"Untergang", Ultras, untauglich Hertha zerbricht so brutal, wie der FC Bayern siegt
07.08.2022, 07:35 Uhr
Die Hertha-Spieler schlichen nach der Derby-Pleite nur kurz vor ihre Fans.
(Foto: IMAGO/camera4+)
Hertha BSC zerstört die zaghafte Aufbruchsstimmung im Verein auf brutalste Art und Weise: mit einem bundesligauntauglichen Auftritt bei Union Berlin. Die Ultras fordern vor der nächsten Derby-Pleite unbedingten Einsatz. Doch Hertha enttäuscht so konstant, wie Bayern siegt.
Eintracht-Stadion in Braunschweig am Sonntagabend vor einer Woche. Der Hertha-Vorsänger von der Ultra-Gruppierung "Harlekins Berlin" redet energisch auf Herthas Profis nach der Pokal-Pleite in Braunschweig ein. Es fallen wohl hauptsächlich aufmunternde Worte, schließlich steht sechs Tage später die wichtige Stadtmeisterschaft an. Der Capo fordert die Berliner auf, im Derby alles reinzuhauen. Davie Selke erzählt anschließend, dass er der Mannschaft die Bedeutung des Spiels mitgeteilt habe. "Die ist uns auch bewusst!", sagt der Stürmer damals. "Wir haben den Fans letzte Saison keinen Derby-Sieg schenken können (...) und das wollen wir unbedingt ändern."
Doch die Stadtmeisterschaft, die den Herthanern sogar wichtiger ist als der Pokal, mutiert für die West-Berliner zur erneuten Blamage. Alles reinhauen, hatten die Ultras gefordert. Und was macht die Alte Dame? Kein Kampf, keine Körperlichkeit, keine Konzentration. Wo bleiben die Aggressivität und der Offensivfußball à la Sandro Schwarz? Selke und seine Teamkollegen sind beim 1:3 (0:1) gegen die Eisernen von dem Geschenk des Derby-Sieges zu jedem Zeitpunkt so weit entfernt wie die ausverkaufte Alte Försterei vom leeren Olympiastadion.
Aufwind wird zu Gegenwind
In Köpenick kommen an diesem sonnigen Samstagnachmittag zunächst die Hertha-Torhüter aus den Katakomben zum Aufwärmen. Aus den Lautsprechern wummert "Was hat dich bloß so ruiniert?" von der Indie-Band "Die Sterne". Schlechte Vorzeichen für die West-Berliner? Dabei spürt man im Verein in den vergangenen Wochen und Monaten eine gewisse Aufbruchsstimmung. Endlich, so scheint es, hat man in Schwarz den passenden, erfahrenen Trainer gefunden. Der neue Präsident, Kay Bernstein, ist einer von "ihnen", den Fans. Doch das alles zerbricht nun in 90 Köpenicker Minuten. Natürlich ist in der Liga erst ein Spiel gespielt, aber der gefühlte Aufwind ist mit der zweiten bitteren Pleite abgeflacht - und hat sich bereits bedrohlich gewendet.
Spielt so eine Mannschaft, die unbedingt den Sieg in einem der wichtigsten Spiele der Saison will? Hertha steht von Beginn an hoch in einem 4-3-3, jedoch ist es Union, das direkt ein Feuerwerk abbrennt. Die Eisernen haben in den ersten drei Minuten gleich mehrere gute Situationen im gegnerischen Strafraum. Dagegen gelingt der Alten Dame in der ersten Hälfte nicht mal ein richtiger Torschuss, die gesamte Mannschaft ist kaum sichtbar.
Selke ist gar nicht im Spiel, lange Bälle werden von der Unioner Defensive stets locker entschärft. Konterversuche verlaufen sich im Mittelfeld und bleiben ungefährlich. Union macht es clever, steht tief, kompakt und sicher. Die Köpenicker attackieren schon früh im Spiel und lassen Hertha gar nicht erst ankommen, packen im Mittelfeld zu und spielen dann einfach, schnell und direkt auf die pfeilschnellen Sturmspitzen. Was im Pokalspiel in Braunschweig offensiv bei der Hertha noch funktionierte, ist nun überhaupt nicht auf dem Platz.
Niemand geht voran beim BSC
Dazu präsentiert sich die Verteidigung desaströs. Abwehrchef Dedryck Boyata wird vor dem Spiel von Trainer Schwarz aus "sportlichen Gründen" aus dem Kader verbannt, doch die neue Defensive zeigt sich ohne ihn bundesligauntauglich. Im Mittelfeld kauft der FCU dem BSC absurd locker mit Robustheit den Schneid ab. Die Alte Dame kann nicht mit Körperlichkeit dagegenhalten und strahlt quasi das ganze Spiel über null Gefahr und nur sehr wenig Energie aus.
Wer geht voran, wer reißt mit? Die bittere Antwort lautet: niemand. Leitwolf Kevin-Prince Boateng ist so wenig ein Faktor wie Suat Serdar, der meist halblinks und unauffällig bleibt. Kapitän Marvin Plattenhardt ackert zwar auf seiner linken Seite, aber auch er findet keinerlei Lösungen. Die Mannschaft wirkt ein wenig müde und auch Schwarz fällt an der Seitenlinie und in der Pause kein Mittel gegen die Köpenicker ein.
Noch eine Derby-Pleite kann sich Hertha eigentlich nicht erlauben. Die vergangenen drei Pflichtspiele verlor man gegen Union: 3:9 Tore, kein Punkt und das bittere Ausscheiden im Achtelfinale des DFB-Pokals 2021/22. Fans benötigen Erfolge, an denen sie sich festhalten können, die die Identität stärken. Die zeigen: "Dieser Verein gibt dir auch etwas zurück, nicht nur du opferst so viel deiner Hingabe, Liebe und Freizeit." Es braucht also die ultimative Wiedergutmachung, damit die Stimmung der Fans nicht komplett kippt. Damit es nicht wieder zu solchen Szenen wie im vergangenen Jahr kommt, als rund 70 Ultras nach der 2:3-Niederlage gegen Union im Pokal den Trainingsplatz stürmten und den Spielern drohten. Als schließlich nach der 1:4-Klatsche gegen die Stadtrivalen die Hertha-Kicker ihre Trikots auszogen und auf den Boden des Olympiastadions legen mussten.
Körperlichkeit zeigt nur Union
Doch der klägliche Versuch auf Rückzahlung der Fan-Zuneigung zerplatzt schon in der 32. Minute, als Theoson-Jordan Siebatcheu direkt vor den Herthanern zur verdienten Unioner Führung einköpft. Die Hertha-Spieler trotten mit gesenktem Haupt zum Mittelkreis und schleichen wenig später zur Pause in die Kabine. Die blau-weißen Anhänger geben zum ersten Mal Ruhe. Wie reagiert die Alte Dame?
Gar nicht. Es sind die Köpenicker, die gleich wieder mit zwei guten Chancen in die nächsten 45 Minuten starten. Das 2:0 in der 50. Minute ist sinnbildlich: Im Mittelfeld gewinnt natürlich Union den Kampf um den Ball - und nach ein paar direkten Kontakten rast auch schon Sheraldo Becker auf Torhüter Oliver Christensen zu und spitzelt den Ball über die Linie. Körperlichkeit, Gradlinigkeit, Gedankenschnelligkeit - all das zeigen die Rot-Weißen, all das vermisst Blau-Weiß. Diesmal schweigen die Hertha-Fans etwa länger.
Anschließend kämpft nicht etwa die Alte Dame, die Eisernen sind es, die weiter offensiv den Ton angeben. Das Kopfballtor von Robin Knoche in der 54. Minute nach einer Ecke muss zwar erst vom VAR überprüft werden, aber dafür dürfen die Köpenicker dann gleich zweimal jubeln. Die Blicke der Hertha-Spieler gehen kollektiv ins Nichts, der Fehlstart ist perfekt. Der Nachmittag ist gelaufen, die Stadtmeisterschaft geht wieder einmal an die Köpenicker.
Erst in der 60. Minute gibt es dann tatsächlich den ersten gefährlichen Torabschluss für den BSC nach einem Angriff über die rechte Seite. Das 1:3 für die Hertha kurz vor Schluss durch Dodi Lukebakio sorgt dann weder bei den Fans noch bei den Spielern für Jubel. Keiner sprintet zum Ball im Tor, um direkt zurück zur Mittellinie zu rennen. Keiner peitscht die Fans an. Die Enttäuschung, die Ernüchterung ob der abermals miesen Leistung in einem Derby sitzt zu tief.
Kein Bernstein-Effekt auf dem Platz
Abpfiff: Müdes Abklatschen, die Mannschaft schleicht vor die Gästekurve und bleibt erstarrt stehen. Doch die Ultras zünden nicht die nächste Eskalationsstufe, sie feiern ihr Team sogar, wenn auch mit eher halbherzigem Applaus. Nach einer Minute trollen die Spieler sich wieder.
Die Zurückhaltung der Hertha-Fans könnte etwas mit Neu-Präsident Kay Bernstein zu tun haben, der am Freitag in der "Süddeutschen Zeitung" sagt: "Ich habe den Eindruck, dass unter den Fans nach langen Jahren der Entfremdung jetzt das Gefühl herrscht: Wir holen uns unseren Verein zurück und packen es gemeinsam an." Er analysiert auch den Zuspruch der Ultras nach der Braunschweig-Pleite als positives Zeichen, weil es nun wieder "einen Austausch mit der aktiven Fanszene" seitens des Vereins gebe.
Ärgerlich nur, dass der Bernstein-Effekt nicht auf dem Platz greift. Positive Zeichen sieht dort keiner der Mitwirkenden. Nach dem Spiel herrscht ohnehin das große Schweigen in der Mannschaft. Nur Lukebakio und Oliver Christensen stellen sich kurz der Presse. "Alles", antwortet der Stürmer auf die Frage danach, was der BSC denn konkret besser machen müsse im nächsten Spiel. Das kann dauern, es dürften noch schwere Wochen auf die Herthaner zukommen: Die nächsten Gegner heißen Frankfurt, Gladbach und Dortmund.
Der erst 23-jährige Torhüter Christensen erzählt anschließend, das Team sei "enttäuscht und sauer", denn "wir wollten diesen besonderen Sieg für unsere Fans und für uns". Extra Druck hätte er nach der Harlekins-Ansage in Braunschweig aber nicht verspürt. Trainer Schwarz analysiert nach dem Spiel bei Sky: "Was Intensität und Zweikampfschärfe angeht, war das zu wenig."
Mit Blick auf die geborstene Aufbruchsstimmung und die verpatzte Wiedergutmachung mit den Fans fügt der Coach hinzu, dass es "extrem wichtig" sei, "jetzt keine Untergangsstimmung aufkommen zu lassen". Die Anhängerinnen und Anhänger im Block haben das erkannt, trotz des pomadigen Auftritts ihrer Mannschaft. Dafür sollte man ihnen Respekt zollen. Doch die Spieler schlittern mit solch einem Auftritt im Derby immer näher Richtung Untergang.
Hertha macht's wie die Bayern
Und damit gibt es in der Bundesliga wohl auch in dieser Spielzeit zwei Konstanten. Die Bayern dominieren und die Hertha verpatzt es auf groteske Art und Weise immer wieder - gerade, wenn sie eigentlich zum Siegen verdammt ist. Möchte man es noch sarkastischer mit der Alten Dame halten, könnte man behaupten, dass Hertha BSC sogar etwas mit dem großen FC Bayern gemein hat: Egal, wer bei den beiden Mannschaften an der Seitenlinie steht in den vergangenen Jahren - die Leistung bleibt konstant dieselbe.
Nur blöd für die Hauptstädter, dass es sich nicht wie bei den Münchnern um erfolgreiche, manchmal gar spektakuläre Siege handelt, sondern meist um Pleiten ohne Gegenwehr. Und so zerbricht die Hertha schon am ersten Spieltag wieder und kann auch diesmal nicht ein Derby konzentriert und mit Power von der ersten bis zur 90. Minute bestreiten. Allein darüber hätten sich die Ultras rund um ihren Vorsänger wohl schon gefreut. Ansprüche sinken beim BSC seit Jahren.
Quelle: ntv.de