Fan-Rätsel bei DFB-Erlösung Nur die Stimmung im Stadion ist noch ausbaufähig
26.03.2024, 23:45 Uhr
Deutschlands Fußballer legen nach: Gegen Frankreich feiert die Nationalmannschaft eine ebenso überraschende wie beeindruckende Auferstehung. Gegen die Niederlande muss das Team mehr arbeiten, erkämpft sich aber den Sieg. Aber was war mit den Fans los?
Was ist im Frankfurter Stadion passiert?
Deutschland ist schwarz und weiß. In der Bewertung der Fußball-Nationalmannschaft und beim Trikotdesign, zumindest meistens. Doch Schluss damit, einfach mal mit den großen Traditionen brechen. Der DFB hatte das ja im Vorfeld bereits getan und Adidas den Laufpass gegeben, das Team hatte gegen Frankreich am vergangenen Samstag nachgelegt und sich mit dem 2:0 wieder einen prominenten Platz auf der Weltbühne erobert. Und noch bevor der zweite Test gegen die Niederlande an diesem Dienstagabend angepfiffen worden war, ging es weiter mit dem Kehraus bei den Gewohnheiten. Peter Schillings "Major Tom" flog zurück aus der Vergessenheit in die Gegenwart und die deutschen Fußballer liefen erstmals im pinken Dress auf. Alles anders, alles neu.
Doch mit dem Schwung der Veränderung war es nicht weit her. Nach vier Minuten versenkte Joey Veerman all die guten Gefühle, sie sich seit Samstag aufgebaut hatten. Dass Maxi Mittelstädt, der den Rückstand mit einem Gurkenpass eingeleitet hatte, sieben Minuten später mit einem Donnerschlag von Schuss ausglich, erweckte die Geister nur kurz. Lange zogen sich fortan wieder zurück in die Höhle. Etwas nachhaltig Mitreißendes wollte bei aller Dominanz und allem Bemühen erst später entstehen.
Bisweilen war es in diesem Fußballtempel so leise, dass man Julian Nagelsmann bis unters Stadiondach dirigieren hören konnte. Und wenn er das mal nicht tat, dann erklang hoch oben das Dröhnen der Flugzeuge, sich dem Flughafen näherten (oder sich von ihm entfernten) - gelebte EM-Euphorie? Hörte sich lange Zeit anders an. Bis zur 85. Minute, als Joker Niclas Füllkrug auf 2:1 stellte. Der Brustlöser. Zweiter Sieg im zweiten Spiel des Jahres. Der Weg zum Heim-Turnier stimmt. Auch wenn der Bolide nach der rasanten Fahrt in Lyon ein wenig Geschwindigkeit verlor, zeigt er, dass er robust gewinnen kann - und unbedingt will.
Teams & Tore
Deutschland: ter Stegen/FC Barcelona (31 Jahre, 40 Länderspiele) - Kimmich/FC Bayern (29/84) ab 79. Henrichs/Leipzig (27/14), Tah/Leverkusen (28/23), Rüdiger/Real Madrid (31/68), Mittelstädt/Stuttgart (27/2) ab 79. Raum/Leipzig (25/20) - Kroos/Real Madrid (34/108), Andrich/Leverkusen (29/3) ab 59. Groß/Brighton & Hove (32/3) - Wirtz/Leverkusen (20/16) ab 73. Müller/FC Bayern (35/128), Gündoğan/FC Barcelona (33/75) ab 59. Führich/Stuttgart (26/3), Musiala/FC Bayern (21/27) - Havertz/Arsenal (24/44)ab 73. Füllkrug/Dortmund (31/15); Trainer: Nagelsmann
Niederlande: Verbruggen/Brighton & Hove (21/5) - de Ligt/FC Bayern (24/44), van Dijk/Liverpool (32/66), Ake/Manchester City (29/44) - Dumfries/Inter Mailand (27/52), Schouten/Eindhoven (27/3) ab 75. de Roon/Bergamo (32/42), Veerman/Eindhoven (25/8) ab 89. Wieffer/Feyenoord Rotterdam (24/9), Blind/Girona (34/106) ab 89. Simons/Leipzig (20/13) - Reijnders/AC Mailand (25/8) ab 66. Timber/Feyenoord Rotterdam (22/1), Malen/Dortmund (25/30) ab 75. Gakpo/Liverpool (24/10) - Depay/Atlético Madrid (30/90) ab 75. Weghorst/Hoffenheim (31/31); Trainer: Koeman
Schiedsrichter: Espen Eskaas (Norwegen)
Tore: 0:1 Veerman (4.), 1:1 Mittelstädt (11.), 2:1 Füllkrug (85.)
Gelbe Karten: Andrich, Kroos - Blind
Zuschauer: 48.590 (ausverkauft)
Was war gut?
Es gibt bei Heimspielen des DFB-Teams einen, dem eigentlich nie ein Vorwurf gemacht werden kann. Der Einsatz von DJ Teddy-O vor dem Anpfiff ist unumstritten: Ein Hit nach dem anderen - laut und der Mix kennt keine Pausen. Und so lief es auch beim DFB-Team. Zwar war die Leistung zunächst nicht so entfesselt wie sie es phasenweise gegen Frankreich war, aber der Einsatz stimmte. Die Ansätze, der Wille sind - wie schon gegen Frankreich - zu sehen.
Bundestrainer Nagelsmann spricht gerne von den talentfreien Dingen, auf die es ankommt. Mancher nennt sie die "deutschen Tugenden", am Ende geht es um die gleichen Dinge: Einsatz, Wille, Mut. Das blitzte auch bei der Nationalelf auf. Etwa, wenn Tah in einem schläfrigen Augenblick den Ball verliert, aber sich dann doch zurück in den Zweikampf arbeitet. Gleiches passierte auch Kimmich, der in der ersten Hälfte gegen Blind erst den Ball verstolperte und dann doch später zurückholte. Am deutlichsten wird das bei Mittelstädt: erst das Gegentor verschuldet, dann den Ausgleich erzielt.
Und offensiv? Auch da zeigte das DFB-Team vor allem gute Ansätze. Der sehr aktive Musiala hatte nicht nur mit den niederländischen Verteidigern um das menschgewordene Stoppschild Virgil van Dijk seine Probleme, sondern vor allem auch mit dem Geläuf. Immer wieder rutschte er weg, immer wieder verlor er im Dribbling das Gleichgewicht. Da half auch nicht, dass er häufig am Ball mutige Szenen hatte. Anders Florian Wirtz, der zweite Magier in der deutschen Offensive. Er war in seinen Aktionen vielleicht nicht so omnipräsent wie der Münchner, dafür hatten seine kleinen, steilen Pässe oft etwas Gewinnbringendes. Und wenn er sich den Ball schnappte und losmarschierte, war er kaum zu bremsen. Die Durchschlagskraft der vergangenen Monate im Verein und auch aus dem Frankreich-Spiel ging ihm allerdings wie seinen Teamkollegen auch ab.
Wo war noch Luft nach oben?
Das zweite große Mysterium neben der Stimmung war die Standfestigkeit von Jamal Musiala. Immer wieder verlor das Bayern-Talent die Kontrolle über seine Beine. Mal rutschte er weg, mal stolperte er. Dass das oft in aussichtsreichen Positionen passierte, war nicht gut für das deutsche Offensivspiel. Mehrfach klemmte die letzte oder vorletzte Aktion. Was der Grund war, vorerst unbekannt.
Wer ist der Gewinner des Abends?
Die Bank der Nationalmannschaft. Wirkte die Startelf nach der Auferstehung gegen Frankreich fast schon in Stein gemeißelt, so bekam das Fundament nun schon wieder leichte Risse. Robert Andrich, gegen Kylian Mbappé und Co. noch sehr auffällig an der Seite von Toni Kroos, war dieses Mal lediglich defensiv im Dienst, hatte dabei sehr viel Mühe, die Räume dicht zu bekommen. Das lässt ein wenig Luft nach oben, auch seine Mentalität ein großer Gewinn ist und bleibt. Maxi Mittelstädt, ebenfalls groß gefeierter Debütant in Lyon, hatte dieses Mal häufiger Probleme mit dem schnellen und trickreichen Denzel Dumfries. Einem Herausforderer wie David Raum oder Benjamin Henrichs lässt das die Tür wieder etwas mehr offen.
Als absolute Bereicherungen wirkten auch Chris Führich mit seiner ungestümen Leidenschaft und Lust am Kicken. Und Thomas Müller, der sofort zweiter Chef war. Niclas Füllkrug, in Lyon noch unzufrieden mit seiner Ersatzrolle, warb ebenfalls mit seinem nächsten Treffer für sich. Es zahlt sich aus, dass Nagelsmann klare Rollen definiert hat und danach nominiert. Dass er die Spielertypen breiter aufgestellt hat, sich damit selbst mehr Varianten schafft. Womöglich sind derzeit nicht die 23 individuell besten Fußballer des Landes im Kader, aber vielleicht stattdessen jene, die am besten zueinanderpassen. Das zumindest scheint der Plan des Bundestrainers zu sein.
Was war noch ausbaufähig?
Selten kommen Menschen wegen der großartigen Stimmung auf den Rängen zu Spielen des DFB-Teams. Doch: Deutschland gegen Niederlande, das sind doch eigentlich große Duelle? Nach dem Knalleffekt gegen Frankreich wirkte das Publikum auf den Rängen hin und wieder leicht verkatert. Irgendwie träge, irgendwie gehemmt. Immerhin: Gepfiffen wurde bei Fouls der Niederländer, gejubelt bei starken Aktionen der DFB-Elf.
Doch bisweilen war das, was auf den Rängen passierte (oder eben nicht), schon bemerkenswert. Dass Nagelsmanns Anweisungen gut zu hören waren, ist vielleicht nicht so überraschend. Eher: Dass das Rauschen der Flugzeuge, die in regelmäßigen Abständen über den Deutsche Bank Park flogen, zu hören war, ist da eher überraschend.
Aber, wie die DFB-Elf, so auch der Anhang: immer wieder mit viel Einsatz. Handgezählte vier La-Ola-Wellen schwappten durch die Arena. Fangesänge verloren sich im Klatschen. Immerhin: Nach dem überraschenden Siegtreffer von Joker Füllkrug passten auch die ohnehin fragwürdigen "Sieg"-Gesänge, die es vorher schon beim Stand von 1:1 gab.
Was sagen die Beteiligten?
Julian Nagelsmann: "Der Sieg tut sehr gut. Das Spiel war anspruchsvoller als gegen die Franzosen. Wir haben aktiv verteidigt. In der zweiten Halbzeit kann das Spiel kippen, in der letzten Viertelstunde hatten wir die klar besseren Chancen. Wir wollten das Spiel unbedingt gewinnen. Der Geist der Mannschaft ist sehr gut. Die letzten zehn Tage waren super von der Mannschaft. Der Platz war eine Katastrophe."
Toni Kroos: "Ich bin stolz auf die Mannschaft. Sie kommt aus einer schweren Zeit. Wir haben den Schwung und das Selbstvertrauen gut mitgenommen. Vor ein paar Monaten wären wir nach dem Rückstand noch zusammengebrochen. Die schlechte Nachricht ist, dass uns das keine Punkte für das Turnier bringt."
Lothar Matthäus: "Jetzt wissen sie, was sie können. Sie haben gegen zwei Top-Mannschaften in Europa verdient gewonnen. Es kann etwas Großes entstehen. Wir gehören zu den Favoriten bei der EM."
Quelle: ntv.de