Fußball

DFB verliert Dzsenifer Marozsán Die unvollendete Bilderbuch-Karriere der Supertechnikerin

Dzsenifer Marozsán hat fast alles gewonnen, was es im Fußball an Titeln gibt. Den fehlenden WM-Triumph wird sie im Sommer nicht mehr hinzufügen können. Denn die "unglaubliche Technikerin" beendet ihre Karriere im DFB-Team. Diese ist geprägt von Triumphen - und Tragödien.

"Als ich jung war, habe ich einfach nur Fußball spielen wollen." Es ist ein Satz, den viele so sagen würden. Aber nur bei den wenigsten wird aus dem Kindheitstraum mehr als ein Hobby. Bei Dzsenifer Marozsán ist der Wunsch in Erfüllung gegangen. "Wenn die Jungs gesagt haben, 'Dzseni, eines Tages werden wir dich im Fernsehen sehen', war das auch mein Ziel", erzählt die 30-Jährige rückblickend. "Das hat dann geklappt. Die ganzen Erfolge, die ich mit dem Team feiern durfte, hatte ich nie erwartet."

Mitte der 90er-Jahre wuchs ihr Traum, derselbe, den schon ihr Vater János hatte, selbst viermaliger ungarischer Nationalspieler. Auf den Straßen ihrer Geburtsstadt Budapest spielte sie mit den Jungs. Ihre Mutter meldete sie zum Tanzen an, wollte sie zum Klavierunterricht schicken - aber die kleine Dzsenifer hatte nur Fußball im Kopf. 1996 zog die Familie nach Saarbrücken, ihr Vater hatte einen Vertrag beim 1. FC Saarbrücken unterschrieben. Und auch seine Tochter wurde in ihrem ersten Verein angemeldet, dem DJK Burbach. Sie spielte mit den Jungs, sie wechselte ebenfalls zum 1. FC Saarbrücken, spielte in älteren Teams, ehe sie endgültig erstmals Geschichte schrieb: Mit gerade einmal 15 Jahren debütierte sie in der Bundesliga, ist bis heute die jüngste Liga-Spielerin aller Zeiten.

"Unglaubliche Technikerin"

Ein Aufstieg, gemacht für die ganz großen Momente. Das Supertalent, dem die goldene Karriere vorausgesagt wurde. Und sie erfüllte alle Prognosen, die Frau, die so ungern im Mittelpunkt steht, reifte im Eiltempo zur Spielerin, die die Fäden zog, auf die alle schauten, deren Regie alle folgten. Sie brillierte mit Übersicht, sie ließ ihre Mitspielerinnen glänzen, ohne selbst eine klassische Führungsspielerin zu sein. "Sie ist eine unglaubliche Technikerin, sie hat den deutschen Frauenfußball Jahrzehnte geprägt, Zuckerpässe gespielt, wichtige Tore geschossen", schwärmt nun ihre beste Freundin Svenja Huth, deren Trauzeugin Marozsán im vergangenen Jahr war. Und Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg sagt über die dreimalige deutsche sowie zweimalige französische "Fußballerin des Jahres": "Sie gehört zu den weltbesten Technikerinnen, sie hat fantastische menschliche Charaktereigenschaften." Marozsán sei eine "Identifikationsfigur".

Sie hat die höchsten Höhen miterlebt, die Ausläufer der Zeit, in der die DFB-Frauen das Weltgeschehen teils nach Belieben bestimmten. 2013 gewann sie EM-Gold, für den DFB war es sechste Kontinental-Titel in Folge. Drei Jahre später war sie es, die im Finale der Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro das erste Tor beim 2:1-Sieg über Schweden schoss. Den zweiten Treffer bereitete sie mit einem Freistoß vor. Nach umkämpften 90 Minuten konnte sie Olympia-Gold bejubeln. "Das war bilderbuchmäßig für mich gelaufen", erinnert sich Marozsán noch heute zurück. Und doch gibt es keinen allerschönsten Moment für sie. "Es gibt viele, die wunderschön waren", sagt sie und erinnert sich auch gern an die U17-WM 2008 in Neuseeland zurück. Ihr Team wurde Dritter, sie selbst war die Torschützenkönigin des Turniers. Zwei Jahre später konnte sie mit der U20-Auswahl den WM-Titel im eigenen Land erringen.

Die Liste der Auszeichnungen, die die Mittelfeldregisseurin allein als Nationalspielerin gesammelt hat, ist lang. Hinzu kommen diverse Erfolge mit ihren Vereinen. Sechsmal hat sie die Champions League gewinnen können, einmal davon mit dem 1. FFC Frankfurt, fünfmal mit ihrem aktuellen Klub Olympique Lyon, wo sie seit 2016 spielt. Zu den Königsklassen-Titeln kommen vier französische Meisterschaften und drei Pokaltitel hinzu. Sie hat früh alles gewonnen, was es im europäischen Fußball zu gewinnen gibt. Und so zog es sie im Sommer 2020 für ein halbes Jahr in die USA, spielte bei OL Reign unter anderem mit Megan Rapinoe zusammen. Sie kehrte zurück zu dem Klub, der lange Jahre der beste Europas ist, in einem Starensemble, aus dem sie noch hervorragt. "Dass Marozsán selbst in einer Mannschaft wie Lyon eine entscheidende Spielerin ist, beweist ihr großes Talent", hatte Siegfried Dietrich, der sie einst aus Saarbrücken zum 1. FFC Frankfurt lotste, mal gesagt.

Marozsán - die Unvollendete

Und doch fallen mit dem Namen Marozsán immer dieselben Worte: Tragödie, unvollendet, Drama. Denn ihr Körper rebellierte immer wieder. 2011, als mehrere U20-Weltmeisterinnen des Vorjahres den Sprung ins A-Team zur Heim-WM schafften, fiel Marozsán mit einem Innenbandriss aus. 2015 und 2019 verletzte sie sich in der Vorrunde und konnte jeweils das frühe Turnier-Aus nicht verhindern.

Hinzu kommt der "schockierendste Moment meiner Karriere": Auf dem Zenit, als die Fußballwelt sie zu den Größten zählte, als sie Zweite bei der FIFA-Wahl zur Weltfußballerin und Dritte beim Ballon d'Or wurde, erlitt sie 2018 eine beidseitige Lungenembolie, musste fürchten, nie wieder Fußball spielen zu können. Drei Monate lang ging überhaupt nichts. "Ich bin hingefallen und konnte nicht mehr atmen. Es war ein wirklich beängstigender Moment", sagte Marozsán damals dem "Telegraph" über den Vorfall zu Hause bei ihren Eltern: "Ich wusste nicht, was passiert." Sie habe Schmerzen in den Muskeln und Schultern gespürt, es wurde "schlimmer und schlimmer". Schon der Weg vom Sofa in die Küche war eine Qual. Es stellte sich heraus: Die Antibabypille hat ein Blutgefäß in der Lunge verstopft.

Sie kämpfte sich zurück, konnte die Reise zur WM 2019 nach Frankreich antreten - und erlebte dort das bereits erwähnte nächste WM-Drama: Nach einem rüden Foul im ersten Spiel gegen China brach sie sich den Zeh und konnte in der Vorrunde nicht mehr mitmischen. Beim Aus im Viertelfinale gegen Schweden (1:2) wurde sie zur Halbzeit eingewechselt, konnte aber keinen entscheidenden Impuls bringen. Vier Jahre später ist klar: Es war ihr letzter WM-Einsatz.

"Am Fernseher der größte Fan"

Die WM in Australien und Neuseeland wird schon ohne Marozsán stattfinden. Eine Entscheidung, die während der für die DFB-Auswahl so erfolgreichen Europameisterschaft 2022 in England reifte. Einmal mehr ein Turnier, bei dem das Mittelfeld-Ass zum Zuschauen genötigt war. Ausgerechnet wegen einer Verletzung, die sie sich im Nationalteam zugezogen hatte. Bei der einzigen Niederlage in der WM-Qualifikation, beim 2:3 im April 2022 in Serbien, hatte sie sich das Kreuzband gerissen.

Sie sei im vergangenen Sommer "am Fernseher der größte Fan" des DFB-Teams gewesen, "ohne dass es weh tat, nicht dabei zu sein". Den Aufschwung dieses Turniers, die Euphorie, die herrscht, seitdem Voss-Tecklenburgs Team mitreißenden Fußball spielte und als Vize-Europameister nach Deutschland zurückkehrte, wird die Wahl-Lyonerin, die in der kommenden Woche 31 Jahre alt wird, einmal noch miterleben. 111 Länderspiele stehen für die Mittelfeldspielerin zu Buche, ein 112. wird noch hinzukommen. Gegen Brasilien in Nürnberg (18 Uhr/ARD und im ntv.de-Liveticker) wird sie ihren Abschied vom DFB-Team feiern, in der zweiten Halbzeit soll sie eingewechselt werden.

"Ich bin ein sehr emotionaler Mensch und nah am Wasser gebaut. Gerade bin ich selbst überrascht, dass ich entspannt bin und den Moment genieße. Ich bin sicher, dass es am Dienstag anders sein wird", prophezeite Marozsán am Sonntag. Mehr als 30.000 Fans - darunter ihre Familie mit ihrem kleinen Neffen - werden ins Max-Morlock-Stadion kommen und sie ein letztes Mal mit der deutschen Auswahl spielen sehen. "Es überwiegt die Vorfreude, weil ich das Glück und die Ehre habe, ein letztes Mal mit dem Team auf dem Platz zu sein. Ich bin sehr dankbar, dieses Spiel noch zu bekommen."

Svenja Huth muss ihre Trauzeugin verabschieden

"Das wird für uns beide schon sehr emotional, in erster Linie für Dzseni, aber auch für mich als Bezugsperson", sagte auch Huth über den Abschied. "Wir kennen uns seit über 16, 17 Jahren. Wir haben viele Erfolge gefeiert, aber auch Niederlagen erlebt - auch persönliche Rückschläge. Die Entfernung ist egal: Ich weiß zu 100 Prozent, dass, egal wo sie ist, sie sich sofort auf den Weg machen würde."

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Regelmäßige Treffen beim DFB wird es für die beiden künftig nicht mehr geben. Es ist ein Ende, das nicht ganz freiwillig erfolgt. "Mein Knie ist leider nicht mehr das, was es mal war. Das muss ich leider so zugeben", erklärte Marozsán ihre Probleme, die seit ihrem Kreuzbandriss vor einem Jahr geblieben sind. "Ich muss viel dafür machen, damit spielen so möglich ist. Klar zwickt es immer wieder mal, es macht halb so viel Spaß wie vorher."

Der Spaß aber gehört zu ihrem Traum, sie muss sich einschränken, spielt künftig "nur" noch auf Klubebene. Wo das sein wird, ist noch nicht entschieden, ihr Vertrag in Lyon läuft im Sommer aus. Es gebe Gespräche mit verschiedenen Klubs. Heimat ist für sie kein festgelegter Ort. "Ich habe viele Orte, an denen ich mich wohlfühle. Egal ob Frankreich, Deutschland oder Ungarn. Ich war auch in den USA und habe dort Freunde. Die Auswahl ist groß, ich werde sicherlich eine Heimat finden." Sicher ist sie nur: "Ich möchte, solange wie es geht, weiterspielen. Dann kann ich mir ein Leben ohne Fußball nicht vorstellen, von daher kann ich mir vorstellen, dass es im Fußball weitergeht." Denn der Traum ihrer Kindheit gilt noch immer: Sie will einfach nur Fußball spielen.

Quelle: ntv.de

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