"Collinas Erben" ziehen den Hut Gräfe selbstkritisch, Xhaka revanchelüstern
21.12.2015, 12:54 Uhr

Was, ich? Granit Xhaka mag's nicht glauben, dass Schiedsrichter Benjamin Brand ihn des Platzes verweist.
(Foto: imago/Norbert Schmidt)
Ein Schiedrichter zeigt sich im Fernsehinterview bemerkenswert offen. In Ingolstadt profitiert ein Leverkusener von der guten Regelauslegung des Bundesliga-Unparteiischen, während in Gladbach ein Schweizer die Rechnung ohne den Assistenten macht.
Es gab Zeiten, da haftete den Schiedsrichtern das wenig schmeichelhafte Image an, Halbgötter in Schwarz zu sein, genauer gesagt: sich auf dem Fußballplatz so aufzuführen, als wären sie welche. Und wenn man heute Spiele aus den Siebziger- und Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts Revue passieren lässt, muss man einräumen: Ganz zu Unrecht hatten sie sich diesen Leumund nicht eingehandelt. Gewiss, es gab kommunikative Exemplare wie Wolf-Dieter Ahlenfelder oder Walter Eschweiler - aber eben auch nicht wenige Unparteiische, die ihre im Regelwerk festgeschriebene Macht zuweilen mit herrischer Gestik, hochmütiger Mimik und einer Neigung zum Kasernenhofton geradezu demonstrierten. Rechtfertigen mussten sie sich für ihre Entscheidungen nicht, jedenfalls nicht öffentlich.
Interviews mit Schiedsrichtern waren damals ohnehin mehr oder minder tabu, und wenn es in den Medien einmal jemand wagte, die Zunft zu kritisieren, zog er sich den geballten Zorn der Funktionäre zu. Unparteiische waren unantastbar, über jeden Zweifel erhaben, sakrosankt. Sie waren allerdings auch die letzten Amateure im Profifußball. Als es längst Spieler gab, die Jahresgehälter im siebenstelligen Bereich bezogen, erhielten die Schiedsrichter für einen dreitägigen Bundesligaeinsatz immer noch 72 Mark Tagesspesen.
"Collinas Erben" - das ist Deutschlands erster Schiedsrichter-Podcast, gegründet und betrieben von Klaas Reese und Alex Feuerherdt. Er beschäftigt sich mit den Fußballregeln, den Entscheidungen der Unparteiischen sowie mit den Hintergründen und Untiefen der Schiedsrichterei. "Collinas Erben" schreiben jeden Montag auf ntv.de über die Schiedsrichterleistungen des Bundesligaspieltags. Unser Autor Alex Feuerherdt ist seit 1985 Schiedsrichter und leitete Spiele bis zur Oberliga. Er ist verantwortlich für die Aus- und Fortbildung in Köln, Schiedsrichterbeobachter im Bereich des DFB und arbeitet als Lektor und freier Publizist.
Nicht nur das hat sich gründlich geändert. Die Bundesliga-Referees verdienen mittlerweile gutes Geld und gehen unter professionellen Bedingungen ihrer Tätigkeit nach. Die Zeit der Diven an der Pfeife ist weitgehend vorbei, Entscheidungen setzen sie immer seltener mit theatralischer Körpersprache oder gar im Brüllton durch. Die Schiedsrichter heutzutage vermitteln, managen und kommunizieren. Gleichzeitig seziert das Fernsehen mit seinen technischen Mitteln jeden Pfiff bis ins kleinste Detail und weist den Unparteiischen manchmal Fehler nach, wo es in früheren Jahren nicht einmal den Verdacht gegeben hätte, dass einer begangen wurde. Vor den Mikrofonen sollen die Schiedsrichter sich dann erklären. In der Regel ist das keine angenehme Aufgabe.
Gräfe: "Zu viele Fehler gemacht"
Am Samstagabend nun bekam Fifa-Referee Manuel Gräfe jedoch eine der seltenen Gelegenheiten, sich ohne den unmittelbaren Anlass einer strittigen, womöglich folgenschweren Entscheidung vor der Kamera zu äußern. Auf Einladung des ZDF diskutierte der Berliner im "Aktuellen Sportstudio" mit dem kaufmännischen Geschäftsleiter des FC St. Pauli, Andreas Rettig, über das Für und Wider des Videobeweises und nahm auch zu anderen die Schiedsrichterei betreffenden Themen Stellung - offen und deutlich. "Wir können sicherlich nicht mit der Hinrunde zufrieden sein", resümierte Gräfe selbstkritisch. Es seien einfach zu viele Fehler gemacht worden.
Die Gründe dafür seien mannigfaltig. Das Spiel sei erheblich schneller geworden, und anders als früher gebe es keine mentalen Ruhephasen mehr. "Heute steht man 90 Minuten unter Dauerstrom und hat einen 160er-Puls", sagte der Sportwissenschaftler. Wenn der Ball ins Tor- oder Seitenaus fliege, werde von den Balljungen sofort ein anderer Ball in die Partie gebracht, zudem forciere das Gegenpressing das Spiel eminent. Überdies sei an einigen Stellen dringend eine Professionalisierung im Schiedsrichterwesen erforderlich, etwa in den Bereichen Trainingssteuerung und Physiotherapie. Der Mangel an Professionalität auf diesen Feldern habe es möglicherweise auch begünstigt, dass sich in der ersten Saisonhälfte so viele Unparteiische in der Bundesliga verletzten.
Gräfe forderte darüber hinaus mehr Respekt und Zurückhaltung im Umgang von Spielern und Vereinsvertretern mit den Referees, plädierte jedoch auch dafür, dass die Schiedsrichter bei Fehlern "erst einmal vor ihrer eigenen Tür kehren". Außerdem sprach er sich für eine aktivere Öffentlichkeitsarbeit aus – nicht um Fehler und Probleme "zu beschönigen, sondern um sie zu erklären". Generell wünschte er sich mehr öffentliche Unterstützung durch die Schiedsrichter-Kommission des DFB. Es sei nicht sinnvoll, wenn deren Mitglieder bei Fehlern noch Öl ins Feuer gössen, wie es beispielsweise nach dem von ihm geleiteten Spiel zwischen dem VfL Wolfsburg und Bayer 04 Leverkusen geschehen sei.
In diesem Punkt widersprach ihm Herbert Fandel, der Kommissionsvorsitzende: "Wir sind für unsere Schiedsrichter zu jeder Zeit erreichbar und helfen, wo wir nur können", sagte er im "Kicker". Eines müsse allerdings klar sein: "In der Öffentlichkeit ist es aus Gründen der Glaubwürdigkeit und der Transparenz geboten, regeltechnisch korrekt Auskunft zu geben. Ein klarer Fehler bleibt ein Fehler, und unsere Schiedsrichter müssen damit umgehen können." Gräfes Ruf nach professionelleren Strukturen teilte Fandel hingegen, der seinem Spitzenschiedsrichter auch in einem weiteren Punkt Recht gab: Es habe in der Hinrunde "schwerwiegende Fehler gegeben, die in dieser Häufung normal so nicht passieren". Durch dieses Gesamturteil würden allerdings auch "viele sehr gute Spielleitungen, insbesondere bei Spitzenspielen, zur Seite geschoben".
Chicharito profitiert von Vorteilsbestimmung
Manuel Gräfe selbst zeigte am letzten Hinrundenspieltag eine glänzende Leistung in der Partie zwischen Hannover 96 und dem Herbstmeister Bayern München, kam ohne eine einzige Gelbe Karte aus und lag auch in der spielentscheidenden Szene – dem volleyballartigen Handspiel von Christian Schulz in der 39. Minute, für das es einen Strafstoß gab, den Thomas Müller zum Tor des Tages verwandelte – absolut richtig. Sein Kollege Knut Kircher leitete das emotionsgeladene Spiel zwischen dem 1. FC Köln und Borussia Dortmund ebenfalls souverän, versäumte es allerdings, den Rheinländern einen Elfmeter zuzusprechen, als Jo-Hoo Park dem Kölner Pawel Olkowski im Strafraum klar auf den Fuß trat.
Die aus Sicht der Schiedsrichter vielleicht stärkste Szene des Spieltags hatte derweil Felix Zwayer in der Begegnung zwischen dem FC Ingolstadt und Bayer 04 Leverkusen: Als die Gäste nach 73 Minuten einen Ingolstädter Angriff abfingen und zum Konter ansetzten, wurde Stefan Kießling in der Mitte der eigenen Hälfte vom Ingolstädter Kapitän Marvin Matip von den Beinen geholt. Zwayer führte die Pfeife auch bereits zum Mund, erkannte dann aber, dass die Leverkusener trotzdem den Ball behielten und eine vorzügliche Angriffschance hatten. Also entschied er, das Spiel laufen zu lassen - was Chicharito zum entscheidenden Treffer nutzte. Matip wurde für sein Foul noch verwarnt. Ein Musterbeispiel dafür, wie man die Vorteilsbestimmung optimal anwendet.
Sehr gut auch die Kooperation des Schiedsrichtergespanns in der 37. Minute der letzten Partie des Spieltags zwischen Borussia Mönchengladbach und Darmstadt 98. Bei einem Konter der Hausherren hatte Peter Niemeyer dem Gladbacher Granit Xhaka abseits des Balles ein Bein gestellt und ihn dadurch ins Stolpern gebracht, der Schweizer revanchierte sich dafür mit einem Tritt in die Beine des Darmstädters. Referee Benjamin Brand war dem Spielverlauf gefolgt und hatte das Duell deshalb nicht sehen können, sein Assistent jedoch war mit den Augen bei den beiden Kontrahenten geblieben. Die Konsequenzen: Gelb für Niemeyer wegen einer Unsportlichkeit, Rot für Xhaka wegen einer Tätlichkeit. Und mit Sicherheit ein Lob des offiziellen Schiedsrichter-Coaches für die gelungene Zusammenarbeit im Team.
Quelle: ntv.de