Nagelsmann murrt ganz leise Stresstest für Hasan Salihamidzic
13.08.2021, 11:53 Uhr
Angespannt?
(Foto: imago images/Passion2Press)
Der FC Bayern hat einen "exzellenten" Kader. Das findet Klub-Boss Oliver Kahn. Das ist natürlich auch ein Lob für Sportvorstand Hasan Salihamidžić. Doch stimmt die Einschätzung des Titanen? Einen gewaltigen Stresstest für die zurückhaltende Kaderpolitik gibt es direkt zum Liga-Start.
Die Sache ist ja so: Lionel Messi hätte das größte Problem des FC Bayern auch nicht gelöst. Bitte nicht falsch verstehen: Weitergeholfen hätte der Argentinier dem Rekordmeister ganz sicher. Dafür ist er einfach ein viel zu guter Fußballer. Man kennt die ganzen Geschichten von Zaubertoren und Zauber-Zaubertoren. Die schießt der 34-Jährige nun für Paris St. Germain. Natürlich vor allem, weil das Team so stark ist und beste Chancen auf den Triumph in der Champions League hat. Aber eben auch, weil der Verein in der Lage ist, sehr vernünftige Gehälter zu bezahlen. So um die 40 Millionen Euro pro Jahr sollen es sein. Ob brutto oder netto, das ist nicht ganz klar. Macht die Sache aber nur absurder.
Der FC Bayern hätte solche Summen nicht stemmen wollen (was sehr angenehm ist). Und auch nicht können (was eher unangenehm ist). Denn die Pandemie hat auch die Bilanz des Münchner Großklubs gecrasht. Dem bizarren Wettrüsten der internationalen Konkurrenz schaut der Rekordmeister zu und ist dabei einigermaßen fassungslos. "Da reibe ich mir schon ab und an die Augen", sagt Trainer Julian Nagelsmann. "Ich weiß nicht genau, wie die das hinbekommen." Nun, die Sache ist wohl sehr einfach zu erklären: Den Scheichs, Oligarchen oder sonstigen Investoren hat die Corona-Krise offenbar nicht sonderlich geschadet. Ihre Lust am Event-Investment ist ungebrochen. Dem einen oder anderen dient die Zusammenstellung von absurden Luxus-Teams auch als willkommenes Sport-Washing.
Nun, das Problem hat Nagelsmann nicht. Selbst, wenn der FC Bayern einen umstrittenen Deal mit Qatar-Airways hat. Das Problem des neuen Trainers ist, dass er einen ziemlich überschaubaren Kader beieinander hat. Mit Dayot Upamecano hat der Verein in diesem Sommer nur einen Spieler auf Top-Niveau verpflichtet. Eine äußerst zurückhaltende Reaktion auf die Abgänge der beiden Stammkräfte David Alaba und Jérôme Boateng sowie des stets äußerst soliden Javi Martinez. Bereits zur vergangenen Saison hatte die Rotation der mächtigen Titel-Sammler durch die Abgänge von Thiago, Philippe Coutinho und Ivan Perisic (kompensiert durch Leroy Sané) an Kraft, Qualität und Quantität verloren.
Das Aufgebot der Münchner ist nun durchaus eine mutige Wette. Eine, die Sportvorstand Hasan Salihamidžić eingegangen ist. Er wehrt sich gegen den Transfer-Wahnsinn um Messi (PSG), um Jack Grealish (Man City), um Jadon Sancho (Man United) oder Romelu Lukaku (FC Chelsea). Er hat gute (Vernunft)-Gründe. Der Mann, der sich in den vergangenen anderthalb Jahren einen zermürbenden Machtkampf mit Hansi Flick in der Kaderpolitik geliefert hatte, steht aber wegen seiner (Zurück)-Haltung unter Druck. Dass er blieb und der erfolgreiche Coach ging, das sorgte bei Teilen der Fans für Wut. Sogar eine Petition gegen den Bosnier wurde gestartet.
Die Konkurrenz hat Schwächen behoben
Die Herausforderung für Salihamidžić ist gewaltig. Er muss den Erfolg des Rekordmeisters absichern. Und das eben unter dem Einfluss der Pandemie. So setzt der Sportvorstand in dieser Saison darauf, dass die Pläne mit jedem einzelnen Spieler aufgehen. Sie müssen es tun, denn sonst könnte es eng werden. Nicht nur auf internationalem Terrain, sondern auch national. Die Hauptkonkurrenten aus Leipzig und Dortmund haben in diesem Sommer deutlich weniger Umwälzungen zu bearbeiten. RB hat seine Schwäche im Abschluss mutmaßlich mit dem Transfer von André Silva (28-Tore-Mann aus Frankfurt) behoben und die Abgänge der Abwehrhünen Upemecano und Ibrahima Konaté mit den Top-Talenten Josko Gvardiol und Mohamed Simakan gekontert. Ob auch kompensiert?
Noch mal anders ist die Lage bei der Borussia. Die muss "lediglich" auf Sancho verzichten. Das ist natürlich nicht schön. Er war in den vergangenen Jahren eine der größten Attraktionen der Liga. Aber der BVB hat mit Donyell Malen ein nächstes großes Versprechen verpflichtet. Der Niederländer ist ein anderer Typ, aber mit seinem Tempo, mit seiner Leidenschaft zur Vorarbeit und seinem auch guten Abschluss ist er vielleicht die perfekte Ergänzung für den unfassbaren Erling Haaland. In der Spitze mag der FC Bayern noch immer das beste Team haben, in der Breite hat er es eher nicht. Auch, wenn die Eigeneinschätzung an der Säbener Straße eine andere ist. Zuletzt bekannte Klubchef Oliver Kahn, dass der Kader "exzellent" sei. Eine mindestens mal mutige Aussage.
Lothar Matthäus sieht das anders. Dietmar Hamann auch. Der sieht indes viele Dinge anders. Dem FC Bayern kann das egal sein. Nur selten sorgen kritische Ansagen von Experten für solche Eskalationen, wie einst am 19. Oktober 2018, als die beiden Alphatiere Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge zur Pressevernichtungskonferenz ausholten. Auch dabei: Hasan Salihamidžić. Nun, viel alarmierender ist es für die Münchner, wenn die Kritik aus dem eigenen Mia-san-mia-Kosmos kommt. Der Dissens von Flick und dem Sportvorstand hat den Verein an die Grenzen der emotionalen Belastbarkeit getrieben. Dass die Fußballer von diesem zermürbenden Theater ziemlich unbeeindruckt blieben, das war sehr bemerkenswert. Auch wenn es die eine oder andere Klage gab, von Joshua Kimmich etwa.
Brutale Ernüchterung in der Vorbereitung
Nagelsmann hat in seinen ersten Wochen gut daran getan, nicht in den Flick'schen Kampfmodus zu schalten. Fragen nach Transferwünschen hatte er höflich und professionell abgearbeitet. Ganz im Sinne des Klubs. Doch nach einer ruckeligen Vorbereitung mit vier Testspielen ohne Sieg (bedeutet also alle Spiele ohne Sieg) wird auch der neue Mann klarer in seinen Ansagen. Vor dem Bundesliga-Auftakt gegen Borussia Mönchengladbach (ab 20.30 Uhr im Liveticker bei ntv.de) sagt er Sätze, die kaum verklausuliert nach Alarmschlagen klingen. "Wenn man die ersten 13 Spieler sieht, dann sind wir sehr stark besetzt. Wenn diese 13, 14 Spieler gesund bleiben, kannst du viel erreichen." Nun hat es das in der Geschichte der Liga vermutlich eher selten gegeben. Und der Traum von einem ewig gesunden Aufgebot ist schon in der Vorbereitung auf brutale Weise geplatzt.
Erst verletzte sich Alphonso Davies. Der Linksverteidiger ist zwar wieder fit, aber vom Training des neuen Coaches hat er noch nicht viel mitbekommen. Und für einen Einsatz von Beginn an reicht es auch noch nicht. Fehlen wird auch wieder einmal Lucas Hernández. Das ist besonders bitter, denn der Franzose sollte ja eigentlich Stammkraft sein, sollte dabei helfen, die Abgänge von Boateng und Alaba vergessen machen. Es ist ein Auftrag, der schon länger an ihn formuliert ist. Aber der Körper verhindert das immer wieder. Zumindest, wenn es um das Thema Konstanz geht.
Und dann ist da noch Benjamin Pavard. Der einzige Rechtsverteidiger auf höchstem Niveau. Nach einer schwachen Spielzeit war er eigentlich wieder gut in Form, wie Nagelsmann sagte, jetzt fällt er aus. Und das wohl länger. Wie lange, das ist nach seiner Verletzung am Sprunggelenk unklar. Die Optionen: Bouna Sarr, der für Flick nicht mehr war als ein Mann fürs Training, und der eigentlich wegwollte. Oder aber Niklas Süle, über den es immer wieder Diskussionen gibt, dass die Bosse ihn auf Bewährung halten. Weil er nicht hält, was man sich versprochen hatte. Aber auch er hat immer wieder körperliche Leiden. Und dann ist da noch Josip Stanisic. Ein 21-Jähriger aus der eigenen Jugend. Ein Talent. Mehr (noch) nicht.
Was können die Talente leisten?
Junge Spieler, sie sind die große Hoffnung von Kahn und Salihamidžić. Denn Durchbrüche von Talenten, das steht dick im Aufgabenheft des Trainers für die nächsten Jahre. Damit sollen mögliche Nachteile im irren Wettbieten auf dem internationalen Transfermarkt ausgeglichen werden. Das Urteil von Nagelsmann dürfte die Bosse nicht freuen: "Sie haben ihre Sache gut gemacht, brauchen aber alle noch Zeit, von ihnen wird in dieser Saison kaum einer in der Bundesliga spielen."
Am weitesten ist Jamal Musiala, der als fixe Option eingeplant ist. Auch Omar Richards, der aus der zweiten englischen Liga kam, soll schnell in eine Rolle wachsen, in der er sich Nagelsmann ständig anbietet. Richards ist ein Mann für die linke Seite. Im Abwehrzentrum trägt Tanguy Nianzou die Hoffnungen. Seine Vorbereitung war gut, trotz der vielen Gegentore in den vier Testspielen. Die Lage im Kader ist wirklich dünn. Auch im Mittelfeld. Für Joshua Kimmich und Leon Goretzka gibt es keinen stabilen Ersatz. Marc Roca ist es nicht (er ist auch gerade verletzt), Corentin Tolisso ist es ebenfalls nicht (er ist immer wieder verletzt). Bleibt zur Not Musiala, der aber eigentlich offensiver spielt. Ein bisschen Puffer hat der Kader in der Offensive. Serge Gnabry, Kingsley Coman, Leroy Sané, Thomas Müller, Robert Lewandowski, Musiala und Choupo-Moting, das ist schon sehr vernünftig. Anhaltende Formkrisen oder schwere Verletzungen sollten dennoch besser nicht passieren.
Nagelsmann sagt: "Als Trainer wünschst du dir immer die Maximalanzahl an Topspielern, aber es muss noch eine gewisse Harmonie im Kader geben. Wir versuchen, muskuläre Verletzungen so gering wie möglich zu halten. Wir hoffen, dass alle Spieler gesund bleiben. Wir werden nach wie vor den Transfermarkt durchforsten, ob etwas Sinn macht oder nicht." Messi machte es nicht. Tatsächlich nicht.
Quelle: ntv.de