Fußball

"Keiner spielt gerne gegen uns" HSV bangt, jubelt - und tönt ganz leise

Augen zu und durch: Ivica Olic und Ivo Ilicevic, Hamburger SV.

Augen zu und durch: Ivica Olic und Ivo Ilicevic, Hamburger SV.

(Foto: imago/Contrast)

Für die Hamburger ist es ein Jahrhundertspiel: Gegen Schalke drohen sie - erstmals seit 1919 - in die fußballerische Zweitklassigkeit abzustürzen. Am Ende müssen sie nachsitzen. Und haben tatsächlich wieder den Mut zu Sprüchen.

Heiko Westermann war hinterher durchaus guter Dinge. "Ich glaube, dass keiner gerne gegen uns spielt zurzeit." Für einen, der gerade mit seiner Mannschaft am letzten Spieltag der Saison äußerst knapp dem Abstieg aus der Fußball-Bundesliga entgangen war, hörte sich der rechte Verteidiger des Hamburger SV schon wieder recht forsch an. Er sagte aber auch: "Wir haben die Chance erhalten, noch zwei Spiele machen zu dürfen." Das wiederum klingt gar nicht mehr so angriffslustig. Immerhin: Der HSV hat es tatsächlich geschafft und sich an diesem Samstagnachmittag mit einem 2:0 (0:0) gegen einen wenig ambitionierten FC Schalke 04 zumindest in die Relegation gerettet.

Die Hamburger haben nun in zwei Spielen gegen den Tabellendritten der zweiten Liga die Chance, sich ihre seit 1963 währende Erstklassigkeit zu wahren. Am Donnerstag geht es ab 20.30 Uhr im eigenen Stadion also gegen Darmstadt 96, den Karlsruher SC oder den 1. FC Kaiserslautern. Das Rückspiel findet dann am Montag darauf, also am 1. Juni statt. Und wenn alles so läuft wie im vergangenen Jahr, als sie mit zwei Unentschieden gegen Fürth den Abstieg vermieden, dann folgen auf die bisher 1763 Partien in der Bundesliga zumindest 34 weitere. In der Freien und Fußballstadt Hamburg bliebe ihnen das Alleinstellungsmerkmal erhalten, als einziges Gründungsmitglied auch in der 53. Spielzeit immer noch dabei zu sein. Vor dem Hintergrund, dass der HSV, gegründet 1876, seit 1919 stets in der jeweils höchsten Spielklasse vertreten war, geht die Partie gegen Schalke tatsächlich als Jahrhundertspiel durch. Ein Nachmittag in Hamburg:

Jacket statt Trikot: Rafael van der Vaart - hier nach dem Schlusspfiff mit Artjoms Rudnevs.

Jacket statt Trikot: Rafael van der Vaart - hier nach dem Schlusspfiff mit Artjoms Rudnevs.

(Foto: imago/MIS)

14.32 Uhr: Die Fans in der S-Bahn nach Stellingen, also dorthin, wo ihr Hamburger SV im ausverkauften Stadion vor 57.000 Zuschauern gegen Schalke um seine letzte Chance spielen wird, reden schon über die Zweitliga-Meisterschale. "Ist doch auch ein schönes Ding." Und sie sprechen über Rafael van der Vaart, den Kapitän des HSV. Der hatte sich beim 1:2 in Stuttgart am Wochenende zuvor die Gelb-Rote Karte abgeholt - in der 93. Minute. Er fehlt beim Saisonfinale. "Dem hätte ich direkt eins in die Fresse gehauen." Aggressiv? Och, nö. Bisschen motzig vielleicht. Die Hamburger Polizei jedenfalls richtet sich auf den Fall der Fälle ein und zeigt am Hauptbahnhof, in der Stadt und vor dem Stadion Präsenz, was eine etwas unangenehme Atmosphäre zeitigt. Angst vor der Wut der Fans? Noch ist ja nichts passiert. Und nach dem Spiel wird Bruno Labbadia sagen: "Keiner hatte mehr einen Pfifferling auf uns gegeben."

15.05 Uhr: Er ist der vierte Trainer des HSV in dieser Saison - und steht eine knappe halbe Stunde vor dem Anpfiff vor seiner Bank am Rand des Spielfelds und blickt ins noch halbleere Stadion. Nur die Nordtribüne ist schon voll. Dort stehen die Fans, die auch kämen, spielte der HSV in der dritten Liga. Labbadia lächelt - und zwinkert kurz ins Publikum. Er weiß es, alle wissen es: Zuversicht muss er ausstrahlen. Das ist sein Job. Viel mehr liegt jetzt auch nicht mehr in seiner Hand. Dass er zwei Stunden und zwölf Minuten später der Mann ist, der mit dem HSV in den letzten sechs Saisonspielen zehn Punkte geholt hat, kann er noch nicht wissen. Aber er bemüht sich, so dreinzuschauen, als glaube er daran.

15.18 Uhr: Im Norden singen sie sich warm - für zwei Minuten. Dann werden sie wieder von der Musik aus den Lautsprechern übertönt: "We will rock you!" von Queen. Da singen sie doch einfach mit und klatschen dazu. Musik aus einer Zeit, als es dem Hamburger SV noch gut ging. Deutscher Meister war, den Europapokal der Landesmeister gewann. Lange her.

15.22 Uhr: Gerrit Heesemann ist mit seinem Gitarristen auf einem gelben Hubwagen vor der Nordtribüne in die Luft gegangen. Die meisten kennen Gerrit Heesemann unter seinem Pseudonym: Lotto King Karl. Sein Lied spielen sie seit 2001 vor jedem Heimspiel, also auch heute: "Hamburg meine Perle, du wunderschöne Stadt. Du bist mein Zuhaus', du bist mein Leben". Der Song erzählt davon, dass in Hamburg alles besser ist als anderswo. Und dass sie den Bayern die Lederhosen ausziehen, wenn sie in der Stadt sind. Auch lange her.

Die Schulter: Pierre-Michel Lasogga.

Die Schulter: Pierre-Michel Lasogga.

(Foto: imago/Metelmann)

15.30 Uhr: Hamburg, Sonne, Wolken, 18 Grad, Anpfiff. Sie sollen es für die Hamburger richten: René Adler, Heiko Westermann, Johan Djourou, Ivica Olic, Pierre-Michel Lasogga, Ivo Ilicevic, Lewis Holtby, Marcelo Diaz, Matthias Ostrzolek, Slobodan Rajkovic und Gojko Kacar. Und in der ersten Halbzeit spielen sie auch so, als wüssten sie ganz genau, welcher Druck auf ihnen lastet. Erstmals zweitklassig seit 1919? Herrjeh!

15.33 Uhr: Hannover geht gegen Freiburg in Führung, eine Minute später auch Paderborn gegen Stuttgart. Und der HSV ist in diesem Moment Tabellenletzter. Das heißt aber auch: Ein Tor, ein Sieg - und Hamburg ist gerettet. Aber es ist ja noch so lange zu spielen. Und die Gemütslage, nicht nur in Hamburg, wird sich an diesem Nachmittag noch einige Male ändern. Wie das so ist, wenn sechs Fußballmannschaften gleichzeitig bis zur letzten Minute gegen den Abstieg kämpfen.

15.56 Uhr: Hamburgs Angreifer Pierre-Michel Lasogga muss nach einer knappen halben Stunde raus, die Schulter. Für ihn hat der HSV vor der Saison 8,5 Millionen Euro bezahlt, vier Tore hat Lasogga in 22 Bundesligaspielen geschossen. Mit dem Toreschießen haben sie es ja in Hamburg nicht so, 22 Treffer in 17 Partien - schlechter war nur einst Tasmania Berlin. Und trotzdem muss eins her, sonst steigen sie schnurstracks ab. Für Lasogga schickt der Trainer Artjoms Rudnevs auf den Rasen. Der Lette trägt die Hoffnungen mit der Referenz von einem Tor in dieser Spielzeit. Hamburg, keine Perle.

16.06 Uhr: Im Ostwestfälischen schießt Daniel Didavi ein Tor für den VfB Stuttgart - 1:1. Der Hamburger SV klettert in der Blitztabelle von Platz 18 auf 17. Aber natürlich hat sich nichts geändert. Ein Sieg gegen Schalke muss her. Und dafür brauchen sie ein Tor. Mindestens. Aber keiner schießt es, nicht bis zur Halbzeit. Der Zwischenstand: Stuttgart steht auf dem Relegationsplatz, Hamburg auf Rang 17, Paderborn ist Letzter. So sieht es nach den ersten 45 Minute aus. Auf der Haupttribüne unterhält sich Horst Hrubesch mit Uwe Seeler - Legenden unter sich. Lange her. Uwe Seeler sieht mitgenommen aus.

16.33 Uhr: Die zweite Halbzeit läuft. "Auf geht’s, Hamburg schießt ein Tor", singen die Fans. So richtig überzeugend klingt das nicht. Vielleicht, weil sie nicht überzeugt sind.

keine große Show: Ivica Olic.

keine große Show: Ivica Olic.

(Foto: dpa)

16.36 Uhr: Ivica Olic, Hamburgs zweiter Angreifer, läuft zur Mittellinie und ballt die Faust. Keine große Show, er ist einfach nur erleichtert - wie alle, die es mit dem HSV halten. Vier Minuten nach der Pause steht es 1:0. Er, der im Winter vom VfL Wolfsburg gekommen war, 35 Jahre alt, hat seinen zweiten Treffer nach seiner Rückkehr erzielt. Oder wie es Peter Knäbel, der Direktor Profifußball, hinterher sagen sollte: "Er hat das geschafft, wovon wir alle geträumt haben." Noch lange nach der Partie rufen die Fans: "I-vi-ca O-lic!" Olic sagt - nichts. Vielleicht, weil er sich zu sehr verausgabt hat. Vielleicht aber auch, weil er ahnt, dass beim HSV grundsätzlich sehr viel schief läuft. Das hatte er auch gesagt, vor diesem Jahrhundertspiel: "Es fehlt Vertrauen, Spaß und Freude. Im Kopf ist eine Blockade." Aber nun ist Hamburg plötzlich Tabellenfünfzehnter - und wäre damit gerettet, ganz ohne Relegation. Heiko Westermann feuert die Fans an - als ob das noch nötig wäre. Hinterher ist Westermann der, der klipp und klar sagt: "Es gibt überhaupt nix zu feiern. Erst einmal aber ist es im Stadion so laut wie nie an diesem Nachmittag. Stellt sich nur die Frage, ob die Schalker jetzt noch was zu bieten haben. Haben sie nicht, zumindest nicht viel.

16.44 Uhr: Ab sofort ist - fast - nur noch wichtig, was auf den anderen Plätzen passiert. Rajkovic hat die Hamburger mit 2:0 in Führung gebracht. Jubel, Trubel, Heiterkeit - wenn da nicht die bangen Fragen wären, ganz genau zwei sind es: Trifft Stuttgart noch einmal? Und schießt Freiburg ein Tor? Träfe beides zu, hieße das: direkter Abstieg. Ansonsten: Relegation. Wie es in Paderborn und Hannover steht, zeigen sie allerdings im Stadion nicht. Ziemlicher Mumpitz in Zeiten von Smartphones. Und es soll ja tatsächlich auch noch Radio geben.

Hamburger Jungs.

Hamburger Jungs.

(Foto: AP)

17.00 Uhr: "Hamburger Jungs, Hamburger Jungs, wir sind alle Hamburger Jungs." Und: "Immer erste Liga, HSV." Sie singen sich Mut zu. Eine Viertelstunde noch, und die Sensation wäre perfekt, das wäre eine Rettung ohne Relegation tatsächlich. Selbst Uwe Seeler hatte nicht mehr daran geglaubt. Doch dann dringt die Kunde, auf welchem Weg auch immer, nach Hamburg: Der VfB hat es wieder getan - und führt mit 2:1 in Paderborn. Für den HSV heißt das: Platz 16. Nun melden sich auch die Schalker Anhänger von der anderen Seite des Stadions: "Absteiger! Absteiger!" Nett ist das nicht. Aber darum geht es ja auch nicht.

17.17 Uhr: Schiedsrichter Tobias Welz aus Wiesbaden pfeift das Spiel in Stellingen ab. Im Stadion rasten sie aus vor Freude. Nee, stimmt gar nicht. Es ist merkwürdig still im Stadion. Wenn einer etwas sagt, scheint er zu flüstern, zu raunen - so wie im Theater, bevor der Vorhang aufgeht. In Hamburg aber warten sie, dass der Vorhang fällt - in Hannover. Dort spielen sie nämlich noch. Die Spieler versammeln sich in der Nähe des Mittelkreises und warten auf die frohe Botschaft. "Am schlimmsten war das Leiden, als aus Hannover das 2:1 verkündet wurde und noch zwei Minuten zu spielen waren", berichtete Knäbel, Sie wissen schon, der Direktor Profifußball. Gelingt dem SC Freiburg noch ein Tor zum 2:2, ist der HSV raus. Nur bei den Schalkern ist alles wie immer: Die Spieler stehen vor ihren eigenen Fans - und lassen sich beschimpfen

17.22 Uhr: Die Nachricht des Tages macht die Runde: Abpfiff in Hannover. "Is' Schluss!" Eine Minute später zeigen sie das Ergebnis auch auf den Videoleinwänden. Der Rest ist Erleichterung. Die Spieler des HSV drehen eine Runde durchs Stadion, um sich zu verabschieden. Lotto King Karl, der nicht nur singt, sondern auch redet, verweist noch schnell auf den Relegationstermin am Donnerstag "in diesem geilen Stadion". Er hofft, dass dann alle wiederkommen. Und über der Arena scheint tatsächlich die Sonne. Zu kitschig?

17.42 Uhr: Peter Knäbel sieht aus wie ein glücklicher Mann. Oder zumindest wie einer, der sehr, sehr erleichtert ist. Im Abstiegskampf ist das fast das gleiche. "Es ist Dankbarkeit, dass man diese Extrarunde wieder drehen darf." Klingt so, als hätte er sich bereits auf den schlechtesten aller Fälle eingestellt.

18.12 Uhr: Labbadia, der Trainer, versucht es zum Endes dieses Tages mit einem Spruch: "Eigentlich wollten wir zwei Freundschaftsspiele machen nächste Woche; die ersetzen wir jetzt durch zwei Relegationsspiele." Gegen wen am liebsten? "Wir nehmen es, wie es kommt." Was soll er auch sagen? "Es ist gut, dass wir es jetzt in der Hand haben und anders als heute nicht von anderen abhängig sind." Er hat keine Wahl. Er muss jetzt Zuversicht ausstrahlen. Das ist sein Job. Aber er macht das gut.

Quelle: ntv.de

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