Tuchel wird böse ausgetrickst Erst im großen Schmerz brennt der FC Bayern
11.02.2024, 07:10 Uhr
"Wir konnten uns nicht durchsetzen", klagte Thomas Tuchel nach dem Spiel.
(Foto: picture alliance / pepphoto)
Der FC Bayern verliert das Spitzenspiel der Fußball-Bundesliga deutlich. Gegen Bayer Leverkusen geht den Münchnern ihre große Qualität ab, in den wichtigen Duellen ein Statement zu setzen. Der Auftritt wirft große Fragen auf, auch an den Trainer.
Wo war der FC Bayern? Dieser FC Bayern, der immer dann alle zum Schweigen bringt, wenn die verbalen Prügel ausufern und ein Statement überfällig ist. Besonders gerne in einem großen Duell. Wo war dieser FC Bayern, der sich in solchen Momenten immer wieder Borussia Dortmund vorgeknöpft hatte, diesen Herausforderer, der sich so oft eingeschüchtert in sein Schneckenhaus zurückzog und hernach die Schulter zuckte, als hätte man doch eh nichts machen können. Es hätte ihn mal wieder gebraucht. Er war schließlich zuvor verzwergt worden, trotz Top-Punkteausbeute. Doch an diesem Samstagabend waren diese Bayern nicht zu sehen. Gegen das auch weiterhin unbesiegte Bayer Leverkusen taumelte ein ideenloses Kollektiv seinem Schicksal entgegen. Mit 0:3 (0:1) ging das Topspiel der Fußball-Bundesliga verloren. Den Münchnern droht die erste Spielzeit ohne Titel seit 2012.
Fünf Punkte beträgt nach dem 21. Spieltag der Rückstand auf den Tabellenführer, auf die Werkself, die wahrlich nichts von einer Betriebssportgruppe hat, sondern Heldenfußball auf höchstem Niveau bietet. Auf dem Feld und in der Coachingzone, wo der spanische Supertrainer Xabi Alonso eine unbesiegbare Maschine erschaffen hat. 31 Mal in Folge scheiterten Teams daran, dieses Team zu besiegen. Eine Vorentscheidung im Kampf um die Schale ist dieser Abend der zwei Welten natürlich nicht. Aber er warf die Frage auf, kann ein FC Bayern, der so klar beherrscht wurde, wirklich den Abstand gegen ein Leverkusen in dieser Verfassung wettmachen. Die weitläufige Meinung: eher nicht. Die weiße Flagge hisste dennoch niemand beim Rekordmeister.
Keine Eier, kein Spaß
Tore: 1:0 Stanisic (18.), 2:0 Grimaldo (50.), 3:0 Frimpong (90.+5)
Leverkusen: Hradecky - Stanisic, Tapsoba, Tah, Hincapie - Xhaka, Andrich - Tella (65. Frimpong), Wirtz (90. Hlozek), Grimaldo (90. Puerta) - Adli (82. Hofmann). - Trainer: Alonso
München: Neuer - Upamecano (60. Kimmich), Dier, Kim - Mazraoui, Pavlovic (60. Müller), Goretzka (71. Tel), Boey (81. Guerreiro) - Sane, Musiala (81. Choupo-Moting) - Kane. - Trainer: Tuchel
Schiedsrichter: Felix Zwayer (Berlin)
Gelbe Karten: Tapsoba (4), Adli (2), Hrádecký (2) - Boey, Goretzka (2)
Zuschauer: 30.210 (ausverkauft)
Vielmehr fingen sie plötzlich nach der leblosen Vorstellung an zu brennen. In den Augen und der Stimme vom abermaligen Ersatzmann Thomas Müller fackelte es am Sky-Mikrofon lichterloh. Er knöpfte sich seine Mitspieler gnadenlos vor, vermisste Eier und den Spaß am Zocken. Alles sei nur noch verkopft. Da war reichlich Wut und Bitterkeit. Auch in Joshua Kimmichs Augen loderte das Feuer in den Katakomben, als nach dem Schlusspfiff die Leere aus dem Blick gewichen war. Dass ausgerechnet diese beiden, die erst aufs Feld kamen, als die eigene Mannschaft 0:2 hinten lag, sprachen, offenbart den Führungsspieler-Missstand beim Rekordmeister.
Über die gespielten 90 und ein paar Minuten war von dieser Emotionalität als Kraftquelle nichts zu sehen gewesen. Kein Feuer, kein Flackern, nicht mal ein Fünkchen. Die Münchner waren ohne jede Leidenschaft versenkt worden. Sie standen ratlos vor ihren Fans, bedankten sich, während hinter ihnen Bayer Leverkusen wie entfesselt tobte. Karneval, Fußball, alles vermischte sich in einem wilden Endorphin-Rausch. Glück und Alaaf (und Kamelle statt Tennisbälle für die Investorenpläne der DFL) hier, Ratlosigkeit und Wut dort.
Die Karten hatten auf den Tisch kommen sollen, hatte Trainer Thomas Tuchel gefordert. Und die Münchner wähnten offenbar ein gutes Blatt zu haben. Aber es kam anders. Wie so oft am Pokertisch. Wenn es nicht unbedingt der Royal Flush war, den hatte die Mannschaft ein paar Tage zuvor im DFB-Pokal gegen den VfB Stuttgart ausgespielt, so war es immer noch Straight Flush, den Leverkusen auf den Tisch packte. Und die Bayern? Nichts als ein Bluff, Zählbares hatten sie nicht auf der Hand. Sie wurden düpiert.
Ausgerechnet Stanisic
Den Bluff hatte Tuchel in seiner Aufstellung versteckt. Überraschend hatte er nicht nur das Personal getauscht (etwa Matthijs de Ligt raus), sondern auch das System verändert. Unter anderem mit Neuzugang Eric Dier als Abwehrchef. Das ist schon eine sehr bemerkenswerte Notiz, wann hat sich der FC Bayern sonst an den Gegner angepasst und nicht dem eigenen Spiel vertraut? Ein Fehler? Nicht für Tuchel. Belege, dass es anders besser gewesen wäre, gebe es nicht. Er würde folglich wieder so handeln, sagte er, der direkt nach dem Schlusspfiff als erster Münchner in die Kabine stürmte. Wortlos mit grimmigstem Blick.
Mit einer Kette aus drei Innen- und zwei Außenverteidigern wollte er das aberwitzige Tempo auf den Bahnen von Bayer eindämmen. Und vermutlich hatte er einkalkuliert, dass es seine Fußballer mit Jeremie Frimpong zu tun bekommen würden, dem spektakulärsten Flügel der Liga. Der ist so schnell, dass man gut daran tut, dem Netz (erster Gegenspieler) einen doppelten Boden (zweiter Gegenspieler) unterzubauen. Doch Frimpong spielte nicht, dafür Josip Stanisic. Der gehört dem FC Bayern und ist derzeit an Bayer ausgeliehen. So richtig verstand er selbst nicht, warum ihn sein Stammklub ziehen ließ, obwohl die Klage groß war, dass es an Breite im Kader fehle. Dieses Versäumnis haben die Münchner korrigiert und gerade erst Sacha Boey verpflichtet. Für verdammt viel Geld, für knapp 30 Millionen Euro, kam er von Galatasaray.
Das ist ein großer Wert, den er in seinem ersten Spiel von Beginn an nicht unter Beweis stellen konnte. Im Duell mit Stanisic wurde er gnadenlos abgekocht. Er gab indes auch den linken Schienenspieler. Eine Rolle, die er so offenbar noch nie gespielt hatte. Erst wurde er in den Zweikämpfen abgekocht, die der Franzose offensiv führte und dann beim 0:1, das Stanisic erzielte. Wie Zuschauer an einer Kegelbahn verfolgten gleich vier Bayern-Spieler, wie die Kugel durch den Strafraum sauste. Boey als letzter Mann der Kette durfte dann auch noch bestaunen, wie sein Gegenspieler wuchtig alle Neune umhaute, sprich, er traf. Tuchel war fassungslos. Solch eine Passivität vor dem eigenen Tor, die konnte er nicht begreifen. "Es geht nicht, dass der Ball zwischen Torwart und Abwehr flach an fünf Spielern vorbeirollt. Das kann passieren, wenn ein Spieler nach außen gezogen worden wäre."
"Ihr werdet nie Deutscher Meister" - wirklich?
Für den Bayern-Trainer war das die Schlüsselszene. Er sah das Momentum gekippt, dass er vorher aufseiten der Münchner witterte. Das 0:3 empfand er später als zu hoch. So richtig mehrheitsfähig war das alles nicht, auch wenn seine Mannschaft zunächst optisch überlegen und die Gastgeber etwas nervös gewirkt hatten. Mit dem Tor war das alles Geschichte, Bayer erinnerte sich wieder daran, dass sie die beste Mannschaft des Landes sind. Und versuchten immer wieder mit ihrem feinen Fußball zu glänzen. Das klappte nicht so beeindruckend wie gegen den VfB Stuttgart, aber immer noch dominant genug, um den rätselhaft schwachen FC Bayern vorerst abzuhängen. Aus Trotz riefen deren mitgereiste und frustrierte Fans den beschwingten Leverkusenern den Evergreen zu: "Ihr werdet nie Deutscher Meister." Ob der über den Sommer hinaus Bestand haben wird?
Tuchel sagt: "Ich glaube eher, wenn Leverkusen so weiterspielt, haben wir keine Chance. Wir werden einen Teufel tun, jetzt die Flinte ins Korn zu werfen." Doch diese Flinte namens FC Bayern bedarf dringend einer größeren Sanierung. Kaum etwas geht zusammen. Wenn Tuchel davon spricht, dass die Mannschaft das Spiel dominiert habe, dann bestätigten ihn die Statistiken. Aber mehr Ballbesitz und mehr gewonnene Zweikämpfe sind nichts wert, wenn daraus nichts entsteht. Das Offensivspiel der Münchner kam unterm Bayerkreuz nahezu vollständig zum Erliegen. Wäre Harry Kane irgendwann einfach vom Feld geschlichen, es wäre vermutlich nicht aufgefallen. Den Superstar bekamen die Münchner überhaupt nicht in die Show, keine Flanke, keine steilen Pässe. Große Dinge fußen immer auf einer Idee. Diese gab es nicht. Demnach musste man sich mit wenigen kleinen Dingen begnügen.
Anders bei Leverkusen. Da paaren sich Tempo und Freude am Zocken zu einer attraktiven und erfolgreichen Mischung. Das 2:0 leitete Nathan Tella mit einem Doppelpass ein, der herausragende Alejandro Grimaldo, knallte den Ball mit voller Überzeugung an Manuel Neuer vorbei. Der Kapitän war beim dritten Gegentreffer, gar nicht mehr im Tor, hatte vorne versucht, die Dinge noch zu richten. Frimpong stürmte los und drosch das Spielgerät kunstvoll aus großer Distanz zum Endstand ins verwaiste Gehäuse. Neuer, der im Spiel nicht immer souverän war, ermahnte: "Es war mit unsere schlechteste Leistung am wichtigsten Tag. Das Feuer muss jeder in sich haben und versuchen, auf dem Platz zu bringen. Wer das nicht abgerufen hat, muss sich an die eigene Nase fassen."
"Wir haben eine Verkopftheit in unserem Spiel"
Eine richtige Erklärung für diese Nicht-Existenz aller Offensivbemühungen hatte Tuchel nicht. "Wir konnten uns nicht durchsetzen", klagte er. In den Eins-gegen-eins-Duellen kam der Sieger selten bis gar nicht aus München. Im Training sehe das ganz anders aus. Im Spiel aber fällt das Erarbeitete immer wieder zusammen, auch wenn die Ergebnisse zuletzt die mühsamen Leistungen kaschierten. Dieses Mal nicht. Dieses Mal offenbarte sich, dass es dieser Mannschaft an Führungsfiguren mangelt. An Spielern, die ihre Gegner mia-nichts dia-nichts verputzen. Die meisten Spieler gehen nicht voran, sondern kämpfen mit sich selbst. Erst recht, wenn Müller und Joshua Kimmich auf der Bank sitzen. Als sie nach 60 Minuten den Platz betraten, wurde das Spiel strukturierter, aber nicht gefährlicher.
Im brodelnden Müller trieb es den Wut-Motor in den roten Bereich. "Was mir fehlt von uns Spielern - deswegen sage ich es auch öffentlich - ist, dass wir im Training deutlich bessere Ansätze zeigen, weil wir da mutig sind, frei Fußball spielen. Jetzt fehlen mir teilweise die Eier, um Oliver Kahn zu zitieren", schimpfte er bei Sky. "Wir haben eine Verkopftheit in unserem Spiel, vor allem mit Ball. Bei Leverkusen sieht man, dass sie frei spielen und sich gut bewegen. Das machen wir auch, aber nicht in dem Spiel, wenn der Druck da ist und das erwarte ich von unserer Mannschaft und vom FC Bayern immer." Den größten Druck dürfte Tuchel bekommen. Seit Wochen muss er sich dafür rechtfertigen, dass die Leistungen nicht zum Anspruch des FC Bayern passen. Nun fehlen aber auch noch die Punkte. Nach denen braucht Tuchel nicht mehr suchen, wohl aber nach seiner Mannschaft, nach diesem FC Bayern, der in großen Spielen so oft für große Momente gesorgt hatte. Sonst könnte es eng werden.
Quelle: ntv.de