
Chef auf dem Platz und Chef neben dem Platz: Toni Kroos und Julian Nagelsmann.
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Es sind keine 90 Tage mehr bis zum Eröffnungsspiel der Fußball-EM. Lange wird über die Form des DFB-Teams spekuliert. Das Testspiel gegen Frankreich zeigt: Es könnte doch Hoffnung für das Heim-Turnier geben - auch dank eines Rückkehrers.
Was Toni Kroos dem DFB-Team verleiht, lässt sich kaum in Statistiken pressen. Es ist das, was beim 2:0-Erfolg der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gegen Vizeweltmeister Frankreich offenbar wird. Keine Zahl erklärt das, keine Grafik bildet das ab. Es sind kurze Momente, die allgegenwärtig und doch leicht zu übersehen sind. Dazu gehören auch Augenblicke, in denen Toni Kroos nicht den Ball hat.
Etwa in der 27. Minute: Superstar Kylian Mbappé, den sie in Lyon bei jeder Aktion feiern, dribbelt sich außen an Joshua Kimmich und Jamal Musiala fest. Er versucht noch, einen Pass zu spielen, doch der rollt nicht auf einen Franzosen, sondern DFB-Verteidiger Antonio Rüdiger zu. Nur, was soll er damit machen? Noch bevor der Ball bei ihm angekommen ist, hat Toni Kroos schon längst entschieden, wie es weitergeht.
Rüdiger nimmt den Ball an, schaut hoch. Wenige Meter vor ihm, von zwei Franzosen zugestellt, steht Kroos. Die Arme sind mit den Handflächen nach unten ausgebreitet, der Dirigent von Real Madrid deutet an: Ruhe! Rüdiger schiebt deshalb den Ball zu seinem Innenverteidigerkollegen Jonathan Tah. Der wiederum hat zwar Zeit, aber keine Idee, wo er den Ball hinspielen soll. Kroos bemerkt das. Kurzer Schulterblick, dann zeigt er an: Spiel den Ball doch zu Robert Andrich, der steht frei. Immer wieder leitet er seine Mitspieler an, gibt im wahrsten Sinne des Wortes die Richtung vor.
Frankreich: Samba/Lens (29 Jahre, 1 Länderspiel) - Kounde/Barcelona (25/25) ab 61. Clauss/Marseille (31/11), Pavard/Inter Mailand (27/53), Upamecano/FC Bayern (25/18), Hernandez/Paris (28/37) ab 61. Theo/AC Mailand (26/25) - Tchouameni/Real Madrid (24/30) ab 74. Fofana/Monaco (25/1), Zaire-Emery/Paris (18/2) ab 61. Camavinga/Real Madrid (21/14), Rabiot/Turin (28/43) - Dembele/Paris (26/43) ab 84. Kolo Muani/Paris (25/14) Thuram/Inter Mailand (26/17) ab 61. Giroud/AC Mailand (37/131), Mbappé/Paris (25/76); Trainer: Deschamps
Deutschland: ter Stegen/FC Barcelona (31/39) - Kimmich/FC Bayern (29/83), Tah/Leverkusen (28/22), Rüdiger/Real Madrid (31/67), Mittelstädt/Stuttgart (27/1) - Kroos/Real Madrid (34/107) ab 89. Anton/Stuttgart (27/1), Andrich/Leverkusen (29/2) - Wirtz/Leverkusen (20/15) ab 72. Führich/Stuttgart (26/2), Gündoğan/Barcelona (33/74) ab 72. Müller/FC Bayern (34/127), Musiala/FC Bayern (21/26) ab 80. Füllkrug/Dortmund (31/14) - Havertz/Arsenal (24/43) ab 80. Undav/Stuttgart (27/1); Trainer: Nagelsmann
Schiedsrichter: Jesus Gil Manzano (Spanien)
Tore: 0:1 Wirtz (1.), 0:2 Havertz (49.)
Gelbe Karten: Mbappé, Rabiot - Andrich
Zuschauer: 56.000 in Lyon (ausverkauft)
Abschied von "Querpass-Toni"
Klar, die Rückkehr von Toni Kroos beim DFB-Team lässt sich auch mit Zahlen beschreiben: 107. Länderspiel, 143 Ballkontakte, 95 Prozent erfolgreiche Pässe. Darunter fallen offensichtlich einflussreiche Momente, schon der erste Ballkontakt führt ins Glück: Es ist die sehenswerte Vorlage vor dem Acht-Sekunden-1:0 auf Florian Wirtz, dem schnellsten Tor der DFB-Geschichte. Genauso wichtig sind jedoch auch die kleinen Momente. Der sichtlich glückliche DFB-Debütant Deniz Undav fasst es in den Katakomben des Lyoner Groupama-Stadions so zusammen: Kroos sei der beste deutsche Mittelfeldspieler, "die Leute können froh sein, dass er sich noch einmal umentschieden hat und hier für uns spielt".

Die Mannschaften laufen ein, wenig später fällt das erste Tor.
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Im Sommer 2021 hatte Toni Kroos seinen Rücktritt aus dem DFB-Team verkündet. Der 34-Jährige wurde als "Querpass-Toni" geschmäht, seine Qualitäten in Deutschland nicht wertgeschätzt. Mit seinem Namen waren neben der verblassenden Erinnerung an den Titelgewinn 2014 auch Krisenturniere verbunden: die Weltmeisterschaft in Russland 2018, die Corona-EM 2021. Zusammen mit Bundestrainer Joachim Löw ging auch sein wohl einflussreichster Spieler.
Andernorts hat Kroos die Wertschätzung dagegen immer erhalten: Seit nun zehn Jahren gehört er dem zentralen Mittelfeld von Real Madrid an. Dort arbeitet er wie ein Quarterback, der das Spiel lenkt und steuert. Auch er hat sein Spiel weiterentwickelt, ist physischer geworden. Spätestens nach seinem fünften Champions-League-Titel erhält er in Spanien bei den Königlichen die Anerkennung, die er in Deutschland lange Zeit nicht bekam. Aber das ist Kroos nicht wichtig, er habe mittlerweile seinen Frieden gefunden, sagte er im Vorlauf der Frankreich-Partie. "Ich glaube nicht, dass ich irgendjemanden irgendetwas beweisen muss."
Der Acht-Sekunden-Schock
Nun ist Kroos zurück. Und wie. Er lenkt, er dirigiert, er foult auch, wenn es sein muss. Kroos habe herausragend gut gespielt, sagte Bundestrainer Julian Nagelsmann. "Das Sympathische an ihm ist ja, dass er beim ersten Telefonat von der ersten Minute an gesagt hat, dass er kein alleiniger Heilsbringer ist." Und doch gibt er dem DFB-Team etwas, was vorher gefehlt hat. İlkay Gündoğan ist zwar der Kapitän, der Chef aber Toni Kroos. Bei seiner Auswechslung in der 89. Minute bekommt er auch Applaus vom französischen Publikum.
Tatsächlich ist es aber nicht nur der Rückkehrer, der die zarte Hoffnung auf eine erfolgreiche EM weiter gedeihen lässt. Nagelsmann ist arg ins Risiko gegangen: ein radikaler Umbruch im Kader, das komplett umgebaute Mittelfeld, die vielen Neulinge. Seine Maßnahmen hätten auch schiefgehen können. Das Spiel gegen Frankreich zeigt stattdessen: Im EM-Jahr scheint er das DFB-Team auf den richtigen Weg geführt zu haben. "Wir wollten Lebensfreude versprühen, das haben wir getan", sagt Nagelsmann im Anschluss.
Denn die Zweifel hielten nur acht Sekunden, solange dauerte es bis zur deutschen Führung. Die stimmungsvollen französischen Fans, denen zuvor mit einer aufwendigen Show eingeheizt wurde, brauchten zehn Minuten, um den Schock zu verarbeiten. Plötzlich waren sogar die nur rund 950 mitgereisten deutschen Fans zu hören. Die französische Nationalelf blieb sogar länger als ihr Anhang gelähmt. Bis zur 20. Minuten nahmen sie praktisch kaum am Spiel teil. Es wurde deutlich: Der Vizeweltmeister ist an diesem Abend auch noch weit von der EM-Form entfernt.
"Den Blinker gesetzt"
Stattdessen zeigen beim DFB-Team andere, was sie können. Als ter Stegen, die Nummer zwei für die EM, gegen Mbappé einhändig hält, hätte man fast meinen können, dass der verletzte Manuel Neuer im Tor steht. Joshua Kimmich brilliert gegen Mbappé als Rechtsverteidiger, auf der anderen Seite spielt Frankreichs Ousmane Dembélé zwar den Debütanten Maximilian Mittelstädt stellenweise schwindelig, der VfB-Star macht seine Sache aber durchaus ordentlich, findet nach Startschwierigkeiten ins Spiel.
Doch besonders ein Duo sticht heraus: die beiden Zauberer Musiala und Wirtz. Vor dem Frankreich-Spiel haben sie bislang insgesamt 270 Minuten auf dem Feld gestanden, doch nie war es so spielfreudig, so unterhaltsam, so sehenswert wie an diesem Samstagabend in Lyon. Die Dribblings auf engstem Raum, die Pässe in ganz gefährliche Zonen, der Mut für besondere Aktionen: Auch, wenn noch nicht alles eingespielt ist, macht das Lust auf mehr.
Dennoch: Der eingewechselte Niclas Füllkrug warnt davor, wieder in Superlative zu verfallen. Kapitän Gündoğan merkt an, dass die Leistung zwar "sehr gut" war, aber es dennoch Luft nach oben gebe. Immer wieder gehen einfache Bälle im Spielaufbau verloren, gegen eine besser aufgelegte Mannschaft könnte das schmerzhaft werden - zumal mit Kroos und Andrich das defensive Mittelfeld nicht unbedingt mit Tempo glänzt.
Am Dienstag (21 Uhr/RTL und ntv.de-Liveticker) warten die Niederlande - das nächste schwere Testspiel. "Es wird wichtig sein, dieses Spiel zu bestätigen, losgelöst vom Ergebnis geht es dabei um die Art und Weise. Wir wollen Mut zu Entscheidungen sehen und das Spiel gestalten in dem Wissen, dass Fehler passieren können", sagte Nagelsmann dazu. "Wir haben mal den Blinker gesetzt Richtung Heim-EM - es wäre gut, wenn wir weiter Gas geben." Dann mit Toni Kroos am Steuer.
Quelle: ntv.de