Überraschend deutliche EM-Ansage Nagelsmann ist Hals über Kopf verliebt in seine DFB-Elf
27.03.2024, 06:24 Uhr
Ein begeisterter Bundestrainer: Julian Nagelsmann.
(Foto: dpa)
Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft setzt das nächste Ausrufezeichen. Auf den mitreißenden Sieg gegen Frankreich folgt ein leidenschaftlich erarbeiteter gegen die Niederlande. Der Bundestrainer bemüht danach fast nur Superlative.
Ob Julian Nagelsmann Bundestrainer bleiben möchte, darüber mochte der Bundestrainer Julian Nagelsmann an diesem späten Dienstagabend nicht reden. Aber wie er so redete, nach dem seine deutsche Nationalmannschaft auch das zweite hochkarätige Testspiel gewonnen hatte, klang das nach verdammt viel Spaß im Job. Und den spürt der 36-Jährige besonders in sich, wenn seine Fußballer gewinnen. Über die Gefühle nach Siegen und Niederlagen hatte er in den vergangenen Tagen, beim ersten und so vieles entscheidenden DFB-Lehrgang des Jahres, sehr ausführlich referiert. Und seiner eigenen Argumentation folgend reist er mit einem Hochgefühl aus Frankfurt ab. Im Stadion der Eintracht hatte seine Mannschaft die Niederlande mit 2:1 besiegt. Es war weniger ein Sieg zum Zungeschnalzen, wie noch am Samstag in Lyon gegen Frankreich (2:0), sondern einer der Tugenden.
Dass diese beiden Erfolge in ihrer Art so unterschiedlich ausfielen, das hatte dem Coach gefallen. Denn sie waren eine Bestätigung für seinen Plan, den er zwischen den Katastrophen gegen die Türkei (2:3) und gegen Österreich (0:2) gänzlich überarbeitet hatte und der nun immer mehr Begeisterung für das Heim-Turnier in weniger als drei Monaten schürt. Dabei war die Ausgangslage so bitter wie dankbar. Nichts musste, nein, nichts durfte so bleiben, wie es war. Um das schlummernde Potenzial des DFB-Teams zu heben, brauchte es massive Umbauarbeiten. Es brauchte eine gänzlich andere Balance. Es brauchte "Worker" und "Zauberer". Das klang zuerst seltsam, anders, aber irgendwie nach Nagelsmann, der selbst ja so anders ist, als so viele Zunftkollegen.
Es hätte an diesem Abend in Frankfurt gegen die sehr variabel spielenden Niederländer Dinge gegeben, die man kritisieren kann. Die Nachlässigkeiten in der Abwehr, das bisweilen zaghafte und verdaddelte Spiel nach vorne. Aber Nagelsmann mochte das nicht tun, nicht jetzt. Erstmal lobte und schwärmte er. Und hörte nicht mehr auf. "Ein herausragend geiles Spiel zum Analysieren" hatte er gesehen. Und trauerte der Möglichkeit nach, das direkt, unmittelbar zu tun. Aber seine Spieler ziehen weiter, ziehen zurück zu ihren Klubs. Dort kämpfen sie um die Meisterschaft, um die Champions League, um ihre Form. "Leider habe ich jetzt erst mal keinen Zugriff auf die Spieler. Da sind wir jetzt erstmal die zweite Geige, im Sommer aber die erste. Ich freue mich auf Weimar."
Leroy Sané bekommt quasi eine Kadergarantie
Dort startet für die Nationalmannschaft die Mission Heim-EM. Und wenn nicht mehr allzu viel passiert, dann begrüßt Nagelsmann sehr wahrscheinlich jene Spieler wieder, die nun auch dabei waren. Von den nicht Anwesenden bekam nur Leroy Sané quasi eine Einladungsgarantie. Vorausgesetzt, er integriert sich in dieses Kollektiv, das die Gefühle der Nation wieder berührt. Auch wenn es in Frankfurt lange seltsam ruhig auf den Rängen zuging, als würden die Besucher den Rausch der magischen Nacht von Lyon noch auskatern und dem sonoren Rauschen der nahenden Flugzeuge des Frankfurter Flughafens lauschen. Dass Sané mit der Rolle, die ihm zugedacht wird, fremdelt, daran glaubt Nagelsmann nicht.
Den Flügelspieler des FC Bayern, der wegen seiner Tätlichkeit aus dem Österreich-Spiel noch ein weiteres Mal gesperrt ist, lobt der Bundestrainer seit Tagen über den grünen Frühlingsklee. Als Spieler und als Mensch. Und dennoch geht es um Integration, um Rollen. Sané dürfte einer von jenen 12, 13 Fußballern sein, die den Stamm bilden. In der offensiven Reihe mit den jungen Wirblern Jamal Musiala, Florian Wirtz und Elder Statesman İlkay Gündoğan dürfte er sich vor allem mit dem Kapitän um den Fixplatz duellieren. Zu wichtig und dominant sind die beiden herausragendsten Talente im deutschen Fußball bereits für die Nationalmannschaft geworden. Auch wenn sie gegen die Niederlande immer wieder mit Probleme der Standfestigkeit kämpfte. Ein Hoch für einen Adi Dassler (kleiner Scherz!).
"Leider ist der Platz eine Katastrophe, wirklich eine Katastrophe", schimpfte daher Nagelsmann bei RTL. "Da gab es viele Situationen im letzten Drittel, als wir weggerutscht sind", so der Coach und namentlich Musiala, "der mit seinen Haken leider in dem Fall keinen guten Stand hatte".
Und auch wenn eben vor allem Musiala immer wieder die Kontrolle verlor, hinplumpste und damit gute Chancen für Deutschland verpasste, in letzter oder vorletzter Konsequenz, so befeuert der schlaksige Kreativspieler mit seinen Dribblings und seinem Mut die EM-Hoffnungen. Ebenso wie der vom Ball nahezu unzertrennliche Wirtz oder Toni Kroos, der selbst unter Druck je kaum über Ruhepuls agiert. Die Rückkehr aus dem DFB-Ruhestand war der vielleicht cleverste Schachzug der Nagelsmann'schen Radikalkur. Auch gegen die Niederlande zog er das Spiel an sich, mal machte er es breit, mal tief und schnell. Und mal spielte er einen so simplen Doppelpass, dass selbst die Gegner überrascht waren, die einfach dieses Spiel manchmal sein kann, dass so oft in diametral abkippende Sechser oder in vertikal agierende Gottweißwasakteure zerlegt wird.
Schnell raus aus der Negativspirale
Und Kroos bringt ein Selbstverständnis in diese Mannschaft, dass es in der Welt wohl nur bei Real Madrid gibt. Mit der Gelassenheit eines Allesgewinners beruhigte er seine Kollegen, flankiert von seinem neuen Kettenhund Robert Andrich, auch nach einem frühen Rückstand und einer bitteren Fehlerkette. Nach vier Minuten hatte der Niederländer Joey Veerman getroffen und den bitteren Gurkenpass von Maximilian Mittelstädt und die Passivität von Jonathan Tah bestraft. Auch hier ist laut Nagelsmann der Rasen schuld: "Auf einem guten Rasen verteidigen wir den - auch wenn es kein guter Ball war."
In der Zeit zwischen dem Weltmeister Kroos und dem Comebacker Kroos wäre dieser frühe Schreck dem DFB-Team womöglich nicht gut bekommen. Man hatte das zu oft erlebt. Die Negativspirale beschleunigte sich schneller, als jemand das kurze Wort "Stop" rufen konnte. Es war ein Mechanismus, der sich in den späten Joachim-Löw-Jahren, der an diesem Abend in Frankfurt mal wieder vorbeischaute, verselbstständige und den auch dessen verzweifelt tüftelnder Nachfolger Hansi Flick nicht reparieren konnte.
"Vor ein paar Monaten wären wir nach dem 0:1 wahrscheinlich halb zusammengebrochen. Das ist aber nicht passiert", lobt Kroos, um sich selbst und seinen Anteil dann möglichst kleinzuhalten. Was er der Mannschaft gebe? "Nichts besonderes." Aber? "Eine gewisse Ausstrahlung ist wichtig, um ein gewisses Selbstverständnis reinzubekommen. Ich glaube schon, dass ich dazu in der Lage bin, sicher nicht alleine. Der Spirit muss von der ganzen Mannschaft kommen. Den haben wir gezeigt." Was sich denn verändert habe? "Selbstvertrauen in den Aktionen." Und was das nun bedeute: "Die gute Nachricht ist, dass wir zwei sehr gute Testspiele gemacht haben. Die Schlechte ist, dass uns das keine Punkte für das Turnier bringt."
Nagelsmann findet den Schlüssel
Auch Nagelsmann brauchte ein wenig, um das richtige Handwerkszeug zu finden. Sprich, den Kader so robust aufzustellen, dass frühe Missgeschicke als genau das verbucht werden. Als nicht mehr und auch nicht weniger. Und mit seinem Ansatz nimmt er das Team mit. Etwa Joshua Kimmich, die jahrelang unantastbare Fachkraft im Maschinenraum. Der verteidigt nun rechts und macht das herausragend gut. Gegen Kylian Mbappé und die rotierenden niederländischen Offensivkräfte um Donyell Malen. Als es nach dem 0:1 einen Moment brauchte, ehe sich die Nationalmannschaft sammeln musste, bat Nagelsmann Kimmich zum Gespräch und gab ihm die Anpassungen mit auf den Weg. Dass er im Mittelfeld für "Nobody" Andrich Platz machen musste, nimmt er gelassen hin. Im Dienste des Teams. Die Rollen sind definiert, Kimmich bleibt trotz Versetzung wichtig, zentral.
Ob das auch für seinen vertrauten Co-Maschinisten Leon Goretzka noch einmal gelten kann, das ist nach diesem Doppeltestpack fraglicher denn je. Nagelsmann drückte die Tür für die Spieler aus dem erweiterten Umfeld noch ein bisschen fester zu als zuvor. "Wer jetzt nicht dabei war, muss Vollgas geben - und besser sein als diejenigen, die dabei sind. Wir werden auf jeden Fall nicht zehn oder fünf Spieler tauschen im Sommer, das steht außer Frage. Vielleicht einen oder zwei, wenn sich niemand verletzt." Manuel Neuer, so viel ist klar, wird einer sein. Leroy Sané ein zweiter. Ist damit alles geklärt? "Die Gruppe hat das echt sehr, sehr gut gemacht, sie haben ein sehr gutes Verhältnis zueinander, aber auch einen brutalen Ehrgeiz." Nagelsmann erhob sich in seiner Erlösung und Glückseligkeit in Guardiola'sche Superlativ-Schwärmereien. Sein riskanter Plan im letzten Härtetest vor der heißen EM-Phase ging voll auf. Man möchte sich gar nicht ausdenken, wäre er denn gescheitert ...
So ganz anders als gegen Österreich
Der brutale Ehrgeiz gilt auch oder vor allem für die Akteure aus der zweiten Reihe, zu denen etwa Thomas Müller zählt, der diese Rolle voll akzeptiert und seine innere Chefigkeit sofort ausspielt, wenn er eingewechselt wird. Er dirigiert, organisiert, motiviert und schleicht sich müllerhaft in die gefährlichen Räume, die er immer noch besser erschnüffelt als die allermeisten anderen Spieler auf der Welt. In der 83. Minute feuerte der Altmeister den Ball per Direktabnahme auf den starken Torwart Bart Verbruggen. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Deutschland die Trägheit der ersten Minuten längst aus den pinklilafarbenen Leibchen gespielt, die zum ersten Mal zum Einsatz kamen.
Ebenso wie die neue Wunschtorhymne der Deutschen. DJ Teddy-O hatte noch vor Anpfiff einen "Major-Tom"-Test unternommen und ihn für gut befinden lassen. Unter anderem von Müller, der beim Warmmachen mitsang. Aber zurück den Trikots: Auf den Tribünen leuchteten sie noch nicht so knallig, wie man das nach dem starken Verkaufsstart hätte erwarten können. Immerhin, so hatte der Boulevard erspäht, trug Nagelsmanns Freundin Lena das neue Auswärtsjersey. Und jubelte, um 20.56 Uhr, erneut mit "Major Tom", der "Kernkraft 400" von Zombie Nation endgültig verdrängen soll. Zombie Nation, das soll auch fußballerisch endlich überholt sein.
Nach elf Minuten hatte Mittelstädt seinen Bock wiedergutgemacht und mit einem Donnerschlag von Schuss ausgeglichen. Das DFB-Team suchte hernach Lösungen gegen die clever verteidigenden Gäste, Gündoğan und Havertz ließen zwei Topchancen liegen, aber auch die Niederländer hatten ein dickes Ding, dass der deutsche Kapitän gerade noch vor Malen entschärfen konnte. Wenn Tempo im deutschen Spiel war, war es mitreißend. Wenn das Tempo fehlte, war es zäh. Und für die Gäste um den gigantischen Virgil van Dijk gut zu verteidigen.
"Entspannt bleiben, alles ist okay"
Aber Kroos und seine Mitstreiter waren fortwährend darum bemüht, eine Lösung zu finden. Den nächsten Sieg einzufahren. Nagelsmann reagierte. Der von einer ungezügelten Spielfreude angetriebene Chris Führich stürmte die linke Seite entlang und sorgte für reichlich Stress. Ebenso wie Müller und Niclas Füllkrug. In Lyon noch etwas verstimmt, wegen seiner Rolle, war er dieses Mal einverstanden, mit dem Impact der Bank - und seinem eigenen. In der 85. Minute drückte er den Ball mit der Kopfschulter oder dem Schulterkopf knapp für die Linie. Es verging ein wenig Zeit, ehe der Treffer anerkannt wurde. "Wir wollten unbedingt gewinnen", lobte Nagelsmann. "Wir sind mehr Risiko gegangen als der Gegner, das Gefühl hatte ich in Österreich etwa nicht. Der Spirit hat sich ganz anders angefühlt als im November. Wir hoffen, dass es auch von Ende Mai bis Mitte Juli ineinander greift."
Das Stadion war nun laut, die Mannschaft feurig, fokussiert und der Bundestrainer kam aus dem Hymnensingen gar nicht mehr heraus: "Wir haben eine Mischung an Spielern gefunden, die die Rolle, nicht zu spielen, auch akzeptieren und dennoch Gas geben, wenn sie reinkommen. Die Bedeutung der Spieler, die reinkommen, ist genauso groß wie die der Spieler, die beginnen. Da habe ich von allen eine sehr große Akzeptanz, was die Rolle betrifft, gespürt. Dann ist der große Unterschied, dass wir zweimal gewonnen haben und nicht verloren. Das ist der wichtigste Unterschied." Und, möchte er jetzt Bundestrainer bleiben? "Entspannt bleiben, alles ist okay."
Quelle: ntv.de