Fußball

Die Meister des Zeitschindens FC Sevilla nervt den BVB in den absoluten Wahnsinn

imago1016081927h.jpg

Sevilla-Torwart Bono kümmert sich um den blitzerschöpften Marcao (am Boden). Dortmunds Jude Bellingham versteht die Welt nicht mehr.

(Foto: IMAGO/Jan Huebner)

Das Champions-League-Spiel zwischen Borussia Dortmund und dem FC Sevilla ist in den letzten Minuten ein herrliches Schauspiel. Die Gäste aus Andalusien perfektionieren die Kunst des Zeitschindens. Ohnehin Meister ihres Faches legen sie im Westfalenstadion noch einen drauf. Sogar Niklas Süle staunt.

Niklas Süle hatte da eine Vermutung. Der Nationalverteidiger stand nach dem 1:1 gegen Sevilla in der Mixed Zone des Dortmunder Westfalenstadions. "Wir haben jetzt heute nicht unseren besten Tag erwischt, aber wir hatten vor allem in der zweiten Hälfte mehr vom Spiel. Ich hatte das Gefühl, dass Sevilla gar nicht mehr so richtig das Tor machen will. Haben sich dann relativ häufig auf den Boden gelegt", sagte Süle: "Ohne denen jetzt irgendwas unterstellen zu wollen. Aber das sind halt Fakten!"

Nur wenige Tage nach dem Trainerwechsel von Julen Lopetegui zu Jorge Sampaoli, einem 1,72 Meter kleinen argentinischen Irrwisch voller Tattoos, waren die Andalusier im Westfalenstadion in ihrem Element. Sie sind die Meister des Zeitschindens. Wohl kaum ein anderer Klub hat über die Jahre mehr gegnerischen Fans gegen sich aufbringen können. Und sich daran so erfolgreich erfreut.

Denn Zeitschinden ist die elementarste aller Spielformen, um ein Ergebnis über die Zeit zu bringen. Beherrscht man sie, verschwinden die Sekunden auf der Uhr, ohne dass sich der Ball über das Spielfeld bewegen kann. Immer ist irgendwas. Der Anlauf beim Abstoß muss neu vermessen, notiert und bei den zuständigen Ämtern eingetragen werden. Eine Berührung des Knöchels stellt sich kurzzeitig als brutale Attacke auf das Knie dar. Krämpfe im großen Zeh entwickeln sich zu Ganzkörperkrämpfen, die intensivste Behandlungen auf dem Spielfeld erfordern.

Schiedsrichter ausgetrickst

Erschöpfungsanfälle mähen gestandene Spieler binnen weniger Minuten mehrfach nieder. Von Atemnot und Schwindel geplagt, können sie nur mit einer Trage an den Rand des Spielfelds gehievt werden. Manchmal purzeln sie dabei hinunter und brechen sich sämtliche Knochen, die ein an der Seitenlinie postierter Medizinmann mit einigen Zaubersprüchen blitzheilt. Es ist ein Schauspiel, das Schiedsrichter und Gegner hilflos zurücklässt und die Zuschauer auf den Tribünen an den Rand des Wahnsinns bringt.

All diese mit einem leichten Hang zum Bauerntheater vorgetragenen Zeitschindereien verwandelten auch beim Spiel im Westfalenstadion die letzten Minuten in ein zugleich nie enden wollendes Schauspiel, das im gleichen Moment jedoch jeden Versuch eines ordentlichen Angriffsspiels im Keim erstickt. Besonders hervor tat sich der am Anfang der 90 Minuten noch hölzern wirkende Brasilianer Marcão.

Der 26-jährige Verteidiger der Andalusier war erst im Sommer für 14 Millionen Euro von Galatasaray nach Spanien gelockt worden, dann aber verletzungsbedingt ausgefallen. Bei seinem ersten Königsklassen-Einsatz platschte er mit seinem blitzerschöpften Körper mehrfach auf den Boden, musste minutenlang behandelt werden. Seine Verletzungshistorie, sein Einsatz in den beinahe 90 Minuten zuvor verliehen seiner Blitzerschöpfung eine Glaubwürdigkeit.

Der serbische Schiedsrichter Srdjan Jovanović war ebenfalls schwer beeindruckt. Zwar zeigte er auf die Uhr, um eine Verlängerung der vierminütigen Nachspielzeit anzudeuten. Doch dabei blieb es. Er hängte keine Sekunde dran. Obwohl auch Torhüter Bono tief in den wenigen angehängten Minuten mit der Ruhe seiner 31 Jahre zu einem Freistoß schritt und sich dafür noch die Gelbe Karte abholte.

Sevilla sind die ungekrönte Könige

So sehr berauschte sich Sevilla an der Kunstform des Zeitschindens, dass sie den geordneten Ballvortrag in die Dortmunder Hälfte komplett vergaßen. Dabei hätte ein Auswärtssieg für das Fortkommen in der Champions League durchaus eine gewisse Dringlichkeit gehabt. So hängen sie mit zwei Punkten - bei nur noch zwei ausstehenden Spielen - fünf Punkte hinter Borussia Dortmund zurück. Zudem hat der BVB den direkten Vergleich gewonnen und benötigt aus den ausstehenden Spielen gegen Manchester City und bei Kopenhagen, die ebenfalls zwei Unentschieden aufweisen, nur noch einen Punkt.

Mehr zum Thema

Vielleicht aber wollte Sevilla überhaupt nicht gewinnen, wie Niklas Süle eingangs vermutete. Die Andalusier sind die Meister der Europa League. Dort stehen sie regelmäßig im Finale, über die könnten sie auch in der Saison 2023/2024 an der Champions League teilnehmen. Der Europa-League-Sieger, fragen Sie nach bei Eintracht Frankfurt, qualifiziert sich bekanntlich für die Königsklasse. Vielleicht also war dieses 1:1 in Dortmund vollkommen ausreichend, vielleicht wollten sie sich dieses Unentschieden ermauern, erschinden, ergaunern und daher überhaupt nicht in Gefahr laufen, plötzlich doch ein aussichtsloser Achtelfinal-Teilnehmer in der Champions League zu sein.

Aber all das war egal in diesen wunderbar qualvollen Minuten im Dortmunder Westfalenstadion. Die Meister der Zeitschinderei hoben die Kunstform auf ein neues Level. Das war aufgrund der Ausgangssituation eventuell sogar ohne Sinn und gerade deswegen nahe an der Perfektion. Lang lebe das Zeitschinden!

Quelle: ntv.de

ntv.de Dienste
Software
Social Networks
Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen