Pfannenstiel zur U21-EM "Titel muss der Anspruch sein"
16.06.2017, 11:04 Uhr
Serge Gnabry: Über die U21-EM zum WM-Stammspieler?
(Foto: picture alliance / Guido Kirchne)
Für den deutschen Trainer Stefan Kuntz ist die U21-EM in Polen eine "Überraschungskiste". Dennoch will und soll das Team um den Titel spielen. Wer dabei die größten Gegner sind und wo die Stärken und Schwächen der Deutschen liegen, verrät der "Welttorhüter" Lutz Pfannenstiel im Interview mit n-tv.de.
n-tv.de: Herr Pfannenstiel, die deutschen U21-Kicker gehen in Polen auf EM-Titeljagd. Trainer Stefan Kuntz spricht von einer "Überraschungskiste". Was erwarten Sie sich von dem Turnier?
Lutz Pfannenstiel: (lacht) Eine "Überraschungskiste" kann es durchaus werden. Aber klar ist auch, dass es ein sehr gut besetztes Turnier ist: Mit England, Spanien, Italien, Portugal und Deutschland sind die wirklich großen Mannschaften dabei. Nur die Franzosen fehlen. Ich erwarte ein allgemein sehr hohes Niveau!
Lutz Pfannenstiel ist der erste Fußballer, der in seiner Karriere auf sechs Kontinenten gespielt hat: 25 Vereine in 13 Ländern - nachzulesen in "Unhaltbar - Meine Abenteuer als Welttorhüter". Seit seinem Karriereende verantwortete er unter anderem den Bereich International Relations und Scouting beim Fußball-Bundesligisten 1899 Hoffenheim. Er war von 2018 bis 2020 Sportdirektor beim Bundesliga-Traditionsverein Fortuna Düsseldorf. Seit August 2020 ist er Sportdirektor beim MLS-Verein St. Louis City SC.
Pfannenstiel ist zudem als TV-Experte für verschiedene nationale und internationale Sender wie ESPN, SRF, BBC und DAZN tätig. Er ist Auslandsexperte beim DFB und Trainerausbilder bei der FIFA. Pfannenstiel ist zudem der Gründer von Global United FC.
Kuntz hat auch gesagt, dass Deutschland um den Titel mitspielen wolle ...
Da gebe ich ihm völlig recht, das sollte der Anspruch jeder deutschen Fußball-Nationalmannschaft sein, auch gerade weil die A-Elf amtierender Weltmeister ist. Wenn man dabei ist, will man auch gewinnen. Zum Spaß fährt die Mannschaft nicht nach Polen. Aber das Gleiche gilt auch für die Teams aus Italien oder Spanien. Ein Selbstläufer wird das definitiv nicht.
Die deutsche U21 - 2009 Titelträger - geht laut DFB mit A-Kader-Verstärkung an den Start. Andererseits sind auch neun Spieler der sonstigen U21 für den Weltmeister beim Confed Cup unterwegs. Wie stark schätzen Sie Kuntzes Team ein?
Zunächst einmal ist es natürlich sehr positiv für den deutschen Fußball, dass so viele Spieler, die eigentlich noch in der U21 spielen dürften, jetzt schon eine Stufe höher bei Bundestrainer Joachim Löw im Kader stehen. Andererseits hat aber auch die zurückliegende U20-Weltmeisterschaft gezeigt, dass es für ein deutsches Team sehr schwierig ist, in ein gut besetztes Turnier ohne eine gute Vorbereitung zu gehen. Das trifft auch auf die jetzige U21 zu, in der zudem noch viele neue Spieler binnen kürzester Zeit integriert werden müssen. Trotzdem: Alles in allem traue ich der Kuntz-Elf einiges zu.
Eingespielt ist die Mannschaft also nicht. Wo liegen ihre Stärken?
Eine Stärke ist: der Kader ist hungrig mit vielen spannenden Spielern besetzt. Gleichzeitig sind auch gestandene Bundesligaspieler dabei wie der Neu-Bayer Serge Gnabry, Schalkes Max Meyer, Maxi Arnold vom VfL Wolfsburg oder auch Hoffenheims Nadiem Amiri. Kuntz' Mannschaft kann also auf Talent und Erfahrung gleichermaßen pochen. Der Kader ist rund, das Kollektiv passt. Das sind die Vorteile.
Sie sprechen die erfahrenen Bundesligaspieler an, zu denen sicher auch die beiden Neu-Dortmunder Maximilian Philipp und Mo Dahoud zählen. Wer könnte der deutsche EM-Star werden?
Der Fokus wird sicher auf Gnabry liegen, nicht zuletzt auch durch seinen Wechsel zu den Bayern. Gnabry hat aber auch bereits in der A-Nationalmannschaft sein Können bewiesen. Die Erwartungshaltung ist da natürlich riesig. Max Meyer hat in Rio seine Olympia-Medaille abgeholt. Und nicht zu vergessen der Ex-Freiburger Philipp. Wenn jemand für geschätzte 20 Millionen Euro in diesem Alter wechselt, gehen damit auch gewisse Erwartungen einher. Aber es gibt durchaus noch andere, die das Zeug dazu haben, bei diesem Turnier groß rauszukommen.
Wer hat denn das Zeug dazu, die U21-EM als Sprungbrett für die WM in Russland im kommenden Jahr zu nutzen?
Was das betrifft, bin ich vorsichtig. Neben der A-Nationalmannschaft setzt Bundestrainer Löw auf den sogenannten Perspektivkader, mit dem er auch den Confed Cup bestreitet. Dass jetzt aus der U21 plötzlich zehn Spieler den Sprung in das WM-Team schaffen, ist deshalb sehr unwahrscheinlich. Trotzdem: Für den einen oder anderen bietet die U21-EM natürlich die perfekte Bühne, um sich in Löws Fokus zu spielen und sich für höhere Aufgaben, sprich die WM 2018 in Russland, zu empfehlen. Es wäre unfair, einzelne Spieler als mögliche Kandidaten rauszupicken. Das Potenzial dazu haben alle.
Torhüter: Odisseas Vlachodimos (Pan. Athen), Julian Pollersbeck (Kaiserslautern), Marvin Schwäbe (Dresden)
Abwehr: Waldemar Anton (Hannover), Yannik Gerhardt (Wolfsburg), Gideon Jung (HSV), Thilo Kehrer (Schalke), Marc-Oliver Kempf (Freiburg), Lukas Klünter (Köln), Niklas Stark (Hertha), Jeremy Toljan (Hoffenheim)
Mittelfeld/Angriff: Nadiem Amiri (Hoffenheim), Maximilian Arnold (Wolfsburg), Mahmoud Dahoud (Mönchengladbach), Serge Gnabry (Bremen), Janik Haberer (Freiburg), Dominik Kohr (Augsburg), Max Meyer (Schalke), Levin Öztunali (Mainz), Maximilian Philipp (Freiburg), Felix Platte (Darmstadt), Davie Selke (Leipzig), Mitchell Weiser (Hertha)
Trainer: Stefan Kuntz
Die EM wird in drei Gruppen á vier Teams ausgespielt. Wieso dieser Modus? Klassisch wäre ja ein Vier-Gruppen-System mit je drei Mannschaften gewesen.
Klassisch schon. Aber als Test finde ich diesen Modus mit den drei Gruppenersten und dem besten Gruppenzweiten, die sich für das Halbfinale qualifizieren, auch sehr gut. Die Teams können sich nicht ausruhen, auf Remis spielen. Sie müssen von Anfang an Gas geben, auf Sieg spielen. Taktisches Geplänkel wie bei einer aufgeblähten U20-WM, wo auch noch die besten Gruppendritten weiterkommen, wird es so hoffentlich nicht geben. Ich freue mich auf den Modus und ein sehr attraktives Turnier!
Die Gruppengegner heißen Tschechien, Dänemark und Rekordsieger Italien. Nur der Gruppensieger erreicht sicher das Halbfinale. Wer ist der härteste deutsche Konkurrent?
Vom Papier her ganz klar: Italien. Mit den Italienern ist einfach bei jedem Turnier, egal in welcher Altersklasse, zu rechnen. Das hat die U20-WM jüngst wieder bewiesen, als die Italiener nach mäßiger Vorrunde keiner so richtig auf der Rechnung hatte und am Ende der dritte Platz herausgesprungen ist. Italiens U21 hat einen talentierten Kader, herausragende Individualisten und einige Serie A-erfahrene Akteure. Mit AC-Milan-Keeper Donnarumma, Juve-Verteidiger Daniele Rugani oder Frederico Bernardeschi vom AC Florenz stehen Supertalente mit Weltklassepotenzial auf dem Platz. Sollte die Kuntz-Elf remis gegen Italien spielen oder gewinnen, ist das Halbfinale in meinen Augen gesichert.
Gibt es für Sie eine "Todesgruppe"?
Ja. Die Gruppe B mit Spanien, Portugal, Serbien und Mazedonien ist für mich die härteste, gefährlichste Gruppe bei dem Turnier. Spanien und Portugal sind gefühlt schon immer bei allen Nachwuchsteams herausragend. Dann ist mit Serbien noch der U20-Weltmeister von 2015, ein Team, das mit Weltmeistern gespickt ist und das auf keinen Fall unterschätzt werden darf. Mazedonien hat sich in den vergangenen Jahren zwar stetig verbessert, gegen die anderen drei Teams dürfte eine Halbfinalteilnahme aber außer Reichweite liegen.
Die deutsche Mannschaft reist an diesem Mittwoch nach Polen und bezieht ihr EM-Quartier in Krakau. Die Gegner der DFB-Auswahl in der Vorrundengruppe C:
Sonntag, 18. Juni in Tychy | ||
Deutschland - | Tschechien | 18.00 Uhr |
Mittwoch, 21. Juni in Krakau | ||
Deutschland - | Dänemark | 20.45 Uhr |
Samstag, 24. Juni in Krakau | ||
Italien - | Deutschland | 18.00 Uhr |
Gruppe A
Polen, Slowakei, Schweden, England
Gruppe B
Portugal, Serbien, Spanien, Mazedonien
Modus: Zwölf Teams spielen die Vorrunde in drei Vierergruppen aus. Die Gruppensieger und der beste Zweitplatzierte erreichen das Halbfinale. Das Finale findet am Freitag, 30. Juni, ab 20.45 Uhr in Krakau statt.
Welches Team haben Sie besonders im Blick - vielleicht Titelverteidiger Schweden?
Ich bin davon überzeugt, dass Schweden den Titel nicht erfolgreich verteidigen wird. Die Engländer haben einen soliden Kader. Torwart Jordan Pickford ist gerade dabei, zum teuersten englischen Torwart aller Zeiten zu werden. Rob Holding hat mit Arsenal im Mai den FA-Cup geholt. Beide spielen mit Gastgeber Polen und der Slowakei in Gruppe A. England ist gerade U20-Weltmeister geworden. Die Strukturreformen im englischen Fußballsystem - vergleichbar mit denen des DFB Anfang der 2000er-Jahre - tragen damit erste Früchte. Die englische U21 sehe ich als durchaus konkurrenzfähig an. Die Gruppe A ist für mich am ausgeglichensten.
Apropos "am ausgeglichensten": Vor zwei Jahren überraschte Schweden und holte den Titel. Wem könnte dieses Kunststück diesmal gelingen?
Das lässt sich vorab nicht sagen (lacht). Sonst wäre es ja keine Überraschung. Aber klar ist, dass es auch diesmal durchaus ein Sensationsteam geben könnte. Zwar sind die großen Namen dabei, aber das heißt noch lange nicht, dass einer davon am Ende den Titel holt. Das ist eine Besonderheit der Nachwuchsturniere: Mannschaften, die man nicht auf dem Zettel hatte; Spieler, die plötzlich international zeigen, was sie drauf haben und sich in den Fokus spielen: Bei den A-Welt- oder Europameisterschaften gibt es das kaum noch.
Butter bei die Fische: Wer spielt im Halbfinale?
(lacht) Wenn ich das wüsste, könnte ich viel Geld verdienen. Spanien hat mit Hector Bellarin, Marco Asensio oder Saul Niguez Spieler im Kader, deren Marktwerte zwischen 20 und 40 Millionen Euro liegen. Trotz allem gehe ich davon aus, dass Deutschland, Spanien und Italien ins Halbfinale einziehen. Auf das vierte Team will ich mich nicht festlegen.
Und wie lautet das Finale?
(lacht) Keine Ahnung. Aber Deutschland gegen Spanien wäre ein Traumfinale. Auch mit Spanien gegen Italien könnte ich leben. In unserem Kader passt die Mischung, es stimmt die Struktur und mannschaftstaktisch sind alle Spieler auf höchstem Niveau ausgebildet - daher ist alles drin.
Bleibt die Frage: Wer holt den Titel?
Da rede ich mich mal ein bisschen heraus (lacht) - und sage: das Niveau ist so hoch, die Top-Teams so ausgeglichen, dass ich da keine Prognose abgeben kann, wer gewinnt. Das ist ja auch eine Geschichte der Tagesform - und der Vorbereitung. Die längste und intensivste Vorbereitung hatten übrigens die Mazedonier.
Nun findet die U21-EM in Polen statt. Könnte es ein Hooligan-Problem geben?
Ich war bei der EM in Polen vor Ort und bin damals auch zwischen zwei Hooligan-Fronten geraten, wie andere normale Fans und sogar Familien auch. Das war schockierend. Dennoch denke ich, dass dieses Thema diesmal keine Rolle spielen wird. Die U21-EM ist immer noch ein Nachwuchsturnier, die Zuschauerklientel ist ein wenig anders als bei den EM- und WM-Turnieren der A-Nationalmannschaften. Ich habe große Hoffnungen, dass die U21-EM ein friedliches Turnier werden wird, das den Zuschauern vor Ort und am TV sehr großen Spaß bereiten wird.
Mit Lutz Pfannenstiel sprach Thomas Badtke
Quelle: ntv.de