"Collinas Erben", strikt tolerant Boateng bestraft, Ilicevic im Glück
24.08.2015, 09:45 Uhr

Und tschüss: Schiedsrichter Tobias Stielerzeigt Jérôme Boateng die Rote Karte.
(Foto: imago/Avanti)
Beim Last-Minute-Sieg des FC Bayern zeigt der Referee, dass sich Konsequenz und Toleranz nicht ausschließen müssen. In Augsburg hingegen grollen sie dem Schiedsrichter nicht grundlos, während er in Hamburg für die Big Points sorgt.
Die 73. Minute des Spiels bei der TSG Hoffenheim wird Jérôme Boateng so schnell nicht vergessen. Eben noch wegen eines Foulspiels kurz vor dem eigenen Strafraum verwarnt, zeigte Schiedsrichter Tobias Stieler dem Abwehrchef des FC Bayern München nur wenige Sekunden später, nach dem folgenden Freistoß von Sebastian Rudy nämlich, die Gelb-Rote Karte - und außerdem auf den Elfmeterpunkt. Denn Boateng hatte den Ball mit dem Ellenbogen abgewehrt und dadurch verhindert, dass er dem von Manuel Neuer gehüteten Tor gefährlich werden kann. Der Unparteiische erkannte darin Absicht und handelte entsprechend. Der Weltmeister musste vom Platz, der Rekordmeister drohte in Rückstand zu geraten. Boateng nahm die Entscheidung dennoch kommentarlos hin, und auch seine Mitspieler protestierten auf dem Platz kaum.
Dafür hatten sie nachher umso größeren Redebedarf. "Die Regel beim Handspiel ist sehr unklar", fand Thomas Müller, "deshalb tun sich auch die Schiedsrichter selbst schwer, richtig zu entscheiden". Kapitän Philipp Lahm pflichtete ihm bei: "Man guckt sich eine Szene im Fernsehen zehnmal an und streitet anschließend noch immer darüber." Gut, den Strafstoß für Hoffenheim könne man geben. Aber es sei bitter, "dass Jérôme deswegen auch noch vom Platz musste, nachdem er eine Minute davor Gelb gesehen hatte".
"Collinas Erben" - das ist Deutschlands erster Schiedsrichter-Podcast, gegründet und betrieben von Klaas Reese und Alex Feuerherdt. Er beschäftigt sich mit den Fußballregeln, den Entscheidungen der Unparteiischen sowie mit den Hintergründen und Untiefen der Schiedsrichterei. "Collinas Erben" schreiben jeden Montag auf ntv.de über die Schiedsrichterleistungen des Bundesligaspieltags. Unser Autor Alex Feuerherdt ist seit 1985 Schiedsrichter und leitete Spiele bis zur Oberliga. Er ist verantwortlich für die Aus- und Fortbildung in Köln, Schiedsrichterbeobachter im Bereich des DFB und arbeitet als Lektor und freier Publizist.
Der Referee hatte jedoch alles richtig gemacht. Denn Boateng war in der Abwehrmauer hochgesprungen, als der Ball auf ihn zuflog, und hatte die Kugel in einer Drehbewegung mit seinem vom Körper abgewinkelten Arm aufgehalten. Regeltechnisch war seine Armhaltung in dieser Szene unnatürlich, außerdem hatte er seine Körperfläche vergrößert - beides Kriterien für ein strafbares Handspiel. Weil Boateng zudem einen Torschuss blockierte, hatte der sehr gute Schiedsrichter Stieler keine andere Wahl, als die zwingend vorgeschriebene Verwarnung auszusprechen - was in der Summe Gelb-Rot bedeutete. Bei der Ausführung des anschließenden Elfmeters war die Ungeduld groß: Als Eugen Polanski den Ball auf das Tor der Gäste trat, befanden sich bereits vier Hoffenheimer und zwei Spieler des FC Bayern etwa zwei Meter im Strafraum.
Ein solches vorzeitiges Eindringen in den Sechzehner ist eigentlich nicht erlaubt. In der Praxis lassen die Referees jedoch seit Jahren eine gewisse Toleranz walten, wenn die Spieler es nicht übertreiben. Das heißt: Bleibt es bei einem oder zwei Metern, drücken die Schiedsrichter meist ein Auge zu - so auch Stieler. Da diese Großzügigkeit allgemein begrüßt wird (oder doch zumindest akzeptiert ist), besteht letztlich auch kein Anlass, eine peniblere Einhaltung der Regelung anzumahnen. Was aber geschieht, wenn ein Spieler beim Elfmeter deutlich zu früh und zu weit in den Strafraum läuft? Dann wird es ein bisschen kompliziert, denn das weitere Vorgehen hängt entscheidend davon ab, wie der Strafstoß ausgeht und zu welcher Mannschaft der übereifrige Spieler gehört. In keinem Fall darf seine Ungeduld belohnt werden.
Konkret heißt das: Läuft ein Mitspieler des Schützen zu früh in den Strafraum, dann wird der Elfmeter wiederholt, falls der Ball ins Tor geht. Landet die Kugel dagegen nicht im Kasten, bekommt die verteidigende Mannschaft einen indirekten Freistoß. Wenn ein Mitspieler des Torwarts zu schnell im Strafraum ist und der Ball dennoch ins Tor geht, dann zählt der Treffer. Wird der Strafstoß dagegen nicht verwandelt, gibt es eine Wiederholung. Und sollten Spieler beider Teams klar zu früh in den Strafraum eindringen, dann muss der Elfmeter unabhängig von seinem Ausgang stets ein weiteres Mal ausgeführt werden.
Schwerstarbeit für den Schiedsrichter in Hamburg
In Frankfurt beklagten sich derweil die Gäste aus Augsburg über den Unparteiischen Florian Meyer. Denn vor dem Ausgleichstreffer der Hausherren zum 1:1-Endstand in der 86. Minute habe es "ein klares Foulspiel drei Meter vom Linienrichter entfernt" gegeben, wie Trainer Markus Weinzierl monierte. "So etwas nicht zu pfeifen, das ist schon bitter." Manager Stefan Reuter schloss sich an: "Wenn einer mit gestrecktem Bein reinspringt, darf man nicht weiterlaufen lassen." In der Tat hatte der Frankfurter Aleksandar Ignjovski mit seiner rustikalen Grätsche gegen Konstantinos Stafylidis die Grenze des Zulässigen eigentlich überschritten. Doch der Schiedsrichter-Assistent hob trotz günstiger Positionierung und bester Sicht seine Fahne nicht, weil er keine Regelwidrigkeit gesehen hatte - und Florian Meyer folgte ihm. Der Augsburger Ärger war deshalb durchaus nachvollziehbar.
Schwerstarbeit hatte Meyers Kollege Günter Perl beim Spiel zwischen dem Hamburger SV und den VfB Stuttgart zu verrichten. Vor allem beim Treffer der Gastgeber zum 1:1 durch Ivo Ilicevic war das Schiedsrichterteam extrem gefordert: Es musste beim weiten Pass von Johan Djourou auf den Torschützen nicht nur gegenläufige Bewegungen von Hamburger Angreifern und Stuttgarter Verteidigern in Sekundenbruchteilen und ohne Hilfsmittel erkennen, sondern auch rasche Positionsverschiebungen und mögliche Einflussnahmen durch Spieler der Hanseaten innerhalb weniger Wimpernschläge exakt einschätzen, um bei der Frage "Abseits oder nicht?" zur richtigen Antwort zu kommen. Die Situation war derart komplex und schwer zu beurteilen, dass ein Fehler erheblich wahrscheinlicher schien als eine korrekte Entscheidung. Doch das Gespann beschloss nach kurzer Beratung an der Seitenlinie: Das Tor zählt - und lag damit goldrichtig.
Auch bei den anderen Schlüsselentscheidungen der Partie waren Perl und seine Helfer auf der Höhe: Beim erneuten Führungstreffer der Gäste zum 1:2 erkannten sie wiederum sehr gut, dass keine Abseitsposition vorlag, beim Zweikampf zwischen dem Hamburger Verteidiger Emir Spahic und dem Stuttgarter Martin Harnik im Strafraum der Gastgeber in der 65. Minute gab der Referee zu Recht keinen Elfmeter, weil Harnik allzu bereitwillig den Kontakt gesucht hatte. Und der Stuttgarter Florian Klein hätte sich nicht beklagen können, wenn er für seinen Tritt auf das Schienbein von Matthias Ostrzolek die Rote statt der Gelb-Roten Karte gesehen hätte. Ein Platzverweis war in dieser Situation jedenfalls unausweichlich.
Der zurzeit jüngste Bundesliga-Schiedsrichter feierte unterdessen ein gelungenes Debüt in der höchsten deutschen Spielklasse: Der 26-jährige Benjamin Brand brachte die überraschend ausgeglichene Partie zwischen Schalke 04 und Aufsteiger SV Darmstadt 98 souverän über die Runden und hatte die Akteure jederzeit sicher im Griff. Allenfalls hätte er gelegentlich darauf hinwirken können, dass die Gäste sich bei Spielfortsetzungen und vermeintlichen Verletzungen nicht ganz so viel Zeit lassen. Doch das blieb bei Brands Einstand lediglich eine Randnotiz.
Quelle: ntv.de