Collinas Erben

"Collinas Erben" erklären Bochum profitiert von neuer Auslegung beim Abseits

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Gladbachs Ausgleich zählte nicht.

Gladbachs Ausgleich zählte nicht.

(Foto: IMAGO/Beautiful Sports)

Der Mönchengladbacher Ausgleichstreffer im Spiel beim VfL Bochum zählt nicht, weil sich die Regelauslegung beim Abseits geändert hat. Mit der Interpretation des Schiedsrichters sind die Gladbacher jedoch nicht einverstanden.

In der Partie zwischen dem VfL Bochum und Borussia Mönchengladbach (2:1) lief die 82. Minute, als der Gladbacher Jonas Hofmann bei einem Eckstoß den Ball hoch in den Strafraum der Gastgeber trat. Sein Mitspieler Marvin Friedrich köpfte die Kugel an den Torraum, wo der Bochumer Vasilios Lampropoulos sie mit dem Fuß wieder nach außen bugsierte, zurück zu Hofmann. Der schlug den Ball erneut vor das Gehäuse der Hausherren, Ramy Bensebaini beförderte ihn mit dem Kopf ins Tor. Der Ausgleich zum 2:2? Schiedsrichter Daniel Schlager gab den Treffer zunächst, wurde dann aber von seinem Video-Assistenten Johann Pfeifer in die Review Area am Spielfeldrand beordert.

Nach dem Betrachten der Bilder annullierte der Referee das Tor - wegen einer Abseitsstellung von Hofmann im Moment des Kopfballs von Friedrich. Das verwunderte viele, schließlich war der Ball ja von Lampropoulos, also einem Bochumer, zum Gladbacher Eckstoßschützen und Flankengeber gelangt. War das etwa kein klassisches Beispiel eines "deliberate play", also eines bewussten, absichtlichen, freiwilligen Spielens des Balles durch den Abwehrspieler, das die ursprüngliche Abseitsstellung aufhebt?

Die Antwort ist durchaus komplex. In der vergangenen Saison hätte dieser Treffer gezählt, denn da lag ein "deliberate play" schon vor, wenn der Abwehrspieler seinen Fuß oder einen anderen Körperteil aktiv zum bereits gespielten Ball führte und ihn spielte oder auch nur berührte, also nicht bloß den Fuß in die Schussbahn hielt. Ob er das in einer kontrollierten Art und Weise tat oder nicht, war unerheblich.

Diese Regelung führte dazu, dass höchst umstrittene Tore für gültig erklärt wurden, etwa im DFB-Pokal-Achtelfinale der Saison 2020/21 zwischen Borussia Dortmund und dem SC Paderborn 07. Da wurde ein Treffer von Erling Haaland trotz der Abseitsstellung des Torschützen beim Zuspiel zu ihm anerkannt, weil ein Paderborner Spieler den Ball zwischenzeitlich minimal abgefälscht hatte. Das genügte, damit ein "deliberate play" gegeben war.

Geänderte Regelauslegung beim "deliberate play"

Vor dieser Saison erfuhr zwar nicht die Regel selbst, aber ihre Auslegung eine Änderung. Das heißt: Der Regeltext blieb gleich, nicht jedoch seine Interpretation. Denn kaum jemand konnte nachvollziehen, warum ein Treffer wie der von Haaland oder auch das siegbringende Tor von Kylian Mbappé im Nations-League-Finale 2021 zwischen Frankreich und Spanien regelkonform sein sollte, nur weil der Ball von einem Abwehrspieler unkontrolliert berührt oder gespielt wurde, bevor er zu einem Stürmer im Abseits kam. Also gaben erst die UEFA und kurz vor dem Beginn der Bundesliga-Saison auch die Regelhüter vom International Football Association Board (IFAB) gemeinsam mit der FIFA neue Leitlinien zum "deliberate play" heraus.

Diese beiden Leitlinien unterscheiden sich zwar nicht grundsätzlich voneinander, aber doch in einigen Formulierungen. Beide eint, dass "deliberate" nun auch den Aspekt der Kontrolle des Abwehrspielers über Ball und Körper einschließt, der vorher keine Rolle gespielt hatte. In der Juli-Ausgabe der offiziellen, zweimonatlich erscheinenden Schiedsrichter-Zeitung des DFB wird der zentrale Aspekt der UEFA-Auslegung so erklärt: "Kontrolliert bedeutet, der Abwehrspieler ist unbedrängt, nicht in einem Zweikampf befindlich und spielt den Ball auch nicht in einer Abwehraktion 'in höchster Not'." Nach der Leitlinie von IFAB und FIFA wiederum ist die Kontrolle gegeben, wenn der Abwehrspieler die Möglichkeit hat, "den Ball einem Mitspieler zuzuspielen oder in Ballbesitz zu gelangen oder [sich] zu befreien (z. B. mit dem Fuß oder dem Kopf)".

Was heißt Kontrolle und damit Absicht?

Ob ein Spieler den Ball kontrollieren könnte und ihn demnach "absichtlich spielt", sei anhand folgender Kriterien zu beurteilen:

  • "Der Ball legte eine gewisse Distanz zurück, und der Spieler hatte klare Sicht auf den Ball.
  • Der Ball bewegte sich langsam.
  • Der Ball ging in eine zu erwartende Richtung.
  • Der Spieler hatte Zeit, seine Körperbewegungen zu koordinieren (d. h. keine instinktiven Streck-, Sprung- oder sonstigen Bewegungen mit begrenzter Ballberührung/-kontrolle).
  • Ein Ball am Boden ist einfacher zu spielen als ein Ball in der Luft."

Die Aspekte der Bedrängnis, der Verwicklung in einen Zweikampf und der Not werden in der IFAB/FIFA-Leitlinie - die später erschien, jedoch regeltechnisch für die Verbände maßgeblich ist - also nicht erwähnt. Dennoch lassen sie sich als Anhaltspunkte insbesondere für die Antwort auf Frage verwenden, ob ein Spieler Zeit hatte, seine Körperbewegungen zu koordinieren, oder ob die Bewegung zum Ball und das anschließende Spielen des Balles nur eingeschränkt oder gar nicht als kontrolliert zu bewerten ist, weil er beispielsweise von einem Gegner bedrängt wurde. Wichtig ist jedoch auch: Wenn die Möglichkeit einer kontrollierten Aktion besteht, der Spieler dann aber den Ball infolge eines technischen Fehlers schlecht spielt, handelt es sich trotzdem um ein "deliberate play", das die Abseitsstellung aufhebt.

Wie Schiedsrichter und DFB die Entscheidung erklären

Schiedsrichter Daniel Schlager erklärte nach dem Spiel in Bochum, Lampropoulos habe versucht, den Ball zu klären, aber das habe er nicht kontrolliert getan. "Wenn er das kontrolliert macht, spielt er ihn in Richtung Mittelkreis. Wenn er in Bedrängnis ist, hat er nicht die Zeit und Kontrolle über die Situation. Daher ist es unkontrolliert, und es ist keine neue Abseitsbewertung erforderlich." So habe er es auch schon auf dem Feld wahrgenommen. Sein Assistent an der Seitenlinie hatte aber die Abseitsstellung von Hofmann als solche nicht wahrgenommen, wie Peter Sippel, der sportliche Leiter der Bundesliga-Referees, in einer Erklärung auf der Website des DFB ausführte. Dadurch kam es zum Eingriff des VAR.

Für Sippel war die Annullierung des Gladbacher Tores korrekt. Denn Lampropoulous habe den Ball "nur mittels eines Ausfallschritts beziehungsweise einer Streckbewegung" spielen können. Entscheidend sei dabei, dass er sich "vor, während und selbst nach dem Kopfball von Gladbach-Spieler Marvin Friedrich noch im Zweikampf mit dem Gladbacher Spieler Nico Elvedi" befunden habe. Daher sei insbesondere der vierte Punkt in der IFAB/FIFA-Leitlinie nicht gegeben. Es handle sich somit nicht um ein kontrolliertes Spielen, das infolge eines technischen Fehlers schließlich misslang, "sondern um eine Abwehraktion in Not".

Christoph Kramer widerspricht

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Die Gladbacher sahen das gänzlich anders. Christoph Kramer etwa sagte: "In der Situation war es nicht unkontrolliert, sondern Unvermögen, weil er den Ball klar spielen kann und ihn einfach nicht richtig trifft." Damit sprach er genau jenen Punkt an, der für die Bewertung dieser Situation maßgeblich ist: War Lampropoulos wirklich so stark bedrängt, dass man von einer fehlenden Kontrolle über Ball und Körper ausgehen musste? Oder hatte er genügend Zeit für eine koordinierte Abwehraktion, die dann jedoch nicht zu einer erfolgreichen Klärung führte?

Darüber kann man trefflich streiten, es gibt gute Argumente für beide Positionen. Regeltechnisch ist die Bewertung der Situation durch den Schiedsrichter und den sportlichen Leiter Peter Sippel auf der Grundlage der gezeigten Fernsehbilder zumindest nachvollziehbar, fußballerisch gewiss auch die von Kramer. Fest steht: Auch mit der neuen Leitlinie zum "deliberate play" gibt es Fälle, in denen eine regeltechnisch richtige oder wenigstens akzeptable Entscheidung für Unmut sorgt. Nun aber nicht mehr, weil ein hauchzartes Abfälschen des Balles eine Abseitsstellung aufheben kann, sondern weil es selbst ein deutliches Spielen des Balles bisweilen gerade nicht tut.

Quelle: ntv.de

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