Redelings Nachspielzeit

Aufstieg von "Tiger" Gerland Das Arbeiterkind, das den FC Bayern verzauberte

Hermann Gerland kommt aus Bochum und wurde beim FC Bayern zur Legende.

Hermann Gerland kommt aus Bochum und wurde beim FC Bayern zur Legende.

(Foto: imago sportfotodienst)

Hermann Gerland wird 70 Jahre alt. Der Mann, der einst in Bochum als Arbeiterkind seine Karriere als Profi startet, ist heute eine der beliebtesten Persönlichkeiten des deutschen Fußballs. Dabei sind seine Anfänge alles andere als leicht.

Hermann Gerland ist ein begnadeter Geschichtenerzähler. Eines Abends, als er wieder einmal auf einer Bühne saß und das Publikum ihm zujubelte, erzählte der Mann, den Deutschland "Tiger" und enge Bochumer Freunde "Eiche" nennen, von einem Dialog mit einem der großen Bayern-Stars früherer Tage: "Mehmet Scholl sagte, Tiger, gegen dich hätte ich gerne gespielt. Mehmet, hab’ ich gesagt, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass irgendeiner gerne gegen mich gespielt hat."

Und tatsächlich, als Spieler war Gerland mehr als unangenehm und gefürchtet. Willi "Ente" Lippens, einer dieser unvergesslichen Typen der Fußball-Bundesliga der 70er-Jahre, klagt bis heute immer wieder gerne und ausführlich sein Leid über seinen damaligen Gegenspieler Gerland: "Immer wenn ich Hermann gesehen habe, habe ich gesagt: 'Guck mal, da kommt Quasimodo!' Das war einer der wenigen, gegen den ich überhaupt nicht spielen konnte. Ich weiß nicht, woran es gelegen hat, aber der war ja so was von schnell. Wenn der seinen Buckel machte und abging wie ein Pfeil. Den habe ich an der Mittellinie umspielt, bis zum Sechszehner viermal, der war immer wieder da. Beim fünften Mal hat er mir dann den Ball abgenommen."

Gerland war damals schon ein Besessener des Fußballs - ein Mann, der sich selbst mit einer außergewöhnlichen Leidenschaft für diesen Sport nach oben kämpfte: "Wenn ich mal im Training umspielt wurde, habe ich die ganze Woche gedacht: Hermann, wie kannst du so einen Zweikampf verlieren. Das gibt es doch überhaupt gar nicht!" Der Tiger redet gerne und viel über früher. Diese erste Zeit seiner Karriere in Bochum ist fest in seinem Herzen verankert. Es waren besondere, vollkommen andere Zeiten als heute: "Wenn ein Spieler bei uns vor dem Training in die Kabine kam, dann war es selbstverständlich, dass er die anderen mit Handschlag begrüßt und nicht nur irgendwelche Worte in die Runde geschleudert hat."

"Da müssen Sie blind sein!"

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Auch nach einer Niederlage, so erinnert sich Gerland, konnten sich alle in die Augen sehen, weil jeder wusste, "der andere hat alles gegeben". Und nach jedem Sieg wurde im Bus oder in der Kabine das Bochumer Jungenlied gesungen. Hatte die Mannschaft verloren, dann spielte sich häufig folgende Szene ab: "Da kam unser Präsident Ottokar Wüst in die Kabine und hat gesagt: 'Männer, ich habe viel Gutes gesehen.' Da habe ich gesagt: 'Da müssen Sie blind sein!'"

Hermann Gerland hat immer alles gegeben, aber anfangs wusste er gar nicht so genau, wohin das alles einmal führen sollte: "Viele Menschen reden von den Träumen, die sie verwirklichen wollen. Ich nicht. Ich habe nie von einer Profikarriere geträumt. Ich bin kein Träumer, ich bin ein Arbeiter. Ich habe gearbeitet. Ich habe gehofft. Aber geträumt habe ich nie." Diese Sätze passen zum eigenen Selbstverständnis des "Hauptfeldwebel mit Herz" ("Frankfurter Allgemeine Zeitung"): "Ich bin froh, dass ich ein Arbeiterkind bin, nach wie vor. Und ich weiß, dass ich beim Kacken die Beine krumm machen muss wie jeder andere auch."

"Papa, das war scheiße, was du gemacht hast"

Und tatsächlich waren die Anfangsjahre des Hermann Gerland als kleiner Junge in Bochum-Weitmar nicht immer leicht, wie er in seinem Buch "Immer auf'm Platz" erzählt. Besonders eine Geschichte, als der kleine Hermann im Mai 1963 einen längeren Bericht in der "Sportschau" über den großen Pelé verpasst, geht zu Herzen. An diesem Tag hatte er ein Stück Apfelkuchen mit Sahne schon zur Hälfte gegessen, als ihm sein Vater mitteilte, dass dieses für seine Schwester bestimmt sei. Zur Strafe durfte Gerland Pelé am Abend nicht sehen. Ein Jahr später starb sein Vater viel zu früh, doch Hermann Gerland denkt noch immer an diesen Tag: "Wenn ich heute meinen Vater treffen würde, ich würde sagen: Papa, das war scheiße, was du gemacht hast. Wenn du mich bestraft hast, weil ich Mist gemacht hatte, kein Problem. Aber damals, bei der Sache mit dem Kuchen, da konnte ich nichts dafür."

Es ist diese unverstellte Liebe zum Fußball und wahrscheinlich auch seine Herkunft, die Hermann Gerland zu einem der beliebtesten Fußballfiguren in Deutschland haben werden lassen: "Ich bin aus Bochum. Das ist meine Stadt und da will ich wieder hin - spätestens bei meiner Beerdigung. Ich bin da geboren, und ich will da begraben werden." Seine Heimat hat Hermann Gerland geprägt: "Bochum-Weitmar in den späten Fünfziger- und Sechzigerjahren, dort begann mein Leben mit dem Fußball. Es hat mich vom staubigen Hinterhof, in dem wir den Ball auf die Teppichstange kickten, in die berühmtesten Stadien der Welt geführt. Nie hat sie mich verlassen, die Liebe zum Fußball. Vielleicht wird einem das im Pott in die Wiege gelegt. Bei mir war es jedenfalls so."

Und es war gut, dass die Liebe offensichtlich immer groß genug war, denn die ersten Jahre als Spieler beim VfL Bochum waren hart. Und eigentlich hätte der ständige Abstiegskampf das Team damals irgendwann zermürben müssen, doch das Gegenteil war der Fall. Er schweißte die Spieler zu einer Einheit zusammen: "Wir haben ein paarmal gezittert, sind aber immer dringeblieben. Weil wir eine Mannschaft hatten, die an einem Strang zog - vor allem in die gleiche Richtung!"

"Junge, ich hau’ dir mit der Krücke die Fahne runter!"

Damals ging es - ohne TV-Kameras - bei einigen Auswärtspartien anders als heute noch ordentlich zur Sache, wie sich Gerland einmal lebhaft erinnerte: "Als ich in Kaiserslautern gespielt habe, da flogen dort Fledermäuse durchs Stadion. Und dann stand da ein Linienrichter. Einer von den Lauterern war drei Meter im Abseits, da hat der gewagt, die Fahne zu heben. Aber nur ein Mal. Beim zweiten Mal stand einer sechs Meter abseits. Da hat der Opa mit der Krücke, der schon beim ersten Mal nicht einverstanden war, hinter ihm gesagt: 'Hebst du noch ein Mal die Fahne, Junge, ich hau’ dir mit der Krücke die Fahne runter!' Und das hat er nicht nur gesagt!"

Nach 14 Jahren als Spieler und Co-Trainer beim VfL Bochum wechselte Hermann Gerland 1986 auf den Posten des Cheftrainers. Als ihn daraufhin der langjährige Geschäftsführer Otto Stratemeier von einem Tag auf den anderen plötzlich mit "Herr Gerland" anredete, packte sich "Tiger" Hermann ob so viel Förmlichkeit nur an den Kopf: "Otto, sag mal, bist du bescheuert?"

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Es war der Startschuss zu seinem zweiten Leben. Dem des Fußballlehrers. Damals legte sich Gerland folgende Devise zurecht: "Als ich Trainer wurde, habe ich mir gesagt: Du darfst ein Spiel verlieren, du darfst auch fünf Spiele verlieren. Aber du darfst nie dein Gesicht verlieren." Das gelang in all den Jahren mal besser, mal schlechter, aber stets blieb sich der Tiger treu. Als Club-Trainer im Abstiegskampf sagte er: "Ich kann nicht verlieren. Niederlagen machen mich fertig. In dieser Saison haben wir oft verloren. Dann sitze ich im Bus, erste Reihe links, gleich hinter dem Fahrer, und rede kein Wort. Ich kann nicht begreifen, dass die Spieler ein paar Reihen weiter lachen und flachsen. Die Fans weinen, die Spieler lachen - das geht in meinen Kopf nicht rein. Zu Hause angekommen, starre ich gegen die weiße Wand. Meine Familie weiß, dass sie mich jetzt nicht ansprechen darf."

"Was fällt dir an Kai Pflaume auf?"

Vielleicht war diese Aversion gegen Niederlagen auch unbewusst einer der Gründe, warum Hermann Gerland fast schon zwangsläufig eines Tages beim FC Bayern München landen musste. Und beim Rekordmeister machte sich Gerland schnell als Entdecker von talentierten Nachwuchsspielern einen Namen. Sein außergewöhnliches Talent beschrieb er einmal im "11 Freunde" Magazin so: "Der liebe Gott hat mir ein Auge dafür gegeben. Ich kann übrigens auch für meine Frau einkaufen gehen und hinterher bekommt sie Komplimente: 'Was hast du ein schönes Kleid an.' Ich habe mal mit meiner Frau vorm Fernseher gesessen und sie gefragt: 'Was fällt dir an Kai Pflaume auf?' Sie hatte keine Ahnung und wahrscheinlich fällt es auch sonst niemandem auf, aber ihm fehlt eine Fingerkuppe."

Und so entdeckte und förderte Hermann Gerland in all den Jahren bei den Bayern zahlreichte Talente - doch in einen Spieler verliebte er sich regelrecht: "Oft bin ich vom Training nach Hause gekommen und habe zu meiner Frau gesagt: 'Gudrun, dem Philipp Lahm beim Training zuzusehen, ist wie Bratwurst essen. Ein richtiger Genuss.'" Immer wieder aufs Neue meinte er in diesen Tagen zu Uli Hoeneß: "Wenn der kein großer Spieler wird, werde ich Wasserball-Trainer!"

Doch die Bayern-Bosse konnte Gerland mit seiner Leidenschaft anfangs nicht anstecken. Sie wollten Lahm verkaufen - allerdings gab es ein Problem: "Den wollte keiner haben. Den habe ich angeboten wie sauer Bier". Hermann schaffte es, dass man letztendlich Lahm nach Stuttgart auslieh. Er kam zurück und wurde Weltmeister.

25 Titel mit dem FC Bayern gewonnen

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Gerland selbst betonte übrigens einmal etwas ganz Erstaunliches: "Ich bin Trainer - wenn ich je einen Cent an einem Transfer verdient habe, möchte ich auf der Stelle tot umfallen. Ich werde vom FC Bayern bezahlt, wiege zehn Kilogramm zu viel und kann auch nur ein Schnitzel am Tag essen." Es sind Sätze wie diese, die veranschaulichen, welcher Typ Mensch dieser Hermann Gerland ist und warum er sich seine Beliebtheit vollkommen ehrlich und zurecht verdient hat.

Bei den Bayern konnte Hermann Gerland dann auch endlich etwas feiern, das ihm als Bochumer stets verwehrt blieb: Titel. Und so meinte er einst: "Ich sage immer: 'Meine Frau ist Oma geworden und ich Deutscher Meister'" Hermann Gerland wird die ersten Mai-Tage des Jahres 2010 nie vergessen: "Am 8. Mai bekamen wir die Meisterschale. Am 15. Mai wurde Paul geboren, unser erstes Enkelkind. Für mich ist diese deutsche Meisterschaft der schönste von all den Erfolgen, an denen ich seitdem beim FC Bayern beteiligt war." Als Hermann Gerland, der Junge aus Bochum-Weitmar, 2021 den Rekordmeister verließ, hatte er insgesamt 25 Titel gewonnen. Doch eine Sache wird er nie vergessen. Den Morgen nach der ersten Meisterschaft, als Gerland wach wurde und alles einfach immer noch "unbegreiflich" war: "Ich habe mir auf die Birne gehauen und gesagt: 'Ist das wahr?'"

Quelle: ntv.de

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