aktion von ihm. Was man ihm nicht vorwerfen kann: mangelndes Bemühen. Kaum ein Spieler des DFB-Teams zieht so viele Sprints an wie Werner. Das Problem aber ist: Diese Sprints machen oft keinen Sinn. Werner ist nicht oder nicht gut anspielbar. Viele Pässe landen dann in seinem Rücken oder treiben ihn weit weg vom Tor. Er ist eben nicht der Zielspieler im Strafraum, den es braucht. Der wird weiter dringend gesucht. Ein Zuschauer indes hat ihn bereits gefunden und dies dem Bundestrainer mitgeteilt: "Hey Hansi, wo ist Terodde?" Ab 67. Minute Thomas Müller: Machte irgendwie alles anders als Werner, irgendwie alles besser. Hatte mit dem ebenfalls eingewechselten Havertz allerdings auch einen zweiten Mann im Zentrum. Mit Müller kam Unruhe und Gefahr. Bemerkenswert war sein Tor. Eigentlich rannte er raus zur Ecke, um sich für die kurze Variante anzubieten, ging aber schließlich schnell wieder weg, schlenderte quer durch den Strafraum und stand plötzlich völlig frei am langen Pfosten. Solche Wege verschnüffelt echt nur einer.
Quelle: ntv.de