Fußball

Von der Heulsuse zum Hoffnungsträger "Mini-Lahm" Henrichs bedrängt Kimmich

Benjamin Henrichs schenkt den Etablierten (hier: Ilkay Gündogan) im Training nichts.

Benjamin Henrichs schenkt den Etablierten (hier: Ilkay Gündogan) im Training nichts.

(Foto: dpa)

Ach, Philipp Lahm. Ach, Außenverteidiger. Ach, DFB-Team. Hinten rechts zwickte es jahrelang. Bis zur Fußball-EM. Da spielte Joshua Kimmich dort – und das auffällig. Problem erledigt? Denkste! Denn zu Kritik kommt nun eine "echte" Alternative.

Thomas Berthold ist Weltmeister geworden. Mit der deutschen Fußball-Nationalmannschaft 1990 in Italien. Berthold war Stammspieler. Er verteidigte das eigene Tor zusammen mit Libero Klaus Augenthaler und seinem Manndecker-Partner Guido Buchwald. Zwei echte Hünen. Brutal zweikampfstark. Das Offensivspiel? Nicht so ihr's. Musste es aber auch nicht. Denn in den taktischen Idealbildern der frühen 1990er Jahre war das nicht vorgesehen. Der Manndecker musste halt den Mann decken - und den Ball ab und an auch mal aufs Tribünendach hauen. Fertig.

Das ist Benjamin Henrichs
  • Geboren wurde Benjamin Henrichs am 23. Februar 1997 in Bocholt.
  • Neben der deutschen, besitzt er auch die ghanaische Staatsbürgerschaft.
  • Er spielt seit 2004 für Bayer Leverkusen, erhielt dort im Jahr 2015 seinen ersten Profivertrag.
  • Seit der U15 hat Henrichs alle deutsche Nachwuchs-Nationalmannschaften durchlaufen. Für die U21 hat der 19-Jährige allerdings erst einmal gespielt.
  • In diesem Jahr wurde er mit der Fritz-Walter-Medaille in Gold (Kategorie U19-Junioren) ausgezeichnet.

Bewahrt hat sich dieses Ideal bis heute. Allerdings in Spielklassen, die weit weg davon sind, einen erneuten Taktik-Aufstand zu proben. Trotz verschiedener Systeme wie Dreierreihe oder Fünferriegel setzen die meisten Trainer im Profitum weitgehend auf die bewährte Viererkette. Zentrales Element: komplette Außenverteidiger. Heißt: souverän im defensiven Zweikampf, fleißig und produktiv im Spiel nach vorne. Der Idealtypus dieser komplexen Position: Philipp Lahm. Der Spieler des FC Bayern aber steht zunehmend weniger auf dem Platz, in der Nationalmannschaft seit Sommer 2014 gar nicht mehr. Das ist ein großes Problem für Bundestrainer Joachim Löw, denn einen adäquaten Ersatz für hinten rechts hat er noch nicht gefunden.

Zwei Jahre stümperte sich das DFB-Team so durch, qualifizierte sich einigermaßen mühsam für die Europameisterschaft in Frankreich. Getestet wurde auf der neuen Problemposition viel. Sebastian Rudy, Benedikt Höwedes, Shkodran Mustafi – funktioniert haben sie zwar alle irgendwie, aber niemand so wirklich gut. Die Lösung fand ausgerechnet Josep Guardiola, als er noch die Münchener trainierte. Aber wen wundert's? Kaum ein erfolgreiches Experiment, kaum ein taktischer Kniff, ja kaum ein Text über den modernen Fußball kommen ohne eine Würdigung des Katalanen aus.

Seine Lösung hieß: Joshua Kimmich zur Mittelfeld-Abwehr-Allzweckwaffe umzuschulen und ihn beim Rekordmeister in die Innenverteidigung zu stellen. Bei der EM durfte Kimmich dann ab Vorrundenspiel drei gegen Nordirland (1:0) eine Position weiter außen ran, der gelernte Mittelfeldspieler agierte als Rechtsverteidiger auffällig – und spielte sich fest. Seitdem ist Kimmich auf Rechts, was Jonas Hector auf Links ist: grundsolide und mangels Alternativen deshalb gesetzt, obwohl der Bayern-Profi keineswegs nur positive Aktionen zeigt.

Henrichs sticht aus dem Pool heraus

Berthold, der Weltmeister, analysiert im "Kicker" dazu etwa: "Kimmich stellt als Außenverteidiger sicher nicht die Ideallösung dar, dazu mangelt es ihm an Dynamik, Tempo, Körperlichkeit, Kopfball- und Zweikampfstärke." Er sagt damit, was in Fußball-Deutschland derzeit kaum jemand sagt, weil in der ewigen Außenverteidigerdiskussion niemand der Miesepeter sein und die neue Ideallösung Kimmich anzweifeln will. Dabei gilt auch ohne den Bayern-Youngster: Die Zeiten des "Seid doch froh, dass wir überhaupt einen haben, der das einigermaßen kann" - die sind definitiv vorbei.

Deutschland hat plötzlich wieder einen stabilen Pool an Talenten für das Verteidigergeschäft an beiden Ende der Abwehrkette, unter anderem den Leipziger Lukas Klostermann, Herthas Mitchell Weiser und Jeremy Toljan von 1899 Hoffenheim. Und mit dem robusten, 1,82 Meter großen Leverkusener Benjamin Henrichs sogar einen, dem sehr viele Fachleute zutrauen, tatsächlich mal Lahm dauerhaft zu ersetzen. Diese trotz zahlreicher Warnungen und Mahnungen (unter anderem vom Bundestrainer) fast schon branchenübliche Reflex-Schmeichelei als "Mini-Lahm" wurde allerdings bereits bei Kimmich herangezogen, von dessen Rechtsverteidiger-Qualitäten aber neben Berthold auch Ex-Abwehrrecken wie Thomas Strunz und Manfred Kaltz nicht restlos überzeugt sind. So schreiben sie in ihren "Kicker"-Kolumnen.

Henrichs also, dessen Profi-Karriere noch gar nicht richtig Fahrt aufgenommen hat, gilt vielen schon jetzt als ein Hoffnungsträger für die deutsche Titelverteidigung bei der WM 2018. Gerade einmal 18 Ligaspiele, vier Auftritte in der Champions League, erste A-Nationalmannschafts-Nominierung – das klingt verdammt nach Wunderkind. Und ein kleines bisschen liest sich die Geschichte des 19-Jährigen auch so. Vom heulenden Dreijährigen, der gar keine Lust auf Fußball hatte, ist Henrichs zum Stammspieler in der Bundesliga geworden und zum international begehrten Top-Talent. Das alles allerdings nur wegen Oliver Kahn.

Alles wegen Oliver Kahn

Zwei für die Zukunft des DFB: Benjamin Henrichs (l.) und Julian Brandt von Bayer Leverkusen.

Zwei für die Zukunft des DFB: Benjamin Henrichs (l.) und Julian Brandt von Bayer Leverkusen.

(Foto: imago/Chai v.d. Laage)

Zwei Jahre nach den Tränen auf dem Trainingsplatz saß der gebürtige Bocholter vor dem Fernseher. Er sah die deutsche Nationalmannschaft bei der WM 2002. Und er sah, wie Oliver Kahn seine Mitspieler immer wieder mitriss. Dieser Wille gefiel ihm, erklärte er jetzt in einem Interview mit der "Sport Bild". Plötzlich hatte Henrichs Bock auf Fußball – und es ging steil nach oben. Seit er sieben ist, spielt er bei Bayer Leverkusen. Mit elf erklärte er seiner Mutter, dass er dringend erwachsen werden müsse, er müsse den Profis helfen. Das tat er das erste Mal am 20. September 2015, bei der 0:3-Niederlage in der Bundesliga gegen den BVB in Dortmund. Zunächst noch als offensiver Mittelfeldspieler, mittlerweile aber als Außenverteidiger.

Dafür scheint der 19-Jährige prädestiniert. Henrichs ist technisch bestens ausgebildet, beidfüßig, schlägt präzise Flanken und ist extrem zweikampfstark. Er gewinnt in dieser Saison 61 Prozent seiner Duelle, Philipp Lahm schafft "nur" 55 Prozent. Entscheidende Aussagekraft hat das freilich nicht, erwähnenswert ist es dennoch und deshalb findet es sich in fast jedem Text über den Leverkusener. Der Youngster hat einen Hype ausgelöst. Aktuellster Beleg dafür ist die Blitzberufung durch den Bundestrainer.

Doch schon nach dem spektakulären 2:0-Erfolg (ausgerechnet) gegen den BVB vor fünf Wochen gab's tüchtig Lob. Von den Kollegen. "Der Beste? Benny war der Beste bei uns!", lobte Abwehrchef Ömer Toprak, der ihm diese Karriere übrigens bereits vor zwei Jahren prophezeit hatte, wie Henrichs der "Sport Bild" erzählte. Und Rudi Völler schwärmte: "Seine Entwicklung im letzten halben Jahr ist unfassbar." Er selbst sagt: "Es ist schon extrem krass: Im Januar wurde ich erst umgeschult, und wurde jetzt zur Nationalmannschaft berufen - das ist krank."

Gegen San Marino, dem Gegner des DFB-Teams an diesem Freitagabend in der WM-Qualifikation (20.45 Uhr bei RTL und im Liveticker bei n-tv.de), wird Kimmich wohl hinten rechts beginnen. Er hat sich dort ja festgespielt, das sagte der Bundestrainer schon während der EM. Dass Löw seine Meinung nun ändert, würde so gar nicht zu seinem Stil passen. Aber er weiß, er hat wieder Alternativen. Zum Vorspielen im A-Team wird Henrichs – wie die anderen beiden Debütanten, Dribbelkünstler Serge Gnabry vom SV Werder Bremen und Neu-Linksverteidiger Yannick Gerhardt vom VfL Wolfsburg - wohl Gelegenheit bekommen. Entweder gegen die Amateure aus San Marino oder vier Tage später beim Testkick in Mailand gegen Italien (20.45 Uhr ARD und im Liveticker bei n-tv.de), so hat es Löw angekündigt.

Die Zeit der Verlegenheiten und Improvisationen ist endgültig vorbei. Im DFB-Team gibt's wieder echte Lösungen. Sogar auf den Außenverteidigerpositionen. Das freut bestimmt auch die Manndecker.

Quelle: ntv.de

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